Wie de Gaulle lernte, Adenauer zu lieben
WIE kommt es, dass der deutsche Bundeskanzler Schröder, ein Sozialdemokrat, und der französische Staatspräsident Chirac, ein Konservativer, eine so ähnliche Außenpolitik betreiben? Sie beweist, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit, die General de Gaulle seit 1958 verfolgte, auf einer zutreffenden Einschätzung basierte – Geopolitik und Geostrategie sorgen für stabile Verhältnisse, wenn ein in Europa dominantes Frankreich ein starkes Deutschland gegen die angelsächsischen Länder braucht und Deutschland zugleich in die Europäische Union eingebunden ist. François Mitterrands Fehler aus der Zeit der Wiedervereinigung sind inzwischen korrigiert.
Von PIERRE BÉHAR *
Eine „unsichere Allianz“ – so betitelte der Historiker George-Henri Soutou, Professor an der Sorbonne und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Alliiertenmuseums in Berlin, sein Buch über die deutsch-französischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.1 Die Substanz dieser Allianz ist tatsächlich nicht immer einfach zu erkennen. So gab es immer wieder Situationen, in denen die Regierungen beider Länder kurz vor einem Bruch standen – um sich, genauso häufig, dann doch wieder zusammenzuschließen.
Die Geschichte der deutsch-französischen Nachkriegsbeziehungen lässt sich in zwei Abschnitte unterteilen: in die Zeit vor und in die Zeit nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Als General de Gaulle 1958 – nach zwölf Jahren machtpolitischer Abstinenz – die Regierungsgeschäfte übernahm, suchte er zunächst nicht die Verständigung mit Deutschland, sondern wandte sich den angelsächsischen Ländern zu. Mit Frankreich als gleichberechtigtem Partner sollte nach seiner Auffassung die „freie Welt“ durch ein Direktorium aus drei Staaten angeführt werden: den Vereinigten Staaten, Großbritannien und eben Frankreich. In diesem Sinne forderte das französische Memorandum vom 17. September 1958, die Nato zu reformieren: Frankreich wollte das Recht erhalten, vor dem Einsatz von Atomwaffen konsultiert zu werden. Und die Franzosen wollten mit dem Know-how der USA über den Bau von Mittelstreckenraketen und die Herstellung der Atombombe vertraut gemacht werden. Der Entschluss, eine französische Atombombe bauen zu lassen, war schon 1954 vom damaligen Ministerpräsidenten Pierre Mendès-France gefasst worden – als Reaktion auf die Beendigung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland durch die Pariser Verträge im gleichen Jahr.2 Die französischen Forderungen vor allem an die USA wurden jedoch nach und nach und endgültig dann 1960 zurückgewiesen.
Die dreifache Ablehnung führte dazu, dass de Gaulle seine politische Strategie radikal änderte. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht, aber er sah ein, dass Deutschland für Frankreich der letzte mögliche Partner war, um den Status quo zu verändern. Als Militär bewunderte er Deutschland, als Staatsmann misstraute er dem Land. Noch 1945 hatte er sich bei den Alliierten vergeblich um eine dauerhafte Zerlegung des übermächtigen Nachbarn in selbstständige Länder bemüht, deren Grenzen und Größen sich an den alten historischen Territorien orientierten. Da Deutschland nach der Konferenz von Jalta als Staat erhalten blieb, war de Gaulle klar, dass die geografische Lage dem ehemaligen Kriegsgegner ein gemeinsames Schicksal mit Frankreich auferlegte, vor allem falls es zu einer Invasion aus dem Osten kommen sollte. Und schon vor der Kapitulation des Deutschen Reiches hatte er erkannt, welche Bedeutung eine französisch-deutsche Partnerschaft im Verhältnis zu den mächtigen angelsächsischen Staaten haben konnte.3
Als de Gaulle seinen Entschluss fasste, war ihm klar, dass die psychologischen Voraussetzungen für eine Versöhnung beider Länder gegeben waren. Während Preußen Frankreich 1870 überrannt und Frankreich Deutschland 1918 mit Hilfe der Alliierten in die Knie gezwungen hatte, waren 1945 beide Länder gleichermaßen erschöpft aus dem Konflikt hervorgegangen. Deutschland lag in Trümmern, hatte einen großen Teil seines Staatsgebiets verloren, und der verbliebene Rest war in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden. Frankreich war zwar territorial unversehrt, hatte aber die größte militärische Katastrophe seiner Geschichte und vier Jahre einer erniedrigenden Besatzung hinter sich – vier Jahre, in denen zum ersten Mal seit dem 15. Jahrhundert der Staat zu existieren aufgehört hatte. Außerdem war dem ehemaligen Chef des Freien Frankreich bewusst, dass nur er über die nötige moralische Autorität verfügte, um eine solche Versöhnung anzugehen.
