12.12.2008

Diplomatisches Europa

zurück

Diplomatisches Europa

Die Georgienkrise macht die Stärken und Schwächen der EU sichtbar von Federico Santopinto

Im August 2008 gelang es Frankreich, das kurz zuvor die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hatte, im Konflikt zwischen Russland und Georgien zu vermitteln und ein Ende der Kampfhandlungen zu erwirken. Viele Beobachter hielten das am 15. und 16. August unterzeichnete Waffenstillstandsabkommen für einen beispiellosen Erfolg der EU-Diplomatie. Schnell wurde jedoch auch die Frage laut, wer hier eigentlich interveniert hatte – Frankreich oder die Europäische Union?

Es sind oft Details, die zum besseren Verständnis beitragen: Weder der Präsident der EU-Kommission, José Manuel Barroso, noch Javier Solana, der Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, waren dabei, als Frankreichs Präsident und sein Außenminister Bernard Kouchner am 12. August zunächst nach Moskau und dann nach Tiflis reisten und den sogenannten Sechspunkteplan aushandelten, der von einigen EU-Partnern bald heftig kritisiert wurde. Erst bei der zweiten Mission am 8. September traten Sarkozy und Kouchner in Begleitung von Solana und Barroso auf. Aber da waren die Würfel längst gefallen – ohne Zutun der Union.

Und wenn der Krieg zwischen Russland und Georgien ein paar Monate früher oder später ausgebrochen wäre? Vor Frankreich hatte Slowenien die Ratspräsidentschaft inne, und am 1. Januar 2009 wird Tschechien antreten, ein Land, das viel weniger diplomatischen Einfluss hat als Frankreich und dessen Beziehungen zu Russland angespannt sind. Die europäische Reaktion auf den Kaukasuskrieg wäre unter slowenischer wie tschechischer Führung sicher anders ausgefallen. Spielt also der Zufall eine entscheidende Rolle in der Außenpolitik der Europäischen Union?

Der Konflikt in Georgien hat wieder einmal deutlich gemacht, wie schwer sich die Union mit einem eigenen außenpolitischen Kurs tut. Konfusion und unklare Haltungen bestimmten den Georgien-Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs am 1. September. Einerseits ging man mit Moskau hart ins Gericht und verurteilte mit seltener Entschlossenheit das „unangemessene Vorgehen“ Russlands. Auf die Verantwortung Georgiens wurde nur vage eingegangen, während die Anerkennung der Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens durch Russland als „inakzeptabel“ bezeichnet wurde. Man beschloss, EU-Beobachter in die Region zu entsenden, und sagte Georgien eine für die Größe des Landes und die entstandenen Kriegsschäden enorme Wiederaufbauhilfe von 880 Millionen Euro zu. Außerdem sollten die Visumbestimmungen gelockert werden, und natürlich wurde wieder einmal ein Freihandelsabkommen in Aussicht gestellt.

Auf der anderen Seite schlug die Union zugleich versöhnliche Töne in Richtung Moskau an: Angesichts der „wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen der Europäischen Union und Russland“ gebe es „keine wünschenswerte Alternative zu einer engen Beziehung, die sich auf Zusammenarbeit, Vertrauen und Dialog gründet“. Von Sanktionen war folglich nicht die Rede, und auch die im Juli begonnenen Verhandlungen über ein Partnerschaftsabkommen wurden nicht abgebrochen, sondern nur für einige Monate ausgesetzt. Die Antwort aus Moskau bestand in der Fortführung des russischen Beitrags zur EU-Militärmission im Tschad und der Zentralafrikanischen Republik (Eufor Tschad/RCA) – mit dem Angebot, fast ein Drittel der benötigten Hubschrauber zu stellen.

Wie haltet ihr es mit Washington?

Ein tiefes Zerwürfnis wie über den drohenden Irakkrieg beim EU-Sondergipfel in Brüssel am 17. Februar 2003 wurde vermieden. Aber die Union bot in der Georgienkrise ein Bild der Uneinigkeit, das mit seinen komplizierten Kompromissformeln die unterschiedlichen Interessen widerspiegelte.

