Anlass zur Unruhe
Akko galt lange Zeit als israelisches Musterbeispiel einer gemischten Stadt. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Arabern und Juden am Jom Kippur haben gezeigt, dass das friedliche Zusammenleben eine Illusion ist. Die Gründe liegen in der demografischen Entwicklung, in der gegenwärtigen Politik – und in den Sünden der Vergangenheit von Peter Lagerquist
Am 8. Oktober 2008 stieg der 48-jährige Tawfik Jamal in sein Auto. Er wollte mit seinem 18-jährigen Sohn und dessen Freund zu Verwandten fahren, die gerade eine Wohnung in einem neuen, vorwiegend jüdischen Viertel am Ostrand von Akko bezogen hatten. Dort wollte er seine Tochter abholen, die beim Kuchenbacken half für eine in der folgenden Woche geplante Hochzeit.
Die am nördlichen Ende der Bucht von Haifa gelegene historische Festungsstadt Akko kennt man in Europa vor allem als Hauptquartier des Kreuzfahrers Richard Löwenherz. Im heutigen Israel ist Akko eine der sogenannten gemischten Städte, in der sowohl Juden als auch Araber wie Tawfik leben.
Tawfik beteuert, dass er langsam durch das Viertel fuhr und das Autoradio ausgeschaltet hatte. Es war Jom Kippur, Versöhnungstag, der höchste religiöse Feiertag im jüdischen Kalender. An diesem Tag pflegt in allen von Juden bewohnten Städten und Ortschaften Israels der Verkehr zu ruhen. Als Tawfik sein Auto beim Haus seiner Verwandten geparkt hatte, wurde er von einer Gruppe jüdischer Jugendlicher angegriffen. Er flüchtete sich ins Haus, das anschließend einige Stunden lang von einem wütenden Mob belagert wurde.
Als das Gerücht aufkam, dass einer der Hausbewohner umgebracht worden sei, rückten arabische Jugendliche aus der Kasbah, der ummauerten Altstadt, an, um ihre belagerten Landsleute „zu retten“ (wie einige von ihnen später aussagten). Als sie sich wieder in ihr Viertel zurückzogen, schlugen sie einige Schaufensterscheiben von jüdischen Geschäften ein.
Tags darauf gingen über tausend jüdische Bewohner auf die Straße. Die Unruhen hielten eine Woche an, am Ende lautete die Bilanz: Vierzehn arabische Familien aus den östlichen Vorstadtsiedlungen waren vertrieben worden, in ihre Häuser hatte man Brandbomben geschleudert; fünf Häuser waren vollständig niedergebrannt, achtzig Läden und dreißig Häuser beschädigt und mehr als hundert Autos demoliert worden. Und es hatte zahlreiche Verletzte gegeben, Araber wie Juden.
Die Ereignisse von Akko waren noch tagelang das Hauptthema in allen Medien. Journalisten und Politiker diskutierten aufgeregt darüber, was sich da ereignet hatte und: was nunmehr zu tun sei. Die beiden Fragen wurden freilich nicht immer in der angemessenen Reihenfolge erörtert. Noch merkwürdiger war der Eindruck, dass die beiden Fragen getrennt voneinander diskutiert wurden, wobei bald klar war, welche als die wichtigere galt. Diese geteilte Fragestellung bietet den Schlüssel zum Verständnis der Ereignisse vom 8. Oktober.
Man wunderte sich, wie sich das alles in einer Stadt hatte ereignen können, die bis dahin als „strahlendes Beispiel der Koexistenz“ gegolten hatte, wie es der damals noch amtierende Regierungschef Ehud Olmert ausdrückte. Bezeichnenderweise waren selbst Berichte, die diese idyllische Darstellung anzweifelten, aus einer flüchtigen Weitwinkelperspektive geschrieben. So erklärte Gideon Levy, eine liberale Stimme der Vernunft, in der Zeitung Ha’aretz, die Zusammenstöße von Akko als „Konflikt zwischen Armen und Armen, Juden und Arabern, der von Nationalisten angestoßen wurde und bei dem ein religiöser Feiertag als Katalysator wirkte“.
