08.04.2004

Der neue dynamische Dschihad der Frauen

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Der neue dynamische Dschihad der Frauen

DIE Verleihung des Friedensnobelpreises an die iranische Anwältin Schirin Ebadi hat weltweit eine stärkere Aufmerksamkeit für die Situation der Frauen in der islamischen Welt erzeugt. Marokko verabschiedete vor kurzem als eines der ersten arabischen Länder eine Familienrechtsreform, die praktisch eine Gleichstellung von Frauen und Männer kodifiziert. So weit sind die Frauenrechtlerinnen im Iran noch lange nicht. Sie müssen sich auch immer wieder den Vorwurf anhören, sie seien Feministinnen, sprich westlich geprägt, säkular und bereit, für ihre Freiheit den Familienfrieden zu opfern. Ein vielfältiges Bild weiblicher Stimmen aus Marokko und dem Iran.

Von WENDY KRISTIANASEN *

Schirin Ebadi ist die erste Muslimin, die den Friedensnobelpreis verliehen bekam. Die Auszeichnung hatte zur Folge, dass die Welt von den Forderungen der iranischen Frauen nach Gleichberechtigung und Freiheit erfuhr, was immerhin ein wichtiger Fortschritt ist. Mohammed Chatami tat die Ehrung jedoch als „unbedeutend“ ab und raubte damit vielen Iranern, die die Hoffnung auf Demokratisierung ihrer Gesellschaft noch nicht aufgegeben haben, die letzten Illusionen über ihren Staatspräsidenten. Die Parlamentswahlen am 20. Februar 2004 machten dann vollends deutlich: Der sieben Jahre währende Versuch, die theokratische iranische Revolution zu reformieren, ist gescheitert.1

In Marokko wurde – ebenfalls zu Beginn dieses Jahres – ein neues Familienrecht (moudawana) eingeführt. Juristisch ist die Reform ein großer Schritt zur Gleichberechtigung der Frauen. Marokko ist nach Tunesien das zweite muslimische Land, in dem ein solcher politischer Durchbruch stattgefunden hat. Doch die vermeintliche Offenheit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass König Mohammed VI., der seinem Vater 1999 auf den Thron folgte, die absolute Macht im Lande hat. Und abgesehen vom neuen Familienrecht halten sich die demokratischen Fortschritte ziemlich in Grenzen.

Wie im Iran fällt auch in Marokko auf, mit welcher Apathie die Bevölkerung dem politischen Geschehen zusieht und welchen Zynismus sie dem herrschenden System gegenüber an den Tag legt. Darüber hinaus gibt es eine weitere Gemeinsamkeit: Marokko ist wie der Iran ein islamischer Staat. Der König ist sowohl das religiöse wie weltliche Oberhaupt, das sich „Führer der Gläubigen“ (Amir al-Muminin) nennt. Die Einhaltung der islamischen Regeln ist für Muslime gesetzlich vorgeschrieben (wer im letzten Jahr den Fastenmonat Ramadan nicht eingehalten hat, kam allerdings mit einer Verwarnung davon). Doch wie der Iran – und viele andere Länder der muslimischen oder arabischen Welt – ist Marokko ein ausgesprochen konservatives Land, in dem Tradition gleichbedeutend ist mit Islam.

In beiden Ländern vollziehen sich die Veränderungen innerhalb eines islamischen Rahmens: zum einen durch persönliches religiöses Quellenstudium (ijtihad), zum anderen durch Auslegung des Koran (tafsir). In diesem Rahmen haben Frauen in beiden Ländern einen aktiven Beitrag geleistet. Dabei definieren sie sich als Frauenrechtlerinnen, wobei das Wort „Feministin“ vielen, vor allem in Marokko, suspekt ist. Der Begriff scheint ihnen zu eng, weil er mit ihrer Geschichte und ihrer Lebenswelt nicht viel zu tun hat. Der religiöse Hintergrund dieser Frauen ist höchst unterschiedlich, das Spektrum reicht von islamistisch bis säkular.