Bei ihrer Annäherung verfolgten die beiden Länder unterschiedliche Ziele. So erklärt sich auch die Zweideutigkeit der Allianz, die der Elysee-Vertrag über die deutsch-französische Aussöhnung im Jahr 1963 besiegelte. Frankreich betrachtete die Achse Paris–Bonn als Antriebsmittel für das damalige EWG-Europa der Sechs, das sich zwischen der Sowjetunion und der angelsächsischen Welt angesiedelt fand. Paris hoffte sich dadurch jene zusätzliche Macht zu verschaffen, die dem Land trotz der selbst entwickelten Kernwaffen fehlte, um von einer echten Gleichberechtigung gegenüber den „Supermächten“ sprechen zu können.4
Deutschland verband mit dieser Allianz ganz andere Erwartungen. Die Kernfrage hier war die Wiederherstellung der territorialen Einheit zumindest des verbliebenen Rests. Ein Teil davon war von sowjetischen Truppen besetzt. Dank des diplomatischen und strategischen Rückhalts durch Frankreich war Deutschland leichter in der Lage, dem intensiven Drängen der Sowjetunion auf Blockfreiheit die Stirn zu bieten. Außerdem unterstützte Frankreich seinen deutschen Nachbarn in dem Wunsch nach Wiedervereinigung, die de Gaulle nun für unvermeidlich hielt.5
Unsicher blieb die Allianz, weil sie an ihre Grenzen stieß. Deutschland betrachtete seine Beziehungen zu Frankreich als einen speziellen Baustein innerhalb der atlantischen Solidarität, als eine Stärkung der mit dem Nordatlantikpakt von 1949 geschaffenen und in der Nato verwirklichten Allianz. Und als der Deutsche Bundestag dem Elysee-Vertrag vor der Verabschiedung 1963 eine Präambel hinzufügte, in der klargestellt wurde, dass der Vertrag die Zusammenarbeit in der Nato oder die Partnerschaft mit den USA nicht beeinträchtige, war De Gaulle tief enttäuscht.
Aber auch die französische Seite zog ihre Grenzen. Wenn Frankreich Deutschland für eine Allianz gewinnen wollte, die Deutschland den Austritt aus der Nato ermöglicht hätte, wäre Frankreich in der Pflicht gewesen, seine Atomwaffen angesichts der atomaren Bedrohung durch die Sowjetunion mit Deutschland zu teilen. Doch gleich nach seiner Rückkehr an die Macht hatte de Gaulle die geheime Absprache kritisiert, die 1957 zwischen dem damaligen Verteidigungsminister Jacques Chaban-Delmas und seinem deutschen Amtskollegen Franz Josef Strauß getroffen worden war und die den Aufbau einer gemeinsamen nuklearen Streitmacht vorsah. Für den Fall einer deutschen Atombombe rechnete de Gaulle mit einer sofortigen sowjetischen Reaktion: „Das ist der letzte Casus Belli in der Welt, oder zumindest einer der letzten. Schon allein deshalb käme es zum Krieg.“6
Eine französisch-deutsche Atombombe hätte außerdem das Ende der französischen Vorherrschaft auf dem Kontinent bedeutet. Mit seiner Ablehnung verzichtete de Gaulle zugleich auf das einzige Mittel, mit dem er die Bundesrepublik endgültig an Frankreich hätte binden können, um die angelsächsischen Länder zu einer Revision der Nato zu zwingen oder den Deutschen einen Austritt aus der Nato zu ermöglichen – die Hintergedanken der Diplomatie gerieten in Widerspruch zu der von ihnen inspirierten Strategie, begannen ihr gar zuwiderzulaufen.
