Die Stunden der Richter
IM fortdauernden Kampf um die Macht in Venezuela nimmt die Justiz eine Schlüsselposition ein. Sie brachte das erste Volksbegehren zu Fall, mit dem die konservative Opposition ein Referendum zur Absetzung des populistischen Präsidenten Hugo Chávez einleiten wollte. Ein zweites Volksbegehren fand zwar statt, aber das Ergebnis wird vom Regierungslager und den Chávez-Gegnern unterschiedlich interpretiert. Der Konflikt reichte bis in die Kammern des Obersten Gerichts. Jetzt sucht der Nationale Wahlausschuss nach Möglichkeiten, auf eine Überprüfung der umstrittenen Stimmen zu verzichten und das Volksbegehren für gescheitert zu erklären, ohne dass es zu neuen Unruhen kommt.
Von MAURICE LEMOINE
„Manche wollten eine Volksabstimmung. Sie haben sie bekommen – und sie haben verloren.“ Präsident Hugo Chávez konnte sich den Seitenhieb nicht verkneifen, als er am 14. April 2002 im Präsidentenpalast vor die Presse trat. Drei Tage zuvor war er durch einen Putsch abgesetzt worden, aber die Unterstützung durch loyale Kräfte im Militär und eine beeindruckende Solidaritätsbewegung1 trugen ihn zurück an die Macht. In den endlosen Elendsvierteln waren seine Anhänger in Massen für ihren comandante auf die Straße gegangen.
Die Antichavisten erholten sich rasch von diesem Schlag. Ende 2002 forderten sie die Regierung erneut heraus, es begann der so genannte Krieg der Märsche. Und genau wie in den Tagen vor dem golpe, dem Putsch, heizten die Medien kräftig die Stimmung an.2 Zwar folgte auf jeden großen Protestmarsch der Opposition eine mindestens ebenso gewaltige Gegendemonstration der Linken, der Anhänger des Präsidenten, doch das wollte man in den Medien nicht zur Kenntnis nehmen.
Die Anhänger der Opposition glaubten dem Fernsehen und gewannen damit ein falsches Bild. Sie wurden mit immer neuen Triumphmeldungen eingedeckt: „Der größte Marsch“, der „gewaltige Marsch“, der „Supermarsch“, der „Marsch der Märsche“ – die Superlative bezogen sich natürlich stets auf die Kundgebungen der Opposition. Unzweifelhaft schien „das ganze Land“ den Rücktritt des Präsidenten zu fordern.
Schon am 11. Juli hatte Carlos Ortega, Vorsitzender der Confederación de Trabajadores de Venezuela (CTV), einer von den Unternehmern bestochenen Gewerkschaft, die Parole bekräftigt: „Wir werden nicht Ruhe geben, bis Chávez abtritt!“ Die Lage war gespannt, immer wieder kam es zu Zwischenfällen. Am 14. August schließlich eskalierte die Gewalt, diesmal seitens der Chavisten. Denn an diesem Tag entschied der Oberste Gerichtshof mit elf gegen acht Stimmen, keine Anklage gegen vier am Putsch beteiligte Offiziere zu erheben. Eine Welle der Empörung ging durchs Land. „Das ist, als ob man Bin Laden nicht anklagt, mit der Begründung, die Twin Towers seien von selbst eingestürzt“, hieß es auf der Straße. Ausgerechnet eine Regierung, die von ihren Gegnern als „autoritär“ bezeichnet wird, unternahm nichts gegen die Verschwörer von „11-A“, wie der 11. April inzwischen in den Medien genannt wurde.
Natürlich hätte sich das Oppositionsbündnis „Demokratische Koordination“ um einen friedlichen Ausweg aus der Krise bemühen können. Artikel 72 der Verfassung erlaubt die Abwahl des Präsidenten durch eine Volksabstimmung nach der Hälfte seiner Amtszeit. Für Chávez war dieser Stichtag der 19. August 2003. Doch so legalistisch dachten die Oppositionsführer nicht, schon deshalb, weil ihnen die Chance, eine Wahl zu gewinnen, nicht besonders aussichtsreich erschien.