Die Reform des marokkanischen Familienrechts war ein langwieriger Prozess, der sich an den Rahmen des islamischen Rechts, der Scharia hielt. Die treibenden Kräfte waren dabei zum einen der König, zum anderen eine ausgesprochen energische Frauenbewegung. Nach dem neuen Recht haben Frauen den gleichen Status wie Männer, und auch die Rechte innerhalb der Familie sind gleich verteilt, zudem können Frauen die Scheidung beantragen und ohne die Zustimmung eines männlichen Familienmitglieds heiraten. Doch es mussten auch Kompromisse gemacht werden. Zum Beispiel konnte die im Koran verankerte Polygamie nicht abgeschafft, sondern nur erschwert werden.

Der Weg vom Reformwillen zum Gesetzestext war nicht ohne Konflikte. Schon 1999 hatte der sozialistische Ministerpräsident Abderrahmane Youssoufi einen ersten Reformplan vorgelegt. Der war zur Vorlage bei der Weltbank bestimmt, um die Bereitschaft Marokkos, die Gesellschaft zu modernisieren, glaubwürdiger zu demonstrieren. Dieses Vorgehen wurde von Abdelkebir Alaoui M’Dghari, dem Minister für Islamische Angelegenheiten, scharf kritisiert. Es kam zu einer öffentlichen Debatte, und die Regierung zog den Reformplan zurück. Daraufhin bildeten sich zwei Lager heraus: auf der einen Seite die unabhängigen Frauenrechtlerinnen, die sich in der Bewegung Printemps de l’Egalité zusammenschlossen, auf der anderen Seite die von konservativen Kräften unterstützten Islamisten.

Am 12. März 2000, kurz nach dem internationalen Frauentag, gingen an die 300 000 Menschen auf die Straße, um für den Reformplan zu demonstrieren: vor allem Frauengruppen, Menschenrechtsaktivisten und Vertreter der politischen Parteien, darunter auch sechs Minister der aktuellen Regierung. Einige Gruppen verlangten sogar, dass der Plan noch weiter gehen sollte. In Casablanca fand eine islamistische Gegendemonstration statt, die sogar noch mehr Menschen mobilisierte. Hier wurden die Inhalte des Plans als prowestlich und antimuslimisch angeprangert.

Der König ernannte eine 15-köpfige Kommission, die den Reformplan im Sinne des Islam überarbeiten sollte. Eine der drei Frauen in dieser Kommission war die 50-jährige parteilose Nouzha Guessous, Professorin der medizinisch-pharmazeutischen Fakultät der Universität Casablanca und Gründungsmitglied der Organisation Marocaine des Droits humains (OMDH). Frau Guessous beschreibt sich selbst als Feministin, „allerdings im weiteren Sinne des Wortes“. Sie tritt für „universelle Rechte“ ein und glaubt nicht, dass diese den Prinzipien des Islam widersprechen. Der Vorwurf an marokkanische Intellektuelle und Frauengruppen, sie seien antimuslimisch, habe diese gezwungen, „ihre Forderungen gründlich zu überdenken und innerhalb eines islamischen Rahmens neu zu formulieren. Sie mussten beweisen, dass ihre Forderungen in der muslimischen Kultur gründen und nicht vom Westen diktiert sind. Ich glaube, das war der taktisch wichtigste Schritt im ganzen Kampf.“ Die Rede des Königs zur Einführung der Reformen war eine bemerkenswerte rhetorische Leistung, insofern sie für jeden Reformpunkt eine legitimierende Koranstelle anführte. Ebenso bedeutsam war, dass er das Dokument anschließend dem Parlament vorlegte – eine noch nie dagewesene Reverenz vor der Demokratie.

Es gibt nicht genug islamische Feministinnen

AM 16. Mai 2003 wurden 45 Menschen in Casablanca durch Selbstmordattentate getötet. Diese erste Terroraktion auf marokkanischem Boden löste einen tiefen Schock aus. Die Attentäter gehörten zur salafistischen Organisation „Der rechte Weg“, die mit al-Qaida in Verbindung gebracht wird. Viele Marokkaner sahen die Verantwortung jedoch bei der einheimischen islamistischen Bewegung. Die ist im Parlament durch die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) vertreten, die, um sich zu entlasten, dem überarbeiteten Reformplan prompt zustimmte.