Auch Levy sieht Akko als eine „binationale Stadt“, in der zuvor eine gewisse Koexistenz möglich gewesen war, wo jetzt aber – nach der Tragödie des Jom Kippur – ein „Mini-Bosnien“ zu entstehen drohe. Die Wahrnehmung des Konflikts als halb Pariser Banlieue und halb Sarajevo übernahmen die progressiven israelischen Juden, die jetzt in die Stadt kamen, um die Wunden zu verbinden.
Sechs Tage nach dem 8. Oktober begann das eine Woche dauernde Laubhüttenfest (hebräisch: Sukkoth von Sukkah: Hütte). In dieser Woche bauen sich religiöse jüdische Familien hinter dem Haus oder in der Garageneinfahrt eine provisorische Hütte, wo sie zusammensitzen und gemeinsam beten. Im Geiste dieses Festes errichtete die Gruppe Ha-Shomer Ha-Tza’ir (Der junge Wächter), die sich am linken Rand der zionistischen Arbeiterbewegung bewegt, vor den Mauern der Altstadt eine „Friedenshütte“. An der Außenwand waren die traditionellen Friedenssymbole angebracht, dazu ein Aufruf zur Versöhnung in Arabisch und in Hebräisch; im Innern vergnügten sich vorwiegend arabische Kinder mit Versteckspielen.
Ein Mitarbeiter von Ha-Shomer Ha-Tza’ir namens Itai, der in einer der besseren Satellitensiedlungen vor Akko wohnt, erklärte mir, warum er sich hier engagierte: „Wir wollen zeigen, dass in Akko nicht alle so sind.“ Er beschrieb Akko als eine „harte Stadt“, mit einer „schlechten Kultur der Gewalt und der Drogen“, in die viele schon als Kinder hineingezogen würden. Welche Kinder, die arabischen oder die jüdischen? „Beide“, sagte Itai.
Die Gegendarstellung zu Itais Version der Ereignisse wurde zur selben Zeit in einem kleinen kommunalen Theater in der Altstadt von Akko gegeben. Normalerweise spielt sich auf dieser Bühne das Alternative Theaterfestival ab, das alljährlich zehntausende israelische Touristen anzieht und das für die arabischen Altstadtbewohner eine wichtige Einkommensquelle ist. Doch dieses Jahr hatte Bürgermeister Shimon Lankri, der von einer jüdischen Zweidrittelmehrheit der Stadt gewählt wurde, das Festival abgesagt.
Stattdessen gab es dort nun ein anderes Drama: Eine Gruppe örtlicher arabischer Aktivisten hatte eine „Koalition der Einwohner von Akko“ gegründet und organisierte ein Unterstützerforum für Familien, die zum Auszug aus ihren Häusern gezwungen worden waren. Vor einem kleinen Publikum von Mitbürgern und arabischen Journalisten berichtete Aziye Abu Ali unter Tränen, wie sie drei Stunden lang vom Mob belagert wurden, während ihr Mann, der gerade eine Herzoperation überstanden hatte, mit heftigen Atembeschwerden am Boden lag: „Ich rief bei der Polizeistation an und bat um Hilfe. Da fragten sie mich: Bist du Araberin oder Jüdin? Als ich es ihnen sagte, legten sie auf.“
Von ähnlichen Erlebnissen berichten auch andere Bewohner, die man aus ihren Häusern vertrieben hatte. Ein junge Frau namens Wala’a Ramal hatte die Polizei gebeten, sie sicher durch den Aufruhr auf den Straßen nach Hause zu bringen, aber die Antwort lautete: „Wir sind kein Taxiunternehmen.“ In einigen Fällen nahm die Polizei, nachdem sie verspätet eingetroffen war, einfach alle männlichen Familienmitglieder fest, und zwar wahlweise unter der Beschuldigung, sie hätten arabischen Straßenkämpfern zur Flucht verholfen oder aber sie hätten Steine auf den vor dem Haus aufmarschierten Mob zurückgeworfen.