Am 22. Oktober erklärten 14 hohe Offiziere, die alle am Putsch beteiligt gewesen waren, auf dem Francia-Platz im Nobelviertel Altamira öffentlich ihren „legitimen Ungehorsam“. Rasch wurden es 70, die hier ihr Lager aufschlugen, den Ort zum „befreiten Gebiet“ ernannten und wochenlang ihre Show abzogen, bestens abgestimmt mit Presse und Fernsehen.
Noch während Regierung und Demokratische Koordination unter der Schirmherrschaft der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zu Vermittlungsgesprächen zusammenkamen, rief das Oppositionsbündnis einen Generalstreik aus, der „bis zum Rücktritt des Präsidenten“ dauern sollte. Anfangs wurde der Streik, der eher eine Aussperrung durch die Unternehmer war, nicht überall befolgt. Doch dann kam auch die Wunderwaffe der Opposition zum Einsatz, das einzige Mittel, das der Regierung Angst machen konnte: Die Führung der staatlichen Ölgesellschaft PDVSA – die so genannte Öligarchie – erzwang durch produktionstechnische Maßnahmen, dass die Beschäftigten nicht arbeiten konnten.
Begleitet von Anschlägen auf Schaltstellen des Wirtschaftslebens dauerte diese Aussperrung 63 Tage. Die Folge waren Einnahmeverluste in Höhe von rund 10 Milliarden Dollar. Und wie im April 2002 mussten einige „Märtyrer der Demokratie“ ihr Leben lassen. Am 6. Dezember 2002, als Gewerkschaftschef Carlos Ortega seine tägliche Pressekonferenz auf dem Francia-Platz – inzwischen das Hauptquartier der abtrünnigen Militärs – abhielt, eröffnete ein Unbekannter das Feuer auf die Menge der escualidos3 . Drei Menschen starben, 28 wurden verletzt. Carlos Ortega, live dabei, erklärte flugs Präsident Chávez zum Verantwortlichen. Dann forderte er von der OAS, in Venezuela einzugreifen. Und General Enrique Medina Gomez, einer der „11 A“-Putschisten, rief die Streitkräfte zum Sturz des Präsidenten auf.
Am Tag darauf zeigten alle privaten Fernsehsender rund um die Uhr ein Amateurvideo, auf dem der mutmaßliche Attentäter, ein Portugiese namens João Gouveia, im Kreise enger Mitarbeiter des Präsidenten zu sehen war, zu denen auch der Bürgermeister von Caracas, Freddy Bernal, gehörte. Natürlich galten nun diese Personen als Anstifter. Allerdings ergaben die nachfolgenden Ermittlungen, dass Gouveia sich zum Zeitpunkt, als das Video entstanden sein soll, in Portugal aufhielt, wie die Stempel in seinem Pass anzeigten.4 Die Aufnahmen waren offenbar gefälscht. Diese Manipulation erlaubte es Ari Fleischer, dem Pressesprecher des Weißen Hauses, am 13. Dezember eine grundsätzliche Erklärung abzugeben: „Die Vereinigten Staaten sind der Ansicht, dass ein friedlicher und politisch durchsetzbarer Ausweg aus der Krise allein in der Abhaltung vorgezogener Wahlen besteht.“5 Ohne Hugo Chávez natürlich.
Doch der Präsident, demokratisch gewählt und erneut bestätigt, gab sich nicht geschlagen, und er wusste einen Teil der Bevölkerung hinter sich. Die Menschen in Venezuela waren allerdings erneut die Leid Tragenden. Es fiel auf, dass der „Generalstreik“ nicht zu einer Unterbrechung der Strom- und Gasversorgung führte. Stromsperren hätten auch die privaten Fernsehsender betroffen, die doch ständig für die Lahmlegung der Wirtschaft die Trommel rührten und dafür nicht nur ihr normales Programm, sondern sogar die Werbung eingestellt hatten. Und für die von der Opposition umworbene Mittelschicht ist die Gasversorgung eine unverzichtbare Selbstverständlichkeit.