Guessous schildert die weitere Entwicklung so: „Die Attentate vom 16. Mai führten der Bevölkerung die Gefahr durch den Extremismus vor Augen. Plötzlich musste jeder Stellung beziehen, auch die marokkanische Regierung. Die reagierte mit der feierlichen Erklärung, man werde an der Schaffung eines demokratischeren, offeneren und toleranteren Staates festhalten. Durch die Ereignisse vom 16. Mai wurde außerdem deutlich, dass der Staat endlich die sozialen und wirtschaftlichen Missstände wie auch die Bedürfnisse der Bürger zur Kenntnis nehmen muss. Die Attentate zeigten aber auch, wie wichtig es war, das Festhalten an unseren islamischen Prinzipien zu demonstrieren.“

Der politische Analytiker Mohammed Tozy bezeichnet die Reform als revolutionär. Aber er betont zugleich, dass sie verstärkte Bildungsbemühungen und Veränderungen in der Gesellschaft erfordert. Wie aber sieht es damit aus? Leila Rhiwi, Professorin für Kommunikation an der Universität von Rabat, die auch die Bewegung Printemps de l’Egalité koordiniert, artikuliert ein verbreitetes Missbehagen: „Das Gesetz ist unglaublich wichtig; es beendet die Unterordnung der Frau durch das Prinzip der Gleichberechtigung. Aber ich befürchte, dass es im täglichen Leben nicht umgesetzt wird, etwa landauf, landab von den Gerichten. Wir lassen den Richtern zu viel Spielraum. Es gibt noch eine Menge zu tun.“ Über sich selbst sagt die Professorin: „Ich bin muslimisch im kulturellen Sinne, aber es stört mich nicht, wenn man mich eine säkulare Feministin nennt. Seit dem 16. Mai wird im Zusammenhang mit der Demokratisierung ganz offen über säkulare Prinzipien diskutiert.“

Die 40-jährige Khadija Roussi bekannte sich als säkulare Feministin. Die Generalsekretärin der Menschenrechtsorganisation Forum Verité et Justice befürchtet ebenfalls, dass „unsere Gerichte und Richter die neuen Reformgesetze nicht anwenden werden. Es sind immer noch alles Männer, und die kennen doch gar nichts anderes als Diskriminierung.“

Was sagen die Islamisten selbst? Nadia Yassine ist Sprecherin der Organisation Jama’a al-Adl wal-Ihsan (Gerechtigkeit und Wohltätigkeit) und die Tochter ihres Gründers Scheich Ahmad Yassine. Der schrieb in seinem Buch „La Révolution à l’heure de l’Islam“, dass es darum gehe, „die Moderne zu islamisieren und nicht den Islam zu modernisieren“. Nadia Yassine sieht sich selbst als Teil einer „militanten, sozialen Neo-Sufi-Bewegung“ und lehnt die Bezeichnung Feministin ab: „Das klingt mir zu sehr nach Vergeltung.“

Sie gibt zu, dass die Demonstration gegen die Reformen im Jahre 2000 „ein taktischer Fehler war. Es war eine politische Geste, um zu zeigen, wie stark die Islamisten sind. Aber wir haben die Reform auch abgelehnt, weil sie nach der Konferenz in Peking2 auf den Tisch kam, uns also von außen aufgedrängt werden sollte. Unsere Gesellschaft mag zwar krank sein, aber wir müssen unsere eigenen Heilmittel finden. Die Frauen im Westen hatten keine Rechte, bevor sie selbst dafür kämpften. Bei uns lief es umgekehrt, wir haben unsere Rechte mit der Zeit verloren.“

Nadia Yassine hat auch noch eine andere Dimension im Auge: „Das ist eine spirituelle Frage. Für uns haben die Rechte der Frauen drei Bezugspunkte: die Männer, die Frauen und Gott. Wir brauchen die religiöse Komponente, um die harten Gegensätze abzumildern. Es stimmt auch, dass wir die heiligen Schriften wieder lesen und studieren. Unter der Herrschaft des Mu’awiya vollzog sich eine gesellschaftliche Wende gegen die Frauen,3 als nämlich die Frauen zu Sklavinnen wurden. Wir wollen heute mehr Rechte, aber wir wollen sie nutzen, um die Harmonie innerhalb der Familien zu fördern. Denn sonst könnte der Zusammenhalt der Familien bedroht sein.“