In der Regel hat die Polizei, wenn sie endlich aufkreuzte, die Belagerten nicht etwa beschützt, sondern ging ihnen nur bei der Evakuierung ihrer Wohnungen zur Hand.1 Die offensichtliche Gleichgültigkeit der israelischen Behörden ist ein wichtiger Hinweis auf die Beantwortung der Frage, warum die Araber von Akko am 8. Oktober auf die Straße gegangen sind. Auf wen konnten sie sich noch verlassen, außer auf ihre eigenen Leute?
Die anfangs so zögerliche Haltung der Polizei von Akko ist offenbar mehr als ein Symptom für den atmosphärischen Rassismus einer lokalen Gendarmerie. Ein frühes Indiz für die Richtung, in die sich die Dinge entwickeln sollten, war die erste öffentliche Verlautbarung der Polizei zu den Ereignissen: Demnach begannen die Ausschreitungen erst, als arabische Jugendliche aus der Altstadt anrückten – von dem vorausgegangenen Versuch, eine Familie zu lynchen, war gar nicht die Rede. Und später behauptete Akkos Bürgermeister Lankri, die Krawalle seien von dem Mann „entzündet“ worden, der die Nachricht von den arabischen Verletzten als Erster über die Moscheen der Stadt verbreitet hatte. Wobei er diese Behauptung noch mit dem Hinweis würzte, der Mann sei danach „in die Territorien“, also ins Westjordanland geflüchtet. Mittlerweile hatte das ganze Land den wahren Schuldigen ausgemacht. Tawfik Jamal wurde vor einen Ausschuss der Knesset zitiert und dazu gebracht, seine Missachtung der religiösen Gefühle der Juden zu bereuen, was er ausgiebigst tat. Nach seiner Rückkehr wurde er festgenommen, wie zuvor schon sein Sohn, und unter dreifache Anklage gestellt: wegen Fahrens mit überhöhter Geschwindigkeit, Verletzung religiöser Gefühle und Gefährdung von Menschenleben – wahrscheinlich seines eigenen.
Als Nächste waren die Honoratioren der arabischen Gemeinde von Akko dran, von denen elf bereit waren, sich im Namen des Täters für die Verletzung der jüdischen religiösen Gefühle zu entschuldigen. Doch Bürgermeister Lankri und der Oberrabbiner von Akko – der sich durch die Unruhen an Nazideutschland erinnert fühlte – weigerten sich, die Entschuldigung anzunehmen.
Den Feiertag heiligen oder Auto fahren
Damit war unter Mithilfe der Medien und der staatlichen Stellen die Schuld für die Ereignisse des 8. Oktober endgültig und umstandslos bei der „arabischen Seite“ verortet. In der fast hermetisch geschlossenen Front nationaler Empörung über die Missachtung jüdischer religiöser Gefühle tat sich nur eine kleine Bresche auf. In der Zeitung Jediot Aharonot gab unter dem Titel „Eine Frage der Gleichheit“ Amir Hetsroni, ein Dozent vom Galiläa-College, zu bedenken: „Selbst in unserem so überaus klerikalen Land bedeutet das Fahren am Jom Kippur keine Gesetzesübertretung. Ich gebe zu, dass ich in den letzten Jahren mehr als einmal am Jom Kippur mit dem Auto gefahren bin, und keinesfalls, weil es sich um Notfälle handelte. Dabei bin ich an vielen Polizeistationen vorbeigekommen. Und nicht einer der Polizisten hat jemals Anstalten gemacht, mich festzunehmen. Sie respektierten vielmehr mein Recht, an einem solchen Tag Auto fahren zu dürfen, auch wenn sie selbst das vielleicht nicht tun würden.“
Diese Aussage kann ich selbst für das Jom-Kippur-Fest im jüdischen Westjerusalem bestätigen. Hier sind die Straßen zwar weitgehend leer, doch ab und zu fahren doch ein paar Autos, ohne dass die Fahrer von Fußgängern gelyncht oder von Polizisten angehalten werden. Warum also glaubt man, die israelischen Araber hätten jüdischer zu sein als israelische Juden? Um eine Antwort zu finden, müssen wir uns ansehen, wo genau die rote Linie verläuft, die Tawfik am 8. Oktober überschritten hat. Und dazu müssen wir in die Geschichte zurückgehen.