In den Armenvierteln fehlt diese Infrastruktur jedoch. Es gibt keine Gasleitungen, sondern nur Flaschengas, und das war plötzlich nicht mehr erhältlich. „Der Streik sollte die Armen treffen“, meinte Ende Januar eine Bewohnerin der Siedlung Catia. Ihre Wohnungseinrichtung besteht aus einem Tisch mit vier Stühlen und einem alten Kühlschrank. „Einen Monat lang mussten wir Holz besorgen, um kochen zu können. Und hier gibt es kein Holz.“ Damals machten manche Frauen die Babynahrung mit dem Bügeleisen warm.
Es herrschte eine Mangelwirtschaft wie in Kriegszeiten. In der Auslage der ärmlichen Läden lag an manchen Tagen nur ein Zettel: „Es gibt Maismehl“; am nächsten Tag war er verschwunden. „Die haben gedacht, die Leute halten das nicht aus und werden revoltieren“, erinnerte sich Blanca Eckhrout, die damals den lokalen Fernsehsender CatiaTV leitete. Aber der Versuch, Unruhen zu inszenieren, die man als „Volksaufstand gegen die Regierung“ verkaufen konnte, blieb erfolglos. Es gab kein neues caracazo.6
2003 war für Venezuela ein katastrophales Jahr. Der Rückgang des Wirtschaftswachstums um 9,5 Prozent brachte das Land an den Rand des Ruins und höhlte nicht zuletzt die Sozialprogramme aus. Das hatte die Opposition einkalkuliert, aber obwohl sie Millionen Dollars und tausende von Fernsehstunden investierte, um Chávez abzuservieren, musste sie erneut eine klare Niederlage einstecken.
Am 2. Februar 2003 startete die Opposition dann eine Unterschriftensammlung, den firmazo, um die Abwahl des Präsidenten durch ein Volksbegehren zu erreichen. Mit der Durchführung des Vorhabens wurde die Organisation Súmate („Mitmachen“) betraut, über die nicht viel bekannt ist, außer dass sie 2003 vom „National Endowment for Democracy“ (NED) 53 400 Dollar für ein Programm zur „Wählerschulung“ erhalten hat. Diese US-Stiftung mit guten Beziehungen zum Außenministerium in Washington hat in den beiden letzten Jahren insgesamt 800 000 Dollar an diverse Parteien und Organisationen der venezolanischen Opposition gezahlt.7
Der „historische“, „entscheidende“ und „erhabene“ Tag der Unterschriftensammlung war denkwürdig wohl vor allem wegen der massiven Fälschungen. Die Überprüfung der Echtheit oblag allein der Súmate. Die Opposition behauptete jedenfalls, über 4 Millionen Unterschriften erhalten zu haben, das wären mehr als die 3 757 733 Stimmen, mit denen Hugo Chávez 2000 bei sehr geringer Wahlbeteiligung gewählt worden war. Und so erklärte sie sofort, es brauche gar kein Referendum – der Staatschef sei ja offensichtlich nicht mehr legitimiert. Andere argumentierten etwas geschickter, dass die Machthaber die Durchführung der Abstimmung verweigerten.
Tatsächlich war der firmazo rechtlich ohne Wirkung: Die Unterschriftensammlung fand sechs Monate und achtzehn Tage vor Ablauf der halben Amtszeit des Präsidenten statt. Doch in den Augen der internationalen Öffentlichkeit musste jede Organisation, die eine Volksabstimmung forderte, natürlich als Speerspitze der Demokratie erscheinen. Und wer ein solches Votum verweigerte, fürchtete offensichtlich, sich den Wählern zu stellen. Diese Argumente wurden denn auch unablässig wiederholt – auch nachdem der Nationale Wahlausschuss (CNE) am 12. September 2003 festgestellt hatte, das Begehren sei verfassungsrechtlich unzulässig.