Die Allianz stieß nicht nur an prinzipielle Grenzen, sondern hatte auch ein Zeitproblem. Die Ziele beider Seiten – Unabhängigkeit Europas von den USA und Wiedervereinigung Deutschlands – standen zwar nicht von vornherein im Widerspruch zueinander. Doch wenn sich der Erfolg nicht zeitgleich einstellte, bestand die große Gefahr, dass der Partner, der zuerst die Erfüllung seiner Wünsche erreichte, den anderen im Stich ließ. Als Anführer eines unabhängigen Europa hätte Frankreich den deutschen Wunsch nach Wiedervereinigung gewiss mit geringerem Nachdruck unterstützt. Wenn Deutschland wiedervereinigt worden wäre, bevor Europa seine Unabhängigkeit erlangte, hätte die Regierung in Bonn wohl gezögert, sich von den angelsächsischen Mächten zu trennen. Selbst wenn man beide Ziele gleichzeitig erreichen sollte, sprach doch nichts dafür, dass Deutschland bereit sein würde, auf Dauer im diplomatischen Schatten Frankreichs stehen zu bleiben.
Wie gewöhnlich kam dann alles anders als gedacht. François Mitterrand hatte damit gerechnet, dass sich die Wiedervereinigung Deutschlands in den so genannten Zwei-plus-vier-Verhandlungen über Jahre hinziehen würde.7 Als dann aber alles ganz schnell zu gehen schien, unternahm er mehrere vergebliche Vorstöße, um den Prozess noch abzubremsen, darunter eine Reise nach Ostberlin zur bereits dem Untergang geweihten DDR-Regierung.
Die Logik der bis dahin verfolgten Politik verlangte, dass Frankreich Deutschland in dieser entscheidenden Stunde unterstützte und nach der Auflösung des Warschauer Paktes aus der Nato austrat, da dieses Bündnis seine Daseinsberechtigung verloren hatte. Das wäre gefahrlos möglich gewesen und hätte möglicherweise als Signal für eine allgemeine Bewegung gedient. Paradoxerweise verkehrte die französische Diplomatie aber in panischer Angst vor der Aussicht auf einen Nachbarn mit 80 Millionen Einwohnern die bis dahin verfolgte Politik in ihr Gegenteil. Diese Winkelzüge zerstörten das kleine Vertrauenskapital, das Frankreich durch seine Politik in der deutschen Öffentlichkeit erworben hatte. Der gesamte Vorteil fiel an die Vereinigten Staaten, die einzige unter den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, die nun die deutsche Wiedervereinigung unterstützte.
Frankreich beging noch einen zweiten Fehler. Entgegen allen seit drei Jahrzehnten proklamierten Absichten machte Paris keinen Hehl aus dem Vorhaben, Deutschland ökonomisch durch die Einführung des Euro, politisch und strategisch durch die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik (Gasp) „einzubinden“. Angesichts der atlantischen Ausrichtung nahezu der gesamten damaligen Zwölfergemeinschaft konnte diese gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die als „zweiter Pfeiler“ des Maastricht-Vertrags von 1992 gedacht war, nur im Rahmen der Nato erfolgen. Statt Deutschland aus der Nato herauszulösen, konnte diese Politik letztlich nur zu einer vollständigen Reintegration Frankreichs führen. Schritt für Schritt verspielte Frankreich die Vorteile seiner langfristig angelegten Entspannungspolitik gegenüber dem Osten, stärkte die Nato als Instrument der amerikanischen Hegemonie und trug so dazu bei, dass sich diese später auf ganz Europa ausweiten konnte.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Deutschland die Ziele erreicht, die einst in seinen Augen den Elysee-Vertrag gerechtfertigt hatten. Frankreichs Traum von nationaler und europäischer Unabhängigkeit, der dreißig Jahre zuvor zur Annäherung an Deutschland geführt hatte, war dagegen gescheitert. Die Angst vor Deutschland war am Ende stärker gewesen, weshalb es Frankreich vorzog, hinter den Amerikanern ins zweite Glied zu treten, wie sich auch an der Beteiligung am Zweiten Golfkrieg zeigte. Mitte der 1990er-Jahre sah es so aus, als hätte die deutsch-französische Zweisamkeit ihre Daseinsberechtigung verloren.