Ihre Kritik an der Reform geht heute dahin, dass sie nicht genug Veränderung gebracht habe: „Das neue Gesetz sollte viel weiter gehen und Frauen das Recht geben, die Bedingungen zu formulieren, unter denen sie eine Vielehe akzeptieren oder ihre Verstoßung. Auch die Frage nach den Erbrechten der Frau wurde bis jetzt völlig übergangen.“

Die Organisation al-Adl wal-Ihsan ist vor allem in den Städten und an den Universitäten sehr beliebt.4 Sie vermittelt die Hoffnung auf Veränderung auf allen Ebenen: der spirituellen, der politischen und der kulturellen. Sie bekämpft den von der Monarchie beherrschten Status quo und begründet ihre Legitimität mit dem großen Zuspruch der Bevölkerung. Da sie jedoch auf ihren Prinzipien beharrt, bleibt sie außerhalb des politischen Systems. Der größte Teil ihrer Gefolgschaft wählt die PJD, eine konservativ-religiöse Partei, die traditionell denkende Bevölkerungskreise anspricht. Hakima Muktary, Al-Adl-wal-Ihsan-Sprecherin in Rabat, formuliert es so: „Unsere Ausrichtung ist gänzlich anders als die der PJD. Sie akzeptieren die politischen Spielregeln. Wir nicht.“

Viele Frauen, die unter dem alten moudawana gelitten haben, fühlen sich von al-Adl wal-Ihsan angesprochen. Najia Rahman ist 44 Jahre alt und stammt aus Oujda in Ostmarokko. Sie war eine rebellische Frau, die weder Kopftuch trug noch die Gebete praktizierte. Bis sie heiratete – und eine unglückliche Ehe führte. Nachdem sie jahrelang Misshandlungen erduldet, Kinder aufgezogen und Hausarbeit geleistet hatte, stieß sie auf die Schriften von Sheikh Yassine: „Ich dachte, das ist doch mal was Neues; nicht wie Hassan al-Banna oder Sayyid al-Qutb5 . Irgendwie gefiel mir das. Ich wurde Mitglied und bin jetzt seit 18 Jahren dabei. Sie machten mir Mut, die Scheidung zu beantragen und meine Karriere wieder anzukurbeln, aber vor allem ermutigten sie mich zum Denken. Derzeit mache ich gerade meinen Doktor in Psychologie.“ Zum neuen Familiengesetz meint sie: „Es wird mir nicht dabei helfen, meine Unterhaltsansprüche einzutreiben. Dabei ist das Gesetz nicht das Problem. Es ist die Mentalität, die Korruption, die Tatsache, dass hier Leute wie die lokalen Beamten und Richter nicht sehr gebildet sind.“

Beim Treffen eines Komitees namens al-Adl’s Nur (Licht), in einem Privathaus in Casablanca, sagen die Mitglieder offen ihre Meinung zu allen möglichen Themen. Auch einige wenige Frauen sind anwesend, al-Adl ist schließlich für die Aufhebung der Geschlechtertrennung. Die Diskussion wird von Nadia Yassine geleitet. Es geht um die Ziele des Komitees: „Wir wollen der muslimischen Geschichte die heilige Aura nehmen, sie neu interpretieren, die Leute durch Bildung von Grund auf verändern.“ Und sie sagen: „Wir sind bereit, das politische Spiel mitzuspielen, aber nur wenn es dabei fair zugeht. Und dazu ist der Palast nicht fähig. Wir wollen nicht nur eine Wahlreform, sondern eine vernünftige Verfassungsreform. Im Palast weiß man, dass wir die Monarchie in Frage stellen, genau wie die Privilegien der säkularen Frauenbewegung. Für uns ist das nur eine frankophone Elite.“ Man spürt, wie unversöhnlich sich die beiden Lager der marokkanischen Frauenbewegung gegenüberstehen.

Ganz anders stehen die Dinge im Iran.6 Hier sind die Islamisten die politischen Traditionalisten, und es gibt Frauenrechtlerinnen aller Couleurs: traditionell oder modern, islamistisch oder säkular, konservative Rechte, liberale Mitte oder progressive Linke. In einem höchst unsicheren politischen Umfeld und ohne jeden Rückhalt in der iranischen Männerwelt (weder im Parlament noch sonstwo), waren die Frauen in ihrem Kampf völlig auf sich gestellt. Wie nicht anders zu erwarten, identifizierten sich viele Frauenrechtlerinnen zunächst mit der Reformbewegung Chatamis, der sie mit seinen schönen Worten über Zivilgesellschaft, Redefreiheit und Rechtsstaatlichkeit begeisterte – zumal angesichts der starken und teilweise gewalttätigen Opposition der theokratischen Rechten. Tatsächlich sind die Frauen mit ihren Forderungen nach Gleichberechtigung eine entscheidende Kraft in der demokratischen Reformbewegung.