„Siebzig Prozent der Venezolaner sind gegen Chávez!“ So oder ähnlich titelten die internationalen Medien, als Chávez am 19. August 2003 die Hälfte seiner Amtszeit hinter sich hatte. Dass mit steigenden Inflationsraten und wachsender Arbeitslosigkeit auch die Armut in Venezuela zugenommen hat, ist nicht zu leugnen. Ebenso unbestreitbar ist auch der Fortbestand einer politischen Kultur, die von Bürokratismus, Vetternwirtschaft und Korruption geprägt ist. Andererseits darf man nicht übersehen, dass inzwischen die Erdölindustrie – neu organisiert und um den Preis von 18 000 Entlassungen drastisch verschlankt – die Fördermengen erhöht hat und die Staatskassen füllt.
Außerdem sind Sozialreformen auf den Weg gebracht worden: Hilfsprogramme für die Mittellosen, eine Landreform8 und Eigentumsförderung in den Armenvierteln. Das Programm Barrio Adentro soll mit Hilfe tausender kubanischer Ärzte die Gesundheitsdienste in den Slums und in entlegenen Gebieten verbessern. Das Programm Robinson ist eine Alphabetisierungskampagne für rund eine Million Menschen; das Programm Ribas will Schulabbrechern helfen; das Programm Mercal dient der Versorgung mit subventionierten Gütern des Grundbedarfs. Die Bank des Volkes und die Bank der Frauen haben von 2001 bis 2003 rund 50 Millionen Dollar an Kleinstkrediten vergeben.
Nach erbitterten Verhandlungen unter Schirmherrschaft der OAS und des Carter Center unter der Leitung des früheren US-Präsidenten Jimmy Carter einigte sich die Demokratische Koordination am 29. Mai mit der Regierung auf ein verfassungsgemäßes Verfahren zur Einleitung einer Volksabstimmung. Nachdem im Parlament keine Mehrheit für dieses Abkommen zustande kam, dekretierte der Oberste Gerichtshof am 25. August die Zusammensetzung eines neuen Wahlausschusses. Die Opposition feierte diese Entscheidung für einen neuen CNE lautstark als Sieg. Offenbar konnte sie sich auf die höchsten Richter immer noch verlassen, wie schon bei deren Beschluss gegen die Strafverfolgung der 11-A-Putschisten. Die Leitung des Wahlaufsichtsgremiums bestand nun aus je zwei Vertretern von Regierung und Opposition, bei einem Patt hat die ausschlaggebende Stimme der Vorsitzende, Francisco Carrasquero, der als Antichavist gilt. Dem Ausschuss oblag die schwierige Aufgabe, die erneute Unterschriftensammlung für das Referendum zu überwachen.
Dieser reafirmazo wurde vom 28. November bis zum 1. Dezember 2003 durchgeführt.9 Um eine Volksabstimmung zu erzwingen, mussten in den 2 780 von der Opposition eingerichteten Zentren wenigstens 2 402 579 Unterschriften zusammenkommen, also 20 Prozent der Wahlberechtigten. Alles verlief ruhig und geordnet, von kleinen Meinungsverschiedenheiten abgesehen. So haben wir etwa in Naguata im Bundesstaat Vargas erlebt, wie ein Oppositionsanhänger auf eine Frau neben dem Tisch, wo die Unterschriften geleistet wurden, zeigte und rief: „Sie schreibt sich auf, wer hier abstimmt! Zeig die Liste her! Du hast sie in der Tasche!“ Die Angesprochene lächelte. „Ich zähle nur mit. Dann kann man uns später keine Fantasieergebnisse vorlegen.“ Sensationelle Ergebnisse waren am zweiten Tag in Vargas offensichtlich nicht zu erwarten. Die Menschen standen vor den Geldautomaten Schlange, nicht vor den Unterschriftenlokalen.
„Nach unserer Schätzung haben wir vier Millionen Unterschriften.“ Diese Behauptung hörten wir am nächsten Tag in Chuao, einer Hochburg der Opposition östlich von Caracas. Auch hier wirkte das Wahllokal ziemlich verlassen. Und dazu gab es eine ebenso wohlformulierte wie bizarre Lektion: Früher sei alles besser gewesen, „als Arme und Reiche noch gemeinsam Feste feierten, die gleichen Kleider und Schuhe trugen“, damals, „bevor dieser Mörder die Gesellschaft gespaltet hat“. Mit Mörder war Chávez gemeint.