Als Bundeskanzler Schröder bei seinem Amtsantritt im Jahr 1998 erklärte, Deutschland sei nun ein „normales“ Land, signalisierte er damit das Ende jeder bevorzugten Beziehung, insbesondere zu Frankreich. Weil für ihn nur die angelsächsische Welt relevant war, suchte er die Nähe zu London. Zur selben Zeit wurde Frankreich von einem Präsidenten – Jacques Chirac – und von Premierministern regiert, die sich durch nichts zu Deutschland hingezogen fühlten. Und doch nahmen beide Seiten den abgebrochenen Dialog wieder auf.
Denn einerseits stieß die deutsche Diplomatie bei ihren Bemühungen um eine Annäherung an London schon bald an ihre Grenzen. Andererseits mussten Deutschland und Frankreich erfahren, dass sie nur gemeinsam die ständig wachsende Europäische Union beeinflussen können. Spanien unter der Regierung Aznar und Polen unter Leszek Miller widersetzten sich einer Organisation Europas, die in ihren Augen Frankreich und Deutschland begünstigt. Erst die spanischen Wahlen vom 14. März 2004 und der Frühjahrsgipfel in Brüssel brachten eine Wende in der strittigen Frage über das Abstimmungsverfahren im Rat. Jedenfalls sind hier beide Länder von der Position abgerückt, weiterhin an dem im Nizza-Vertrag vom Jahr 2000 beschlossenen Entscheidungsverfahren festzuhalten. Und die ersten Äußerungen des spanischen Wahlsiegers Zapatero – Rückzug Spaniens aus dem Irak und ein europafreundlicherer Kurs – zeigen eine deutliche Annäherung an Paris und Berlin, die sich also in ihrem Bündnis wesentlich bestätigt sehen.
Weder Großbritannien – das sich an der europäischen Einigung nur beteiligt, um sicherzustellen, dass der Einigungsprozess nicht auf seine Kosten erfolgt und sich letztlich auf eine Freihandelszone beschränkt – noch das instabile Italien noch auch Spanien, dem es bislang am nötigen wirtschaftlichen und strategischen Gewicht fehlt, könnten Frankreich oder Deutschland als Partner für eine ähnliche Allianz dienen. Außerdem bilden beide Länder einen zusammenhängenden Raum mit mehr als 140 Millionen Einwohnern. Und schließlich wird Deutschland, anders als Bundeskanzler Schröder meint, erst dann ein „normales“ Land sein, wenn sich die Frage der Normalität für die Deutschen selbst und für andere gar nicht mehr stellt, wie Außenminister Joschka Fischer bemerkt hat. Und da das noch nicht der Fall ist, dürfte die moralische Unterstützung Deutschlands durch Frankreich für den Augenblick und wohl noch für lange Zeit keineswegs überflüssig sein.
Unter diesen Umständen hat die demonstrative Verachtung des US-Präsidenten für das Völkerrecht und für ein Europa, das allenfalls Hilfsdienste leistet, den Verantwortlichen in Paris und Berlin die Notwendigkeit vor Augen geführt, zusammenzuhalten, um nicht in Konflikte hineingezogen zu werden, die nicht ihre eigenen sind. Einige unvorhersehbare Umstände – pazifistische Wahlversprechen und die Tatsache, dass Deutschland während der Krise einen der nichtständigen Sitze im Weltsicherheitsrat hatte – begünstigten diese Erkenntnis der gemeinsamen Interessen. Die Vereinigten Staaten mussten erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland nach der Wiedervereinigung und dem Verschwinden der sowjetischen Bedrohung nicht mehr auf den nuklearen Schutz angewiesen ist und eine unabhängigere Politik gegenüber den USA betreiben kann, die langfristigen europäischen Interessen entspricht.
Falls die christdemokratische Opposition in Deutschland wieder an die Regierung kommt, wird sie zweifellos zu einer unterwürfigeren Politik gegenüber Washington zurückkehren. Aber man darf bezweifeln, dass diese Kehrtwende von Dauer sein wird. Auch in diesem Fall würden Geopolitik und -strategie Deutschland nach Europa und dort an die Seite Frankreichs zurückkehren lassen, um jene Vernunftehe wiederzubeleben, die unter Staaten als einzige Bestand hat.
deutsch von Michael Bischoff
* Professor an der Universität des Saarlandes, am Institut d‘études européennes der Université de Paris VIII und an der Diplomatischen Akademie in Wien.