An den innereuropäischen Interessengegensätzen hat sich seit der Irakkrise nicht viel geändert. Immerhin haben die Mitgliedstaaten inzwischen gelernt, mit diesen Widersprüchen zu leben, sie kaschieren sie besser und sind kompromissfähiger geworden. Aber zwei Faktoren sind heute noch genauso wichtig wie 2003. Zum einen die politische Achse zwischen Großbritannien und den osteuropäischen EU-Ländern: Einige dieser Staaten machen sich für die politischen Ziele der USA stark und bremsen dadurch die Vertiefung der EU. Die EU-Gründerstaaten und die Länder der Iberischen Halbinsel hingegen schließen sich den Vorstellungen Washingtons deutlich weniger bereitwillig an und wollen die europäische Einheit gerade im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorantreiben.

Natürlich ist die Haltung der Mitgliedsländer auch davon abhängig, welche Parteien dort gerade an der Regierung sind. Unter rechten beziehungsweise Mitte-rechts-Koalitionen übernehmen Italien, Frankreich oder Spanien (bis März 2004) tendenziell die Positionen der USA, während sich die Niederlande inzwischen deutlich auf die Seite Großbritanniens geschlagen haben.1 Abgesehen von solchen Feinheiten scheint sich aber die alte Lagerbildung zu verfestigen: Sie trat zu Beginn des Irakkriegs 2003 erstmals offen zutage und hat sich, wenn auch etwas weniger deutlich, in der Georgienkrise wieder gezeigt, als Frankreich, Deutschland und Italien den antirussischen Aktivismus ihrer Partner in Großbritannien und Osteuropa dämpften.

Diese grundsätzliche Uneinigkeit erklärt sich sowohl aus dem mangelnden politischen Willen zur Integration als auch aus strategischen Versäumnissen in der Vergangenheit. Wie soll die Union zu einer wirksamen gemeinsamen Außenpolitik im Kaukasus finden, solange sie keine gemeinsame Energiepolitik entwickelt hat? British Petroleum betreibt zusammen mit dem US-Konzern Chevron die Baku-Tiflis-Ceyhan-Ölpipeline, die an Russland vorbei durch Georgien führt, während Deutschland eine Gaspipeline plant, die auf dem Grund der Ostsee unter Umgehung der baltischen Länder und Polens direkt nach Russland führen soll. Kein Wunder also, dass die Reaktionen auf die Georgienkrise in London und in Berlin unterschiedlich ausgefallen sind. Das Problem ist älter, es hat seinen Ursprung darin, dass der Union der Mut zu einer eigenen Energiepolitik und der Einigung auf grundlegende gemeinsame Interessen fehlte. Nicht zuletzt deshalb steht die europäische Außenpolitik heute so schwach und unkoordiniert da (siehe den Artikel von Mathias Reymond auf S. 12/13).

Konkrete Schritte etwa in der Energiepolitik wären weit besser als die Reform der Institutionen geeignet, der Europäischen Union zu einer wirksamen und abgestimmten Außenpolitik zu verhelfen. Aber bis heute fehlen Brüssel in zu vielen Bereichen die Durchgriffsmöglichkeiten. So haben die 27 Mitgliedstaaten zwar einen Verhaltenskodex zur Eindämmung des Waffenhandels beschlossen, es bleibt jedoch den einzelnen Ländern überlassen, solche Geschäfte trotzdem zu erlauben. Dass eine solche Vereinbarung keine bindende Wirkung hat, passt nicht zum erklärten Anspruch der EU, ihre eindrucksvolle Bilanz der Entwicklungszusammenarbeit auch für eine entschlossene internationale Konfliktvermeidung und Krisenbewältigung zu nutzen.

Die Kraft der Kompromisse

Die EU-Kommission hatte Georgien schon lange vor dem Krieg im August 2008 mehr als 120 Millionen Euro für ein Entwicklungsprogramm im Zeitraum von 2007 bis 2010 bewilligt. Davon waren 31,5 Millionen Euro für die Aufrechterhaltung von Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten vorgesehen und allein 19 Millionen für die friedliche Regelung der inneren Konflikte. Unter anderem sollte damit der florierende Handel mit leichten Waffen in der Region eingedämmt werden.

