08.04.2004

Die liebe Not mit den Kleinen

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Die liebe Not mit den Kleinen

IMMER wieder ist innerhalb der Europäischen Union vom Gegensatz zwischen großen und kleinen Ländern die Rede. Ab der Erweiterung im Mai steht es 19:6 für die Kleinen. Aber eine genauere Analyse zeigt, dass die kleinen Länder kaum eine koordinierte Politik betreiben, ganz unterschiedliche Interessen verfolgen und immer wieder mit den Großen paktieren. Die Gemeinsamkeiten unter den Kleinen mit ihren offenen Strukturen bestehen in der Abhängigkeit von Europa und zugleich im Bedürfnis, ihre Kulturen zu verteidigen. Wer sein Augenmerk nur auf die institutionellen Auseinandersetzungen in der EU richtet, wendet den Blick von den vielen inhaltlichen Problemen der Union ab.

Von JEAN-CLAUDE BOYER *

Es ist ein Resultat mehr oder weniger zufälliger historischer Entwicklungen, dass die Bevölkerungszahlen in Europas Staaten so unterschiedlich hoch sind: In zehn der im Augenblick noch fünfzehn EU-Länder leben zwischen 0,4 Millionen (Luxemburg) und 16 Millionen (Niederlande) Einwohner, in den fünf anderen sind es zwischen 41 Millionen (Spanien) und 82 Millionen (Deutschland).

Die EU-Institutionen glichen diese Diskrepanz aus, indem sie den kleinen Ländern je einen und den größeren je zwei EU-Kommissare zuwiesen. Während sich die Staatsgrenzen in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg stabilisierten, zerfielen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus mehrere ostmittel- und osteuropäische Länder: die Sowjetunion, Jugoslawien und die Tschechoslowakei. Daher ist Polen mit knapp 40 Millionen Einwohnern der einzige bevölkerungsreiche Staat unter den Neumitgliedern, die ab dem 1. Mai dazu gehören. In den anderen neun Beitrittsländern liegt die Einwohnerzahl zwischen 0,4 Millionen (Malta) und gut 10 Millionen (Ungarn sowie Tschechien).

Als die aus den Römischen Verträgen von 1957 hervorgegangenen EU-Institutionen zum 1. Januar 1958 ihre Tätigkeit aufnahmen, räumten sie den kleineren Gründerländern ein unverhältnismäßig großes Mitspracherecht ein. Allerdings konnten die so genannten Beneluxstaaten die Entscheidungsprozesse ohnehin nicht dominieren, weil Belgien, die Niederlande und Luxemburg neben Italien, Frankreich und Deutschland nur die Hälfte der damals sechs EWG-Länder stellten. Im Zuge der schrittweisen Erweiterung der Gemeinschaft ging dieses Gleichgewicht verloren. Das Europa der Fünfundzwanzig wird 19 kleine und sechs große Länder umfassen, wobei in den letzteren dreiviertel der europäischen Gesamtbevölkerung leben. So sieht sich die EU mit dem Dilemma aller supranationalen Staatengebilde konfrontiert: Die Maxime der Einstimmigkeit lähmt fast mit zwingender Notwendigkeit die Entscheidungsfindung, und bei der Mehrheitsregel stellt sich die Frage, ob die Mehrheit der Bevölkerung oder die Mehrheit der Staaten den Ausschlag geben soll.

Theoretisch sollten die zwischenstaatlichen Institutionen – der Europäische Rat, also „der Gipfel“, und die Ministerräte – in Verbindung mit der Einstimmigkeitsregel für die Wahrung der Interessen der kleineren Staaten am besten geeignet sein. In Wirklichkeit aber können die „Kleinen“ ihre Anliegen am leichtesten im Europaparlament und in der EU-Kommission durchsetzen, wo die nationale Zugehörigkeit zumindest teilweise in den Hintergrund rückt. Obwohl die Kommissionsmitglieder von ihren Regierungen ernannt werden, ist die Kommission ein kollegiales Organ, das die Mitgliedstaaten eher als gleichberechtigt behandelt und sich durchaus auch mit den Großen anlegt, wenn sie gegen geltende EU-Regeln verstoßen. Auf Regierungskonferenzen kommen die Interessen der Kleineren weit weniger zur Geltung. Jüngstes Beispiel: die Missachtung des Stabilitäts- und Wachstumspakts durch Frankreich und Deutschland.