Nur langsam und in kleinen Schritten kommt diese Bewegung voran, vor allem weil der iranische Wächterrat durch sein Vetorecht jede parlamentarische Gesetzesvorlage kassieren kann. Der Entwurf kann dann an einen Vermittlungsausschuss weitergereicht werden, der Konflikte zwischen Parlament und Wächterrat schlichten soll. So wurde am 29. November 2003 erreicht, dass geschiedene iranische Mütter das Sorgerecht für ihre Söhne behalten, bis diese sieben Jahre alt sind. Davor galt die Regelung nur bis zum dritten Lebensjahr. Für Töchter galt das Sorgerecht schon bis zum siebten Lebensjahr. Nach zwei Jahrzehnten des Widerstands wurde dieses bescheidene Zugeständnis schon als Meilenstein betrachtet. Das alles ist nicht zuletzt der unermüdlichen Arbeit Schirin Ebadis zu verdanken, die das Thema 1997 in die öffentliche Debatte brachte. Sie vertrat die geschiedene Mutter der siebenjährigen Aryan, die im Haus ihres Vaters nach Misshandlungen durch ihre Stiefmutter und deren Bruder gestorben war.

Nach einem ähnlich langwierigen Prozess wurde im Juni 2002 das Mindestheiratsalter auf 13 Jahre für Mädchen und 15 Jahre für Jungen angehoben. Auch dies war ein Kompromiss. Der ursprüngliche Gesetzentwurf vom August 2000 sah ein Minimum von 15 Jahren bei Mädchen und 18 Jahren bei Jungen vor. Seit 2001 dürfen über 18-jährige Mädchen auch ohne Erlaubnis ins Ausland reisen. Verheiratete Frauen brauchen allerdings nach wie vor das Einverständnis des Ehemanns.7

Weitere Gesetze, die das Parlament seit 2000 verabschiedet hat, wurden wieder aufgehoben. Dazu gehörten das reformierte Presse- und Scheidungsgesetz, das Verbot von Folter in Gefängnissen und der Beitritt zur UN-Konvention gegen jegliche Form der Diskriminierung von Frauen (Cedaw). Entscheidend bleibt allerdings, dass Frauen immer noch weniger wert sind als Männer: Sie erhalten nur die Hälfte des „Blutgeldes“ – eine Entschädigung für Verletzung oder Tod –, das für Männer gezahlt wird. Das Gleiche gilt für religiöse Minderheiten, die nur halb so viel wert sind wie Muslime.

Und dann ist da noch die Sache mit dem Hidschab, dem für muslimische Frauen obligatorischen verhüllenden Gewand. Die Missachtung der islamischen Kleiderordnung kann mit bis zu 74 Peitschenhieben bestraft werden. Nach Jahren des Schweigens wurde das Thema unter Chatami endlich von Reformgeistlichen in Zeitschriften angesprochen. Am bekanntesten wurde der Beitrag des ehemaligen Innenministers Abdollah Nuri, der argumentierte, dass die Scharia zwar von gläubigen Frauen fordere, Kopf und Körper zu bedecken, aber nichts über nichtgläubige Frauen aussage. Nuri wanderte für fünf Jahre ins Gefängnis.8