Die palästinensische Stadt Akko wurde von der Haganah (hebräisch: Verteidigung) – der Vorläuferin der israelischen Armee – am 6. Mai 1948 eingenommen. Das war genau eine Woche vor dem Abzugstermin der britischen Truppen aus Palästina und vor dem Eindringen der arabischen Anrainer in das Mandatsgebiet, um die Gründung eines jüdischen Staates in einem Land zu verhindern, dessen Bevölkerung zu 75 Prozent arabisch war. Als die Haganah in Akko einrückte, waren viele der damals 13 000 Einwohner bereits geflohen. Nach dem Ende des Krieges und der Gründung des Staates Israel blieben von ihnen noch 3 000 übrig. Häuser von Arabern, die außerhalb der alten Stadtmauern in einem Viertel lagen, das die Briten „Mandatory Acre“ (Mandats-Akko) nannten, wurden an zumeist arme jüdische Einwanderer übergeben.
Die meisten der arabischen Nachkriegsbewohner hatten einen doppelten Grund, sich in der neuen politischen Realität nicht zu Hause zu fühlen. Einige der schlimmsten Gräueltaten der Haganah und ihrer Hilfstruppen im Krieg von 1948 waren in den Dörfern im galiläischen Hinterland von Akko begangen worden. Wie wir heute aus den Arbeiten von Historikern wie Benny Morries und Ilan Pappe wissen, erfolgten diese Kriegsverbrechen – wie Massaker, Vergewaltigungen und Plünderungen – häufig im Zusammenhang mit der schriftlichen Anordnung, die arabischen Bewohner zu vertreiben. Der Codename für diese Operation der Haganah war „Ben Ami“.
Am Ende des Krieges waren 80 Prozent der arabischen Bevölkerung vertrieben worden. Die Dörfer wurden von der Landkarte getilgt, oft blieben von ihnen nur ein paar alte Gemäuer, etwa der örtlichen Moschee. Aus solchen Ortschaften stammen drei von vier Bewohnern des heutigen arabischen Akko; das Recht auf Rückkehr wurde ihnen ebenso verwehrt wie eine Entschädigung für das Land und die Besitztümer, die sie durch staatliche Enteignung verloren haben. Viele von ihnen zahlen für ihre heutigen Häuser immer noch Miete an die staatliche Wohnungsgesellschaft Amidar, der der seit 1948 enteignete arabische Besitz gehört.
Auf diese Weise also wurde aus Akko eine „gemischte Stadt“, wie die israelische Sprachregelung lautet, wobei sich die verbliebenen Araber ja nicht freiwillig für dieses schwierige Zusammenleben entschieden haben. So wie sie nicht gefragt wurden, als die Hauptstraße von „Mandatory Acre“ den Namen Ben-Ami-Straße bekam: nach dem Codewort für genau die Militäroperation, die sie zu Binnenflüchtlingen gemacht hatte.
Die arabischen Bewohner von Akko wurden zwangsweise in einem Viertel angesiedelt, das rasch zu einer Art Ghetto wurde. Hier lebte die Nachkriegsgeneration zwanzig Jahre lang unter militärischer Verwaltung, was unter anderem bedeutete, dass man Sondergenehmigungen brauchte – erst dafür, die Altstadt überhaupt verlassen zu dürfen, später, um verschiedene Orte in Galiläa zu besuchen. Erst 1957 konnten sich die Araber von Akko außerhalb ihrer Stadt frei bewegen. Und wenn sie das taten, sahen sie, dass Juden in ihren ehemaligen Häusern wohnten und ihre ehemaligen Felder bestellten, dass überall im Lande zahlreiche Moscheen, Kirchen und Friedhöfe verfielen oder verwilderten und dass einige dieser heiligen Stätten einfach unter den Pflug genommen worden waren.2
In dem nördlich von Tel Aviv am Meer gelegenen Ort Caesarea, der an eine weiträumige archäologische Stätte mit römischen Ruinen grenzt, bezeugt nur noch eine kleine Moschee inmitten der steinernen Trümmer, dass hier einmal ein Dorf stand, das Qisariya hieß. Es war der erste palästinensische Ort, dessen Bewohner 1948 vertrieben wurden – von einer Einheit unter dem Kommando von Jitzhak Rabin, dem späteren israelischen Ministerpräsidenten. Der Gebäudekomplex, zu dem die Moschee gehört, beherbergt heute zwei Bistros.