In innergemeinschaftlichen Angelegenheiten kann selbst ein einstimmig gefasster Beschluss manchmal trügen. Verzögert nur ein Staat allein die Verabschiedung einer EU-Maßnahme, so hat er mit umso größerem Druck zu rechnen, je leichtgewichtiger er in puncto Bevölkerung und Bruttoinlandsprodukt ist. Wenn Großbritannien sich quer stellt – wie wiederholt geschehen –, wird hingegen eifrig nach einer Kompromisslösung gesucht. Dem Altmitglied Luxemburg dagegen würde in einem solchen Fall bedeutet, dass seine Haltung nicht mehrheitsfähig ist. Bei ein oder zwei Fragen, die dem Land am Herzen liegen – etwa der Fiskalpolitik –, wird man vielleicht Zugeständnisse machen, aber selbst bei diesem Thema tut Luxemburg gut daran, nach Verbündeten Ausschau zu halten. Im Allgemeinen jedoch sind Kommission und Rat auch gegenüber den kleineren Mitgliedstaaten bemüht, es nicht zum Bruch kommen zu lassen.

Die jüngsten Beitrittsverhandlungen haben dies neuerlich gezeigt. Während sich die Medienberichterstattung über die Arbeit am Verfassungsentwurf1 in erster Linie auf die unnachgiebige Haltung Polens in Sachen qualifizierter Mehrheit konzentrierte, fanden hinter den Kulissen zahlreiche Vermittlungsgespräche statt, die den Neumitgliedern einige Vorteile brachten. Selbst das kleine Malta mit seinen gut 400 000 Einwohnern konnte Garantien, Fristen, Ausnahmeregelungen und nicht unerhebliche finanzielle Zugeständnisse erwirken. Denn hier fand die erste der Volksabstimmungen in den Beitrittsländern statt, und eine Ablehnung der maltesischen Mitgliedschaft hätte eine Kettenreaktion auslösen können. So bestätigte der Beitrittsvertrag ausdrücklich die Neutralität des Landes, versprach Nichteinmischung in das restriktive Abtreibungsrecht, erlaubte Beschränkungen für den Erwerb von Zweitwohnsitzen, sagte für die Insel Gozo Sonderzuwendungen aus den Strukturfonds zu und behielt bis Ende 2009 die Möglichkeit der Mehrwertsteuerbefreiung für bestimmte Produkte bei, etwa für Lebensmittel und Arzneien. Über zwei heikle Fragen – die Billigflaggenschiffe und Banken mit faulen Krediten – wird weiterhin verhandelt.

Da die kleinen EU-Staaten ihre Interessen also häufig im Alleingang durchsetzen können, haben sie bislang keine Koalition oder gar eine Kleine-Länder-Lobby gebildet. Partielle Zusammenschlüsse wie die Benelux-Wirtschaftsunion oder den Nordischen Rat gibt es zwar schon seit langem, aber zu einer gemeinsamen Haltung gegenüber der EU-Politik fanden nicht einmal die Beneluxländer. Tatsächlich verfolgen die kleinen Staaten recht unterschiedliche Strategien. Einige suchen als Einzelkämpfer Unterstützung bei einem der Großen; andere, wie etwa die Niederlande, der zugleich bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste Kleinstaat, versuchen mitunter, ein Bündnis gegen die Großen zu schmieden, namentlich gegen das Tandem Deutschland/Frankreich. Einen regelrechten Block scheinen sie aber nur bei einzelnen institutionellen Kontroversen zu bilden. Selbst bei den Verhandlungen in Nizza sorgte die Stimmengewichtung im Ministerrat für ein heilloses Durcheinander. Jedem einzelnen Kleinen war das Hemd der eigenen Sonderinteressen doch näher als der gemeinsame Rock aller Kleinen. Belgien zum Beispiel setzte einfach alles daran, nicht weniger Stimmen zugesprochen zu bekommen als die Niederlande.