Schala Scherkat druckte Beiträge zu diesem Thema in der Zeitschrift Zanan (Frauen) ab, einem 1992 gegründeten Monatsmagazin. Zanan wird als standhafte feministische Stimme geschätzt, die sich bei aller Kritik nie zu sehr von den islamischen Prinzipien entfernt hat. Mit bis zu 40 000 Exemplaren ist sie die mit Abstand auflagenstärkste Frauenzeitschrift des Landes (die zweitgrößte Zeitschrift verkauft 5 000 Exemplare). Schala Scherkat erzählt: „Als ich mit Zanan begann, wollte ich nur meine zehnjährige Erfahrung aus der Frauenbewegung weitergeben. Das erforderte einigen Mut. Feminismus war damals ein Schimpfwort. Ich wollte nicht als Verfechterin des Feminismus gelten, ich wollte nur darüber reden. Der Feminismus ist hierzulande noch immer etwas Neues. Wir müssen ihn nutzen, um mehr Einigkeit unter den Frauen herzustellen, um sie zu ermutigen, gemeinsam gegen die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern zu demonstrieren. Deshalb weigere ich mich, dem Wort irgendwelche Adjektive anzuheften, wie etwa islamisch oder säkular. Solche Etiketten interessieren mich nicht, ich bin schlicht und einfach eine Feministin.“

Scherkat stellte bei einer Berliner Konferenz im Jahr 2000 die Durchsetzung des Hidschab öffentlich in Frage. Auch andere bekannte Reformer nahmen an der Konferenz teil. Sie alle wurden bestraft. Scherkat bekam sechs Monate Gefängnis auf Bewährung. Schala Lahidschi, Menschenrechtsaktivistin und seit 20 Jahren Herausgeberin der preisgekrönten Roschangaran Press9 , wurde zu vier Jahren verurteilt, die dann doch noch auf sechs Monate reduziert wurden. Sie hatte in Berlin über die Zensur gesprochen.

Schala Lahidschi meint: „Frauenfragen sind hier immer noch ein heikles Thema. Der Begriff ‚islamische Feministin‘ ist ein Problem, denn die Leute verbinden damit, dass solche Frauen sich zum einen den Männern überlegen fühlen und dass sie außerdem halbnackt auf die Straße gehen. Das Problem dabei ist, dass die Religion das tägliche Leben durchdringt. Wir müssen Religion und Staat voneinander trennen. Wenn die Menschenrechte hier schon stärker verankert wären, dann brauchte man die Religion nicht mehr. Die Mullahs wollen noch mehr Segregation. Sie wollen Parks nur für Frauen und Busse nur für Frauen usw. Dabei wäre es eigentlich am dringendsten, die Männer zu erziehen.“

Lahidschi darf sich inzwischen öffentlich nicht mehr äußern. Und wie im Iran üblich, hält auch sie sich an die Regeln. Sie trägt den Hidschab, „weil es das Gesetz so will. Auch wenn mir nicht passt, was damit unterstellt ist: ‚Ihr Frauen seid die Verkörperung der Sünde‘.“

Sie ist nicht verbittert, eher hoffnungsvoll. So meint sie etwa über die Auswirkungen des Iran-Irak-Krieges in den 1980er-Jahren: „Frauen wurden damals zu Familienoberhäuptern, das hat ihr Selbstbewusstsein gestärkt. Das war der Anfang. Die jüngere Generation macht heute unglaubliche Sachen. Es gibt so viele talentierte junge Menschen. Sehen Sie sich das iranische Kino an! Es gibt zwar nicht viele Frauenrollen, und Körperkontakt ist tabu. Aber schauen Sie, wie viele Regisseurinnen wir haben; und wie viele Hochschulabsolventinnen. Frauen sind heute an den technischen Universitäten und studieren Fächer wie Mathematik und Informatik. Und 2003 waren 62 Prozent aller neuen Studenten Frauen! Bei all den Restriktionen, die es für uns gibt, ist das ein wahres Wunder.“

Nicht viele Frauen trauen sich, so offen zu sprechen. Auch die 35-jährige Nuschin Ahmadi Chorasani fordert öffentlich die Trennung von Staat und Religion. Ihre Zeitschrift Fasl Zanan (Zeit der Frauen) erscheint alle drei Monate. Zusammen mit Parvin Ardalan leitet die Menschenrechtsaktivistin das Frauenkulturzentrum. Seit 1999 finden dort öffentliche Veranstaltungen statt, trotz ständiger Schikanen seitens der Behörden. Es dauerte zwei Jahre, bis sie ihre NGO gegründet hatten. Sie erhalten keine Zuschüsse oder Spenden wie andere, nicht so säkular ausgerichtete Vereinigungen. Chorasani und Ardalan bezeichnen sich ebenfalls ganz offen als Feministinnen: „Und wir sind für die säkularen Prinzipien. Aber das müssen wir nicht betonen. Das ist man im Iran ganz automatisch, wenn man sich mit Menschenrechten beschäftigt. Vor ein paar Jahren war das Wort ‚feministisch‘ sogar noch gleichbedeutend mit säkular. Damals hätte sich nicht einmal Schirin Ebadi als Feministin bezeichnet.“