Die Betreiber beider Lokale versichern, dass sie die Moschee selbst, die einen eigenen, mit einer Eisentür verschlossenen Eingang hat, gar nicht nutzen. Früher wurde sie allerdings als Kunstgalerie genutzt, erzählt Eldad, der junge Inhaber des „Port Café“, der sonst in Tel Aviv lebt. Was ist aus den Leuten geworden, die hier gelebt haben? „Sie sind gestorben“, antwortet er lachend. Das mag erklären, warum er und auch Ela, die Geschäftsführerin des „Helena“ auf der anderen Seite des Minaretts, sich niemals Gedanken darüber gemacht haben, ob ihre beiden Lokale irgendwelche – religiösen oder schlicht menschlichen – Gefühle verletzten könnten. Nach der Moschee befragt, meint Ela nur: „Ich denke, es gibt dem Ort hier mehr Energie, mehr Atmosphäre.“ Doch als ich Eldad frage, was er angesichts der Ereignisse in Akko empfindet, das nur eine Autostunde entfernt liegt, wird er plötzlich ernst: „Wissen Sie, was der Jom Kippur für uns bedeutet? Man muss gar nicht religiös sein. Der Mann hat das nicht respektiert.“
Vor dem Hintergrund solcher Äußerungen, kann man sich die Empörung ausmalen, die die meisten arabischen Bürger Israels wegen Tawfik Jamal und seiner angeblichen Störung des Jom Kippur zu spüren bekamen. Diese Empörung entspringt nicht so sehr unterschiedlichen religiösen Sensibilitäten, sondern vor allem einer völlig anderen Wahrnehmung der Realität. Die zeigt sich etwa auch in den Drohungen anonymer rechtsradikaler Gruppen im Internet: „Wir werden keinen einzigen ihrer Feiertage und keinen einzigen ihrer (heiligen) Orte respektieren.“ Die Drohung war von der Ankündigung begleitet: „Wir werden nichts mehr von Arabern kaufen.“ Solche Sprüche erinnern die arabischen Bewohner von Akko an ihre schwache Position innerhalb der lokalen „partnerschaftlichen“ Ökonomie wie auch daran, dass die jüdischen Mitbürger diese Schwäche ebenso klar sehen. Und genau in diese Kerbe hieb Akkos Bürgermeister Shimon Lankri mit seiner Entscheidung, das Alternative Theaterfestival abzusagen.
Nach der Staatsgründung 1948 wurden die Palästinenser von Akko – wie ein Großteil der im Lande verbliebenen arabischen Bevölkerung – rasch an den Rand der israelischen Gesellschaft gedrängt. Sie hatten Grundbesitz und Eigentum verloren, waren von familiären Netzwerken abgeschnitten, ihre Kinder gingen in überfüllte und schlecht ausgestattete Schulen. In letzter Zeit haben sie sich mit wachsendem Drogenkonsum und anderen sozialen Problemen herumzuschlagen. Und ökonomisch besteht ihre Funktion hauptsächlich in der Versorgung ihrer Mitbürger sowie der Touristen, die in Akko die Altstadt und den arabischen Markt besichtigen oder auf den historischen Mauern sitzend den Sonnenuntergang genießen wollen. So sind viele Souvenirläden und Restaurants entstanden, die überaus preiswerte Fisch- und arabische Standardgerichte wie Hummus, Kebab und Falafel servieren. Für das Gaststätten- und Dienstleistungsgewerbe ist das Alternative Theaterfestival stets die beste Zeit des Jahres.