Allerdings war nicht zu übersehen, dass diese Waffen nicht nur aus der Ukraine, sondern auch aus EU-Ländern, allen voran Tschechien und Bulgarien, nach Georgien gelangten. Die Vervierfachung des georgischen Militärhaushalts innerhalb von fünf Jahren lässt sich kaum damit erklären, dass das Land vor dem angestrebten Nato-Beitritt sein Rüstungspotenzial noch einmal modernisieren wollte. Gekauft wurde vor allem veraltetes Kriegsgerät aus sowjetischer Produktion, Panzer und Suchoi-Kampfflugzeuge, panzerbrechende Waffen und Boden-Luft-Raketen sowie zehntausende leichter Feuerwaffen – es ging einfach darum, für einen aktuellen Konflikt wie den in Ossetien gerüstet zu sein.2

Während die Europäische Kommission in Georgien Millionen für die Friedenssicherung und die Bekämpfung des Waffenhandels ausgibt, überschwemmen EU-Mitgliedsländer die Kaukasusrepublik mit Rüstungsgütern. Welche Rolle spielt die Union also? Sorgt sie für Stabilität durch Entwicklungshilfe oder für Instabilität durch Waffenhandel?

Für derartige Probleme hält der Vertrag von Lissabon, wenn er denn eines Tages ratifiziert ist,3 auch keine Lösung bereit. Er reformiert die europäischen Institutionen, aber neue außenpolitische Kompetenzen sieht er nicht vor. Zu einer klareren Haltung der europäischen Gemeinschaft in den großen internationalen Fragen wird der Lissabonner Reformvertrag ebenfalls wenig beitragen. Dass das Amt eines gewählten Ratspräsidenten mit zweieinhalbjähriger Amtszeit (und der Möglichkeit einmaliger Wiederwahl) vorgesehen ist und ein neuer außenpolitischer Hoher Vertreter sowie ein europäischer Auswärtiger Dienst antreten sollen, mag die Zusammenarbeit innerhalb der Union verbessern. Doch sowohl der Präsident als auch der Hohe Vertreter sind „Botschafter“ der EU und erfüllen repräsentative Ämter, die Richtlinien der Politik bestimmen andere.

Vor allem wird der Lissabon-Vertrag das Konsensprinzip nicht aufheben, auf das sich die zwischen den Regierungen getroffenen Entscheidungen in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik gründen. Die Positionen in der EU dürften auch in Zukunft meist widersprüchlich und unklar sein, weil sie die komplizierten Übereinkünfte zum Interessenausgleich zwischen den Mitgliedstaaten zu berücksichtigen haben.

Andererseits könnte sich ein auf zweieinhalb Jahre gewählter Ratspräsident wohl kaum ein derart forsches Vorgehen erlauben wie Nicolas Sarkozy: Der französische Präsident hatte sein Eingreifen in Georgien im August mit der Notsituation gerechtfertigt – ein ausdrückliches Mandat der Union hatte er nicht. Die im Reformvertrag vorgesehene längere Amtsperiode würde so viel Handlungsspielraum nicht zulassen: Der Präsident müsste zunächst die Zustimmung der wichtigsten Mitgliedstaaten einholen.

Manche sehen darin einen Vorteil, weil die EU sich überhaupt erst einmischen würde, wenn ein Konsens gefunden ist, und weil dann kein einzelnes Mitglied mehr allein vorpreschen könnte. Andere hingegen befürchten, dass die diplomatischen Möglichkeiten mancher Länder eingeschränkt würden, im Namen der Union schnell zu reagieren.

Eigentlich müssten sich gerade Länder wie Polen oder Großbritannien, die sich dem vereinten Europa traditionell entgegengestellt und die Aushandlung und Ratifizierung des Lissabon-Vertrags verzögert haben, unter den Befürwortern der neuen Regelungen finden: Ein mindestens zweieinhalb Jahre amtierender Ratspräsident hätte ihnen bereits zu Beginn der Krise Gehör schenken müssen.

Fußnoten: 1 Dass sich ein geeintes Europa weniger gefügig gegenüber den USA zeigen würde, ist keineswegs sicher. 2 Siehe Luc Mampaey, „Les Pyromanes du Caucase: les complicités du réarmement de la Géorgie“, Les Notes d’analyse du Grip, www.grip.org/bdg/ pdf/g0908.pdf; siehe auch Luc Mampaey, „Waffen zu Rendite mit Hilfe der EU“, Le Monde diplomatique, Oktober 2006. 3 Irland hat den Reformvertrag am 12. Juni per Volksabstimmung abgelehnt. In fast allen übrigen Mitgliedstaaten wurde er im Parlament ratifiziert – nur Tschechien muss seine Abgeordneten noch abstimmen lassen.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt Federico Santopinto ist Mitarbeiter des Grip (Groupe de recherche et d’information sur la paix et la sécurité) in Brüssel.

Le Monde diplomatique vom 12.12.2008, von Federico Santopinto