Asam Taleqani ist Herausgeberin des reformistischen Blattes Payam-e Hajer (Hajers Botschaft), das derzeit verboten ist. Sie gehört zur alten Schule der Frauenrechtlerinnen, steht politisch aber dem nationalreligiösen Lager nahe. Die gebrechliche alte Dame ist die Tochter eines berühmten Ajatollahs und genießt allgemein große Achtung. Zur Frauenfrage meint sie: „Die Männer sollten über die Situation der Frauen neu nachdenken. Mir geht es gar nicht nur um die Frauen, sondern um die Gesellschaft insgesamt.“ Trotz ihres Gesundheitszustands ließ sie sich bei den letzten Wahlen als Präsidentschaftskandidatin aufstellen, „um die Verfassung zu testen, denn es ist überhaupt nicht einzusehen, dass eine Frau nicht kandidieren sollte“. Am 12. Juli 2003 veranstaltete sie in sengender Hitze eine eintägige Eine-Frau-Demonstration, mit der sie gegen die Todesstrafe für die kanadisch-iranische Journalistin Zahra Kazami protestierte. Frau Kazami war verhaftet worden, weil sie das Evin-Gefängnis in Teheran fotografiert hatte. Wie würde sich die unerschütterliche Taleqani selbst beschreiben? Sie lächelt: „Wenn ich das wüsste, würde ich die Dinge, die ich tue, besser machen. Ich hoffe, dass ich es noch herausfinde, bevor ich sterbe.“

Mabubeh Ommi Abbasqolisadeh ist Herausgeberin der Vierteljahreszeitschrift Farzaneh (Weise), der ersten iranischen Publikation für „Women’s Studies“ (seit 1993). Die 44-Jährige leitet sowohl einige NGOs als auch regierungsnahe Organisationen. Manche führen ihre Karriere darauf zurück, dass sie sich nicht allzu sehr vom islamischen Establishment entfernt hat. Ihre persönliche Entwicklung beschreibt sie so: „Während der Revolution war ich Islamistin. In den 1980er-Jahren studierte ich dann in Ägypten und befasste mich mit Gender Studies. Das machte mich zu einer islamistischen Feministin. Wir wollten viel weiter reichende Veränderungen durchsetzen, und zwar durch einen ‚dynamischen Dschihad‘, wie wir es nannten.“ Das bedeutete damals eine wichtige geistige Wende, weg vom alten Begriff der „Pflicht“ (taklif) zu dem des zu fordernden Rechts (haqq) im Rahmen eines toleranteren, pluralistischer ausgerichteten Islam. Heute meint sie: „Ich habe mich erneut verändert und sehe mich nun als muslimische Feministin, die sich auf die Bewegung der gläubigen Intellektuellen stützt.“

Einer dieser berühmten gläubigen Intellektuellen ist Hamidresa Jalaeipur10 , Soziologe an der Teheraner Universität. Der Professor erklärt: „Ich bin Muslim, aber kein Islamist. Ich glaube nicht an den Islam als Ideologie. Religiöse Intellektuelle glauben an einen ‚objektiven Säkularismus‘. Das bedeutet, die Trennung von Religion und Staat auf institutioneller, nicht aber auf kultureller Ebene. Der Iran hat eine fundamentalistische Phase durchlaufen. Viele von uns sind heute ‚Post-Fundamentalisten‘ und Anhänger eines minimalistischen Islam.“ Auf die Frage, wo er ein Beispiel für den „objektiven Säkularismus“ sieht, meint Jalaeipur: „Am nächsten kommt dem vielleicht die Türkei unter der neuen AKP-Regierung.“ Dazu meint die muslimische Feministen Abbasqolisadeh: „Da wir hier keinen Laizismus haben, steht der Begriff bei uns für Demokratie. Ich glaube schon, dass sich Islam und Demokratie vereinbaren lassen. Die Schwierigkeit besteht darin, wie man auch die Frauen mit einbezieht, wenn es so weit ist. Das ist etwas ganz Neues.“