Das Festival veranschaulicht damit Jahr für Jahr auch das übliche Gefälle, das für die Beziehungen zwischen israelischen Juden und „ihren Arabern“3 typisch ist: Juden besuchen regelmäßig arabische Dörfer und Ghettos, Araber kommen jedoch nicht zu Juden. Der entscheidende Kontext für das, was in Akko am 8. Oktober geschah, ist allerdings, dass sich dieses alte Gefälle symbolisch umzukehren beginnt.
Seit 1948 sind die Araber von Akko ständig „im Aufbruch“, zumindest im demografischen Sinne. Da es im Ghetto der Altstadt immer enger wurde, war die zweite und dritte Generation der arabischen Einwohner gezwungen, nach Wohnraum außerhalb der alten Stadtmauern zu suchen. In deren Nähe hatten sich zunächst ärmere jüdische Familien niedergelassen, die aber mit der Zeit in Neubauviertel weiter im Osten oder in qualitativ bessere Siedlungen im galiläischen Umland weiterzogen. Umgekehrt gab es arabische Familien aus Dörfern in Galiläa, die 1948 überlebt hatten, aber wegen konfiszierter Grundstücke und staatlicher Planungsauflagen kein Bauland ausweisen konnten und deshalb Häuser oder Wohnungen in Akko kauften. All das trug dazu bei, dass sich die arabische Gemeinde über ihr Altstadtghetto hinaus ausgebreitet hat.
Hummus und Demografie
„Die Gegend hier war vor zehn Jahren noch komplett jüdisch“, sagt Taysir Khatib. Der lokale Aktivist und Ethnologie-Doktorand an der Universität Haifa fährt mich durch die Viertel von Mandats-Akko, die an die Altstadt grenzen. „Heute wohnen hier zu 95 Prozent Araber.“
Die Wahl von Shimon Lankri vor acht Jahren fiel mit der Ausbreitung der arabischen Wohnviertel zusammen. Viele Leute in Akko erklären die Ereignisse am Jom Kippur mit der offensiv „revanchistischen“ Politik, die das Markenzeichen des neuen Bürgermeisters und seiner Verwaltung geworden ist. Es begann mit einer symbolischen Beanspruchung von Akko als exklusiv jüdischen Raum durch die Instrumentalisierung religiöser Gefühle. Als immer mehr arabische Familien in das Mandats-Akko zogen, führte der Bürgermeister neue Regelungen ein, wonach alle Geschäfte – ungeachtet der Religion ihrer Inhaber – am Sabbat schließen mussten. Zudem ermunterte Lankri orthodoxe und ultranationalistische Juden, in die Stadt zu ziehen, und mit ihnen kamen die entsprechenden Institutionen.4
Die kollektiven Gefühle, die diese von Lankri betriebene Politik weckte und verstärkte, artikulierten sich in der Parole, die in einer von Rechten verfassten E-Mail auftauchte: „Araber von Akko, zieht ab in eure Dörfer.“ Eine solche Aufforderung an Menschen, die gerade deshalb in Akko wohnen, weil ihre eigenen Dörfer von Staats wegen zerstört wurden, ist natürlich ziemlich kafkaesk. Aber sie entspricht dem Tenor der breiten Diskussion, die in Israel über das „unvollendete Unternehmen“ von 1948 geführt wird.
Diese Debatte ist ein weiterer Grund, warum der lokale Konflikt von Akko die israelische Öffentlichkeit so intensiv beschäftigt hat. Denn die demografische Rückkehr der Araber von Akko steht für einen landesweiten Trend. 1948 lebten in Israel nur noch 150 000 Araber, gegenüber einer jüdischen Bevölkerung von etwa 650 000. In der Folgezeit sorgte die massive Einwanderung von Juden (großenteils von Sepharden aus anderen Regionen des Nahen Ostens) dafür, dass der relative Anteil der arabischen Bewohner an der Gesamtbevölkerung weiter zurückging. Doch in den letzten Jahren ist die arabische Bevölkerung auf 1, 2 Millionen angewachsen. Das entspricht einem Fünftel der Gesamtbevölkerung, wobei sie im Negev und in Galiläa inzwischen wieder die Mehrheit ausmacht.