Einzig bei der Frage der Zusammensetzung der Kommission zeigten die Kleinen Geschlossenheit. Da die Beibehaltung der bisherigen Regelung – für die Kleinen einen Kommissar, für die Großen zwei – die Exekutive zu sehr aufgebläht hätte und die Kleinen unbedingt „ihren“ Sitz behalten wollten, fanden sich die Großen schließlich bereit, auf einen Kommissar zu verzichten. Allerdings sollte das nur eine Übergangslösung bis zu einer allgemeinen Institutionenreform sein. Der spätere Vorschlag des Konvents für die Zukunft Europas, einem Teil der Kommissare kein Stimmrecht einzuräumen, stieß bei den kleinen Mitgliedsstaaten auf heftige Kritik, konnten sie sich die Folgen einer solchen Regelung doch leicht ausmalen. Nur zu gut war ihnen noch der Präzedenzfall der Europäischen Zentralbank in Erinnerung, wo die im April vorigen Jahres beschlossene Reform das Übergewicht der großen Staaten institutionalisierte und den fünf Ländern mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt eine Sonderstellung einräumte.

Über solche institutionelle Fragen dürfen aber die anderen Probleme des europäischen Einigungsprozesses nicht vergessen werden. Welcher Teilbereich auch immer betrachtet wird, es existiert praktisch kein Politikfeld, auf dem die Kluft eindeutig zwischen großen und kleinen Staaten verliefe. So gehören Großbritannien und Irland nicht zum Schengen-Raum zur gemeinsamen Grenzkontrolle, während Schweden, Dänemark und Großbritannien den Euro nicht eingeführt haben. Der in Nizza erörterte Vorschlag, die Gesamtausgaben für die EU auf ein Prozent des Bruttosozialprodukts einzufrieren, fand nicht nur die Zustimmung der drei Schwergewichte Frankreich, Deutschland und Großbritannien, sondern mit Schweden, Österreich und den Niederlanden auch Fürsprecher unter den kleinen Staaten. Und im Irakkrieg schlugen sich auf die Seite des US-Lagers auch die Niederlande, Polen und Ungarn.

Ausschlaggebend für etwaige Interessenskoalitionen sind ganz andere Gründe: das Entwicklungsniveau, die kulturellen Traditionen, außenpolitische Neutralität oder Schutzbedürftigkeit. Gemeinsamkeiten lassen sich unter den Mittelmeerstaaten, den exkommunistischen Ländern, denjenigen, die es gern bei einer reinen Freihandelszone belassen würden, den Fürsprechern eines wenn auch abgespeckten Sozialstaats und den Atlantikern ausmachen. Keine dieser Gruppierungen jedoch setzt sich ausschließlich aus großen oder kleinen Staaten zusammen.

Eine schon etwas klarere Trennlinie zeichnete sich anlässlich der Kommissionsentscheidung ab, den Verstoß Deutschlands und Frankreichs gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht zu ahnden. Vor allem die kleineren Staaten setzten sich hier für eine strikte Einhaltung der Regeln ein und empörten sich, dass für die großen Volkswirtschaften andere Kriterien gelten sollten als für die kleinen. Am Ende votierten – neben Spanien – dann aber doch nur die Niederlande, Österreich und Finnland für die Achtung der gemeinsam beschlossenen Bestimmungen.