Genau dazu können Frauen wie Schirin Ebadi einen wichtigen Beitrag leisten. Mit einem leuchtend blauen Kopftuch bedeckt, empfängt uns Frau Ebadi in ihrer bescheidenen Teheraner Wohnung. Die 56-jährige Anwältin, die sich besonders für Frauen- und Kinderrechte einsetzt, ist noch immer fest überzeugt, dass Reform und Islam miteinander vereinbar sind: „Auf jeden Fall ist in der Verfassung vorgesehen, dass sie, wenn nötig, revidiert werden kann: Es gibt Bestimmungen über einen Volksentscheid und über Gesetzesänderungen. Reformen sind also nicht unmöglich.“ Und zum Thema Frauen meint sie: „Die Frauenbewegung wird von Tag zu Tag stärker, geschlossener und besser organisiert. Iranische Frauen haben heute so viel Wissen und Durchblick, dass sie keine Führer brauchen. Sie sind sich einig, sie sind mutig und sie kennen ihre Probleme. Und sie werden weiter für die Gleichberechtigung der Geschlechter kämpfen.“

Schirin Ebadi bezeichnet sich selbst als Muslimin. Wie Nouzha Guessous in Marokko und vielen anderen ist auch ihr klar, dass eine Grundlage gefunden werden muss, auf der allgemeine Menschenrechte, Demokratie und die islamische Religion einander nicht ausschließen.

deutsch von Elisabeth Wellershaus

* Journalistin, Mitarbeiterin von Le Monde diplomatique, London.

Fußnoten: 1 Bei den Wahlen im Jahr 2000 gewannen die Reformisten noch 70 Prozent der Sitze. Vor den Wahlen 2004 strichen die Hardliner des Wächterrats 2 500 Reformisten von den Kandidatenlisten. Nicht zuletzt deshalb lag die Wahlbeteiligung in Teheran nur bei 28 Prozent (auf nationaler Ebene 50,57 Prozent). Siehe Bernard Houcarde, „Die Zeit arbeitet gegen die Wächter, aber noch nicht schnell genug“, Le Monde diplomatique, Februar 2004. 2 Gemeint ist die von den Vereinten Nationen veranstaltete internationale Konferenz über die Rechte der Frauen, die 1995 in Peking stattfand. 3 Der erste Kalif der Omayaden-Dynastie (657–680) 4 Laut Nadia Yassine haben sich Hunderttausende der Bewegung angeschlossen. Der Islamexperte Mohammed Tozy geht eher von bis zu 20 000 aus. 5 Der Erste hat 1928 die Muslimbruderschaft gegründet, der Zweite ist ein führender Theoretiker der Bruderschaft und wurde 1965 unter Nasser hingerichtet. 6 Siehe Azadeh Kian, „Iranerinnen: Gemeinsam gegen die Mullahs“, Le Monde diplomatique, November 1996. 7 Einige Reformen traten zwischen 1980 und 1990 in Kraft. Damit wurden einige Einschränkungen für Frauen aufgehoben: Seitdem können sie studieren, Verhütungsmittel wurden frei erhältlich, die Scheidungsgesetze wurden reformiert und Frauen bei Gerichten als Beisitzerinnen zugelassen. (Schirin Ebadi hatte ihr Richteramt 1979 verloren.) 8 Texte von Ziba Mir-Hosseni: „The Conservative-Reformist Conflict over Women’s Rights in Islam’, International Journal of Politics, Culture and Society, 16 (1), Boston, Herbst 2002; „Debating Women: Gender and the Public Sphere in Post-Revolutionary Iran“, in: Amyn Sajoo (Hrsg.), „Civil Society in Comparative Muslim Contexts“, London (IB Tauris & Institute of Ismaili Studies) 2002; „Islam and Gender: the Religious Debate in Contemporary Iran“, Princeton University Press 1999 bzw. IB Tauris, London 2000. 9 Die Publikation wurde in den USA mit dem Preis von PEN International und in Großbritannien mit dem Pandora-Preis ausgezeichnet. 10 Weitere führende religiöse Intellektuelle sind Abdol Karim Sorusch und Aliresa Alavitabar.

Le Monde diplomatique vom 08.04.2004, von WENDY KRISTIANASEN