Die einzige Auffälligkeit: In den Vierteln der Hauptstadt, die vorwiegend von der Mittelschicht bewohnt sind, gingen die Unterschriftenlisten aus. Von diesen planillas – Formularen, auf denen in zehn Spalten Name, Ausweisnummer, Fingerabdruck und Unterschrift einzutragen waren – hatte der Wahlausschuss jedem Bezirk eine bestimmte Anzahl zugeteilt, die sich zu 66 Prozent der Wahlberechtigten summierte. Insgesamt hätten damit im Land sechs Millionen Unterschriften gesammelt werden können, weit mehr, als die Demokratische Koordination zusammenbekommen würde. Aber in bestimmten Vierteln, die nach ihrer Bevölkerungsstruktur als Hochburgen der Opposition gelten, war das Kontingent offensichtlich nicht ausreichend. Man löste das Problem durch einen „Zubringerdienst“: Wer unterschreiben wollte, konnte sich in eines der Zentren fahren lassen, die noch genügend planillas hatten. OAS-Generalsekretär César Gaviria, der als Wahlbeobachter tätig war, befand, dass damit „eine ungehinderte Teilnahme ermöglicht wurde“.8
Eine Flut! Ein Erdrutsch! Der Beginn des Wandels! lauteten die Triumphmeldungen der Opposition. Und die Starjournalistin Marta Colomina sprach bereits süffisant von „der Verzweiflung und der Angst des Präsidenten, dessen Tage gezählt sind“9 . Trotz derart kühner Behauptungen zeigte sich Präsident Chávez in diesen Tagen so entspannt wie selten: „Wenn sie genug Unterschriften sammeln, wird es eine Volksabstimmung geben“, sagte er im Interview, „und wenn sie die gewinnen, werde ich abtreten. Immerhin haben wir sie dazu gebracht, sich an die Verfassung zu halten.“
Im gegnerischen Lager waren natürlich andere Töne zu hören. Nach einigen Übertreibungen erklärte die Opposition schließlich am 19. Dezember, sie werde dem Wahlausschuss 3 467 050 Unterschriften übergeben. Diese Zahl ließ bereits einige Schlüsse zu: Offenbar hatten diesmal vier Tage nicht gereicht, um so viele Unterschriften zu erhalten, wie sie die Organisation Súmate am 2. Februar 2003 an einem einzigen Nachmittag gesammelt haben wollte. Und dass „70 Prozent der Bevölkerung gegen den Präsidenten“ seien, lässt sich damit keinesfalls belegen.10 Im Grunde kann sich Präsident Chávez rühmen, an einem Tag mehr Zustimmung erhalten zu haben als bei seiner Wiederwahl.
Bemerkenswert still blieb es am Abend des 1. Dezember im Osten der Hauptstadt. Die Führer der Opposition sahen das Debakel wohl schon kommen. Keiner der fünf möglichen Anwärter auf die Führung drängte sich vor. Henry Ramos Allup von der Acción Democratica, Julio Borges von Primero Justicia, Enrique Mendoza, der Gouverneur des Bundesstaats Miranda, Juan Fernández von Gente de petroleo und Chávez’ alter Gegenkandidat Henrique Salas Römer mieden die Fernsehstudios. Siegesfeiern und Triumphzüge waren gar nicht erst geplant.