Es sind nicht so sehr die Positionen als vielmehr bestimmte Verhaltensweisen, die jedenfalls die meisten kleineren EU-Mitglieder gemeinsam haben.2 Kleinere Staaten sind naturgemäß stärker von der Außenwelt abhängig als ein großer Staat, der über vielfältige Ressourcen und einen ausgedehnten Binnenmarkt verfügt. Die großen EU-Länder, allen voran Deutschland, sind Hauptabnehmer wie Hauptzulieferer der Kleinen, was unbestreitbar gemeinsame Interessen und Verbundenheit schafft. Kleinere Staaten verzeichnen vielfach einen höheren Anteil an ausländischen Investitionen. Die Zugehörigkeit zur Europäischen Union und zur Euro-Zone dient der Risikobegrenzung und kann – wenn die EU auf ihre Unabhängigkeit pocht und zu eigenständigen Haltungen findet – dafür sorgen, dass man sich auf der internationalen Bühne Gehör verschafft.

Die kleinen Staaten sind ohne Frage stärker auf die europäische Einigung angewiesen als die großen, doch haben sie auch mehr zu verlieren. Alle besitzen ihre eigene Kultur und die meisten von ihnen auch eine eigene Sprache – vom 1. Mai an zählt die EU zwanzig Amtssprachen. Sie legen großen Wert auf ihre Unabhängigkeit, die manche von ihnen erst vor kurzem errungen und hart erkämpft haben; bei ihnen ist das Nationalgefühl nicht weniger, sondern vielleicht sogar stärker ausgeprägt als bei den mächtigeren EU-Mitgliedern.

Nicht wenige der kleinen EU-Länder pflegen zu einem oder mehreren EU-Größen privilegierte Beziehungen, die jedoch – wie das Verhältnis zwischen Österreich und Deutschland oder das zwischen Irland und Großbritannien zeigen – oft von Ambivalenz geprägt sind. Zwar haben Kleinstaaten auch untereinander zum Teil sehr enge Beziehungen – auf ihr unmittelbares regionales Umfeld reduzieren lassen wollen sie sich deshalb noch lange nicht.

Daher auch ihr scheinbar widersprüchliches Verhalten, das teils entgegenkommend, teils wie Prinzipienreiterei wirkt. Standfestigkeit bei Fragen von symbolischer Bedeutung zeigt der Öffentlichkeit, dass man durchaus in der Lage ist, die eigene Identität gegen den Brüsseler „Moloch“ zu verteidigen. Das fordern jedenfalls die Wähler, die den realpolitischen und wirtschaftlichen „Erfordernissen“ weit weniger aufgeschlossen gegenüberstehen als die Regierenden, wie die gescheiterten Referenden in Dänemark, Irland und Schweden in den letzten Jahren zeigten. Die Größe eines Landes wirkt sich entscheidend darauf aus, wie das Gemeinwesen funktioniert, in welchem Verhältnis seine Bürger zueinander stehen und wie sie mit gesellschaftlichen Veränderungen umgehen. Für die Kleinen bringt ein EU-Beitritt weitaus größere Veränderungen mit sich als für die Großen, und bekanntlich haben selbst alte Hasen des Gemeinsamen Markts wie die Beneluxländer mit dem EU-Alltag ihre liebe Not.

Die Spaltung in „die Großen“ und „die Kleinen“ ist also durchaus real. Sie markiert aber weder die einzige noch die wichtigste Trennlinie. Im Übrigen sorgt die Betonung dieses Gegensatzes aber für eine Fixierung auf Institutionen und damit für eine Sichtweise des europäischen Einigungsprozesses, bei der die inhaltlichen Ausrichtungen der europäischen Politik viel zu kurz kommen.

deutsch von Bodo Schulze

* Emeritierter Professor des Institut d‘Études Européennes der Universität Paris VIII. Zuletzt erschienen: „Les Villes européennes“, Paris (Hachette) 2003.

Fußnoten: 1 Vgl. Bernard Cassen, „Europäischer Verfassungsgipfel: Immer Ärger mit der Verwandtschaft“, Le Monde diplomatique, Januar 2004. 2 Vgl. Michel Dumoulin und Genéviève Duchenne (Hrsg.), „Les Petits Etats et la construction européenne“, Brüssel (PIE Peter Lang) 2002.

Le Monde diplomatique vom 08.04.2004, von JEAN-CLAUDE BOYER