Diese demografische Entwicklung stellt für Israels selbst definierten Status als „jüdischer und demokratischer Staat“ eine Bedrohung dar, die sich bereits in der 2002 verabschiedeten Änderung des Gesetzes über die israelische Staatsbürgerschaft niedergeschlagen hat. Seitdem ist es palästinensischen Staatsbürgern verboten, arabische Partner zu heiraten, die nicht aus Israel stammen. Obwohl diese neue Bestimmung mit Sicherheitserwägungen gerechtfertigt wurde, wird sie weithin als Instrument verstanden, um das weitere Anwachsen des arabischen Bevölkerungsteils zu beschränken.
Dieser demografische Trend ist auch einer der Gründe für die Entstehung der Kadima-Partei des noch amtierenden Regierungschefs Olmert, die offen formuliert hat, dass Israel nicht die besetzten Gebiete mit ihren Bewohnern und noch dazu seine arabische Minderheit integrieren kann. Die Partei Israel Beiteinu (Israel unsere Heimat) des russischen Einwanderers Avigdor Lieberman, der bis Januar 2008 als stellvertretender Ministerpräsident der Olmert-Regierung angehörte, zieht viel radikalere Schlüsse und fordert den „freiwilligen“ Abtransport der in Israel verbliebenen Araber, was sie euphemistisch als „Transfer“ bezeichnet.
Für die Wahrnehmung vieler jüdischer Israelis spielt auch die geografische Lage Akkos am Rande des galiläischen Berglands eine wichtige Rolle. Zusammen mit der Negev-Wüste gilt Galiläa als die israelische Region, die nach einer stärkeren „jüdischen Besiedlung“ verlangt. In diesem Sinne hatte die Regierung von Ariel Scharon 2003 bereits einen Plan für neue Siedlungen in beiden Regionen abgesegnet.5
Erst vor dem doppelten Hintergrund der lokalen Spannungen und der nationalen Ängste wird verständlich, warum die meisten jüdischen Israelis davon ausgingen, Tawfik Jamal habe am 8. Oktober die jüdischen Bürger gezielt provozieren wollen, indem er sein Autoradio aufdrehte. Und erst so wird verständlich, dass eine Minderheit von Israelis zu der Überzeugung kamen: Egal was passiert ist, es muss etwas geschehen.
Die Israelis, die politisch zur Linken oder liberalen linken Mitte zählen, verlegten sich dagegen ganz auf das Leitthema „Krieg der Armen“. In der Tageszeitung Ha’aretz wurde auf die Situation in anderen „gemischten Städten“ wie Jaffa (Yafo), Lydda (Lod) und Ramla verwiesen, wo Palästinenser häufig Haus an Haus mit marginalisierten Einwanderern aus Ägypten, Russland und Äthiopien leben. „Die Lage ist explosiv“, warnte Aviv Wasserman, der die Lod-Stiftung leitet: „Es können noch viel schlimmere Dinge passieren als in Akko. Es ist höchste Zeit zu handeln. Das gilt für die Regierung wie für gesellschaftliche Organisationen. Wir müssen endlich in die gemischten Städte investieren.“
Ratschläge wie diese verorten den Rassismus der Mehrheit nur bei der jüdischen Unterschicht – und nicht beispielsweise auch bei der Polizei. Für die arabische Gemeinde von Akko klingen sie nicht sehr vertrauenerweckend. Zum einen weil ähnliche Forderungen in der Vergangenheit nie umgesetzt wurden, und zum anderen, weil Juden und Araber unter „Entwicklung“ nicht dasselbe verstehen. Die Araber von Akko wissen genau, dass es in Israel Städte gibt, in denen weitaus größeres Elend herrscht. Deshalb äußern viele von ihnen die Befürchtung, dass ihre Stadt im Begriff ist, „wie Jaffa zu werden“.