Unterdessen hatte Präsident Chávez für Wirbel gesorgt, als er, noch vor Ablauf des dritten Tages des reafirmazo, in seinem typischen Hang zur Übertreibung von einem „gigantischen Wahlbetrug“ sprach. Dem widersprach unverzüglich César Gaviria, der Generalsekretär der OAS und frühere Präsident Kolumbiens, der für seine entschlossen proamerikanische Haltung und sein permanentes öffentliches Eintreten für die Opposition bekannt ist: „Wir haben keine Anzeichen dafür gefunden, dass ein großer und umfassender Wahlbetrug stattgefunden hat.“
Unregelmäßigkeiten hat es jedoch gegeben, wie Jorge Rodriguez, ein Mitglied des CNE, bereits am 29. November bestätigte: „Es bestehen zahlreiche Vorwürfe, die den gesamten Ablauf in ein schlechtes Licht rücken. In manchen Fällen sind Menschen zur Unterschrift gezwungen worden. So hat man den Patienten im Krankenhaus von El Llanito erklärt: Wenn ihr nicht unterschreibt, werdet ihr nicht behandelt.“ In anderen Fällen wurden die Unterschriften von Minderjährigen oder Verstorbenen eingesetzt, oder eine Sammelstelle lieferte 400 planillas ab, obwohl ihr nur 200 zugeteilt waren. Die honduranische Abgeordnete Doris Guttiérrez, Mitglied einer Gruppe von 52 internationalen Wahlbeobachtern, hat gesehen, dass ein Plastikkärtchen zum Einsatz kam, „das von einer privaten Organisation stammte“ – nämlich von Súmate. „Darauf sollten die Leute Name und Fingerabdruck hinterlassen, als Beleg für ihre Teilnahme.“ Man kann sich vorstellen, wozu ein solches Dokument dienen könnte: Vielleicht musste man es seinem Arbeitgeber vorweisen, um zu beweisen, dass man sich korrekt gegen den Präsidenten entschieden hatte? Immerhin wurden die meisten Unterschriften am 28. November, einem Werktag geleistet, und das Arbeitsministerium beschuldigte 124 Unternehmen, ihre Beschäftigten unter Druck gesetzt zu haben.
Doris Guttiérrez fiel noch etwas anderes auf: „Obwohl der CNE eindeutig festgelegt hatte, dass die planillas A für stationäre und die planillas B für mobile Sammlungen gedacht sind“ – also für Menschen, die keine Sammelstelle aufsuchen können –, „wurden immer wieder Formulare vom Typ A für den Zweck B missbraucht. Hausbesuche, bei denen keine Überwachung gemäß den Vorschriften möglich war, könnten damit einen erheblichen Teil der gesammelten Stimmen ausmachen.“ Das hieße also, dass dabei kein ehrenamtlicher Beobachter im Auftrag der Regierung zugegen war.
Die Überprüfung der Unterschriften durch den CNE erwies sich als komplizierter und langwieriger als gedacht. Die Bekanntgabe des Ergebnisses wurde mehrfach verschoben. Heftige Vorwürfe von Seiten der Opposition waren die Folge. Am 26. Januar genehmigte daher Präsident Chávez den Einsatz von Mitarbeitern der OAS und des Carter Center bei der Auszählung. Jimmy Carter fand die Arbeit des CNE lobenswert: „Nach meiner persönlichen Ansicht wird der CNE […] die richtige Entscheidung treffen, und gegen die politischen Resultate wird nichts einzuwenden sein.“11
Während die Regierung ihre Bereitschaft erklärte, die Entscheidung der Wählerschaft zu akzeptieren, zeigte die Opposition sich weniger friedlich, erst recht nach der Bekanntgabe der Ergebnisse am 24. Februar. Gemeldet wurden 1 832 493 gültige Unterschriften, 143 930 manipulierte und 233 573 wegen Nichtübereinstimmung mit dem Wahlregister nicht zugelassene. Vor allem wurden 879 000 so genannte planillas planas festgestellt, das sind Formulare, die in der gleichen Schrift, also von derselben Person ausgefüllt wurden. Als Hilfestellung für Analphabeten und alte Menschen war dies zulässig, doch die enorme Zahl dieser planillas war suspekt und schien Chávez’ Behauptung eines „gigantischen Betrugs“ zu stützen. An ihnen hing das Ergebnis des Volksbegehrens: Wären sie alle gültig, hätten sich sogar 2,7 statt der erforderlichen 2,4 Millionen Stimmberechtigten für das Referendum ausgesprochen. Wären sie alle ungültig, hätte die Opposition eine schwere Niederlage erlitten. Der Wahlausschuss ließ sich daher ein Prüfverfahren einfallen: Alle in dieser Weise verzeichneten Personen wurden aufgerufen, zwischen dem 18. und 22. März persönlich zu erscheinen, um ihre Unterschrift zu beglaubigen.