Jaffa war einst das urbane Herz des arabischen Palästina. 1948 verlor die Stadt 90 Prozent ihrer Bewohner und wurde danach weitgehend plattsaniert. In den letzten zwanzig Jahren wurden die übrig gebliebenen arabischen Viertel, in denen seit langem Armut, Alkoholismus und Drogenhandel zu Hause waren, saniert und zu einem malerischen, touristisch attraktiven Anhängsel von Tel Aviv „entwickelt“. Seit einiger Zeit wird Jaffa von einer gewaltigen Immobiliennachfrage überrollt, hinter der israelische und amerikanische Investoren mit einem ausgeprägten Wunsch nach romantischen Sonnenuntergängen und orientalischem Flair ohne Orientalen stecken. Im Zuge dieser Entwicklung stehen derzeit 4 000 Bewohner, die 1948 aus ihren eigenen Häusern vertrieben wurden und seitdem in gemieteten Wohnungen der staatlichen Amidar leben, vor ihrer zweiten Vertreibung. Für die arabische Bevölkerung ist das Wort Entwicklung nur eine andere Bezeichnung für Abwicklung – von arabischem Land- und Hausbesitz.
In den Antworten auf die Frage, was nach den Ausschreitungen von Akko zu tun sei, spiegeln sich die Ängste der jüdischen Israelis vor dem Anwachsen der arabischen Minderheit. Bei den Linken werden diese Ängste umgelenkt und kanalisiert als Besorgnis über gesellschaftliche Randgruppen, zu denen auch marginalisierte Juden gehören. Ihre Politik beschränkt sich auf die Forderung nach progressiven Sozialprogrammen, die nicht nur die ideologischen Tabuschranken des Staates unangetastet lassen, sondern nur noch mehr verschleiern helfen, wozu diese dienen.
Bei den Rechten wurden die Ereignisse von Jom Kippur dagegen nur als weiterer Beweis für die unversöhnliche Feindseligkeit der arabischen Minderheit verbucht. Und als Beweis für die Notwendigkeit, mit dieser Bevölkerungsgruppe auf eine Weise zu verfahren, die nur dunkel angedeutet, aber von den meisten Israelis verstanden wird.
Beide Diskurse innerhalb der jüdischen Mehrheitsgesellschaft stellen sich nicht die Frage, was in Akko tatsächlich geschehen ist und was in ganz Israel täglich geschieht.6 Die Araber von Akko haben keinen Anteil an diesen Debatten, und doch sehen sie die Zeichen an der Wand um so klarer.
Selbst für die palästinensischen Bürger, die versuchen, sich innerhalb der gegebenen Machtstrukturen von Akko zu betätigen, sind die am Jom Kippur entfachten Emotionen unmöglich im Zaum zu halten. „Sie sind zwei Drittel der Bevölkerung, was wollen sie noch mehr?“, fragt Ahmed Owdeh, ein Kommunalpolitiker, der für die bevorstehenden Stadtratswahlen kandidiert. Er hat seit dem 8. Oktober viele palästinensische Honoratioren aus ganz Galiläa empfangen, die ihre Solidarität mit den Arabern von Akko ausdrücken wollten. Owdeh hat sich von Anfang an geweigert, in die Selbstverurteilung seiner Landsleute einzustimmen. Stattdessen forderte er die Regierung, die Stadtverwaltung, die Polizei und die jüdischen religiösen Instanzen auf, „sich bei den arabischen Familien zu entschuldigen“.7 Und er forderte eine Kommission, die das Geschehen vom Jom Kippur untersuchen sollte.
Im Übrigen sieht er den 8. Oktober auch als Chance: „Was da geschehen ist, dürfte gut sein für die Araber. Wir lernen, uns auf uns selbst zu verlassen, statt von den Juden abhängig zu sein.“ Und in aller Kürze sagt Amahl Sha’aban, deren Haus als Erstes belagert wurde: „Von heute an bin ich keine Israelin, sondern eine Palästinenserin.“ Was für eine Reaktion auf die Ereignisse vom 8. Oktober und deren Folgen denn sonst möglich wäre, ist völlig unklar. Soll sie immer noch dem Staat vertrauen? Oder sich an die Medien wenden? Die Polizei rufen?
Der schwedische Journalist Peter Lagerquist lebt in Ramallah.
© Le Monde diplomatique, Berlin