Daraufhin rief die Demokratische Koordination unter der Parole „Keine Verhandlungen über die Unterschriften!“ zum zivilen Widerstand auf. Vom 27. Februar bis zum 4. März starben bei der Niederschlagung gewaltsamer Demonstrationen durch die Nationalgarde zehn Menschen, wobei die Verantwortung dafür oft unklar war. Dutzende weitere wurden verletzt, 300 Personen verhaftet. „Würden sie solche Schwierigkeiten machen, wenn sie ganz sicher wären, dass die Unterschriften und Fingerabdrücke echt und die Ausweisnummern richtig sind?“, fragte Vizepräsident José Vicente Rangel. „Warum fürchten sie die Überprüfung? Wenn ich unterschrieben habe, muss ich doch nur hingehen und erklären: Ja, das ist meine Unterschrift.“12
Kleinlicher Formalismus! Wie zu erwarten, erhielt die Demokratische Koordination Schützenhilfe aus Washington, wo man sich „besorgt“ zeigte und die „technizistische Haltung“ des Wahlausschusses kritisierte. César Gaviria als bewährter Repräsentant der US-Sichtweise machte den Vorschlag, die Überprüfung in Form von „Stichproben“ vorzunehmen, also die Richtigkeit der Unterschriften gleich kübel- oder kiloweise zu bestätigen. Das wäre die Rückkehr in die Zeit, als in Venezuela die Wahlen nicht an den Urnen entschieden wurden, sondern durch ein aufwendiges System zur Manipulation der öffentlichen Meinung.
Dieser Tradition folgten am 15. März zwei Mitglieder der Kammer für Wahlfragen am Obersten Gerichtshof, als sie –ohne den Präsidenten des Gerichts und die Kammer für Verfassungsfragen zu konsultieren – einer Klage stattgaben, die die Demokratische Koordination am 8. März eingereicht hatte. Die Richter ordneten an, 876 017 Unterschriften, also die übergroße Zahl der zweifelhaften planillas planas, wieder in die Zählung einzubeziehen. In der Begründung wurde die Beweislast einfach umgekehrt: Es sei Sache jener Bürger, deren Namen missbraucht wurden, nun bei der Überprüfung aufzutreten und zu erklären, dass sie nicht unterschrieben hätten.
Das Ganze löste einen neuen Verfahrensstreit aus, und das Pendel schwang zurück: Die Verfassungskammer kassierte die Entscheidung der Wahlkammer wegen „Verfassungswidrigkeit“, weil diese in den von der Obersten Wahlbehörde geführten Referendumsprozess nicht eingreifen dürfe. Dies verschärfte die ohnehin gespannte Situation weiter.
Zu erwähnen bleibt, dass bei einer Volksabstimmung, wenn es der Opposition denn gelingt, sie durchzusetzen, die Zahl der innerhalb von 24 Stunden abgegebenen gültigen Jastimmen mindestens eine Stimme mehr als die 3 757 733 betragen muss, mit denen Präsident Chávez gewählt wurde. Zudem muss diese Zahl höher sein als die der gültigen Neinstimmen der Anhänger des Präsidenten. Angesichts der Zahlen und der Kräfteverhältnisse erscheint das äußerst unwahrscheinlich. Radikale Kräfte könnten also versucht sein, so lange Chaos zu stiften, bis – vielleicht mit Hilfe der USA oder mit dem Segen des OAS-Generalsekretärs – eine Lösung nach haitianischem Muster möglich wird. Zweierlei spricht allerdings deutlich dagegen: Hugo Chávez ist nicht Jean-Bertrand Aristide, und Venezuela ist nicht Haiti.
deutsch von Edgar Peinelt