08.04.2004

Kalkül und Wahn

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Kalkül und Wahn

SEIT den 1980er-Jahren hat die Debatte um die „Historisierung“ des Nationalsozialismus einige gravierende Fragen aufgeworfen: Worin genau besteht die Besonderheit des Völkermordes an den europäischen Juden? Und was unterscheidet den Massenmord vom Genozid? Die Antworten können helfen zu klären, ob es theoretisch möglich und moralisch zulässig ist, den industriellen Mord an den Juden mit anderen staatlich organisierten Mordaktionen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen zu vergleichen.

Von JACQUES SEMELIN *

Seit die Vereinten Nationen am 9. Dezember 1948 die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ verabschiedet haben, ist der Begriff „Völkermord“ bzw. „Genozid“ im allgemeinen Sprachgebrauch eingebürgert, und zwar als Inbegriff des absolut Bösen und des extremen Grauens, insofern bei einem Genozid ganze Volksgruppen wehrloser Zivilisten ausgelöscht werden. Der Begriff als solcher wurde 1944 durch den polnischen Juristen Raphael Lemkin geprägt. Seither taucht er bei fast allen Konflikten wieder auf, bei denen es um eine große Anzahl ziviler Toter geht: in Kambodscha, Tschetschenien, Burundi, Ruanda, Guatemala, Kolumbien, Irak, Bosnien und im Sudan.

Auch im Hinblick auf historische Ereignisse hat man rückblickend von „Völkermord“ gesprochen: etwa bei dem Massenmord an den Bewohnern von Milos durch die Athener im 5. Jahrhundert vor Christus, an den Bauern der Vendée im Jahr 1793, an den Indianern in Amerika. Er gilt aber auch für Ereignisse im vorigen Jahrhundert, also für das Schicksal der Armenier (1915) oder der Hungertoten in der Ukraine, in Bezug auf die Deportationen unter Stalin und natürlich für die Vernichtung der Juden wie auch der Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten. Mitunter wird sogar der Abwurf der Atombombe in Hiroshima und Nagasaki als Völkermord bezeichnet.

Immer wenn der Begriff im Zusammenhang eines dieser historischen Ereignisse verwandt wird, kommt es zu heftigen Kontroversen. Doch angesichts der Verschiedenartigkeit der Fälle lässt sich umso deutlicher der Wunsch erkennen, für das einschneidende Phänomen des 20. Jahrhunderts – das Ausradieren ganzer Bevölkerungsgruppen – einen universell gültigen Begriff zu finden. Andere Begriffe wie „Politizid“ und „Demozid“1 , die in den letzten fünfzehn Jahren auftauchten, vermochten sich nicht durchzusetzen. Nach wie vor dominiert der Begriff Völkermord oder Genozid, und seit neuestem gibt es sogar die historische Disziplin Genozidforschung, die sich auch in der Gründung des „Journal of Genocid Research“2 äußert.

Das erste Problem, das der Begriff Völkermord aufwirft, betrifft also die Vielfalt seiner Verwendungen. Ob es um Fragen der Zugehörigkeit, der Moral oder der Politik geht: In all diesen Debatten hat der Begriff seinen Platz und wird ganz unterschiedlich benutzt – ein Thema, das bislang völlig unerforscht ist. Zunächst einmal ist da die Verwendung im Sinne der Erinnerung, etwa, wenn jemand der Welt vermitteln möchte, welcher Art von Gräueltat ein ganzes Volk ausgesetzt gewesen ist. Der Kampf der Armenier um die Anerkennung der Tatsache, dass es sich in ihrem Fall um einen Völkermord handelte, ist ein typisches Beispiel. Eine zweite Verwendung steht im Kontext humanitärer Hilfeleistungen, etwa wenn Nichtregierungsorganisationen vor der Gefahr eines „Völkermordes“ warnen. In diesem Falle soll der Gebrauch des Wortes die Öffentlichkeit alarmieren und so eine Intervention der Internationalen Gemeinschaft provozieren. Schließlich wird die Kategorie auch noch im juristischen Kontext verwendet, etwa wenn nach einer Tat die Verantwortlichen vor einem internationalen Gericht wegen „Verbrechen des Völkermordes“ anklagt werden sollen.

Außerdem kann der Begriff gezielt eingesetzt werden, um den politischen Gegner anzugreifen. Die kosovarischen Serben zum Beispiel erklärten sich bereits Mitte der 1980er-Jahre zu Opfern eines Völkermordes durch die Albaner, und auf der Konferenz von Durban im Jahr 2001 wurde Israel des Völkermordes an den Palästinensern beschuldigt. Man kann also sagen, dass der Begriff grundsätzlich zweierlei Funktionen hat: Er kann einerseits als symbolisches Schutzschild dienen, um den Opferstatus der eigenen Volksgruppe geltend zu machen, und andererseits als Kampfinstrument gegen den ärgsten Feind.

Die Wissenschaftler bieten wenig Hilfestellung, wenn es um die Definition des Begriffs Völkermord geht. Die Bandbreite ist groß: Sie reicht von dem Psychologen Israel Charny, der jeden Massenmord (auch den von Tschernobyl) als Völkermord bezeichnet, bis zu dem Historiker Stephan Katz, der nur einen einzigen Völkermord gelten lässt, nämlich den an den europäischen Juden.

Auch über die Bedeutung der UN-Definition gehen die Meinungen auseinander. Einige akzeptieren die Konvention von 1948 als Arbeitsgrundlage und versuchen sogar, sie ins „Soziologische“ zu übertragen, so etwa die Amerikanerin Helen Fein. Die Mehrzahl der bahnbrechenden Studien über den Genozid bezieht sich weitgehend auf die Völkermord-Konvention. Es gibt aber auch Autoren, die argumentieren, dass soziologische, historische und andere Untersuchungen nicht auf rechtlichen, das heißt normativen Vorgaben aufbauen dürfen, weshalb sie genocide studies als sozialwissenschaftliche Untersuchungen anlegen wollen. Deshalb beginnen sie meist mit einer Analyse des konkreten Mordgeschehens (zumeist kollektive Aktionen zur Vernichtung von Nichtkombattanten), um dann der Frage nachzugehen, unter welchen Umständen ein Massenmord zum Völkermord werden kann.

Ein weiteres Problem: In der Konvention von 1948 geht es um die „Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Volksgruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Doch gerade die Frage der Absicht ist bei historischen Ereignissen schwer zu klären: Bestimmte Ereignisse, so schrecklich sie waren, scheinen nicht „gewollt“ gewesen zu sein, wie etwa die Hungersnot in den Jahren 1958 bis 1962 in China, die zwischen 20 und 43 Millionen Menschen das Leben kostete. Bislang vermochte niemand nachzuweisen, dass Mao mit seiner Wahnsinnsidee des „Großen Sprungs nach vorn“ das Volk vernichten wollte. Dieses Massensterben geht letztlich eher auf die Rigidität, den voluntaristischen Utopismus und die ökonomische Inkompetenz der Partei zurück.

Anders ist es bei der Hungersnot in der Ukraine von 1932/33 (6 bis 7 Millionen Tote). Hier ist die verbrecherische Absicht Stalins deutlicher erkennbar. Moskau wollte damals zweifellos jeden Widerstand (gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft) unterdrücken. Gegen die These vom Völkermord wird vielfach eingewandt, Stalin habe nicht die Absicht gehabt, die Ukrainer als Volksgruppe umzubringen, denn auch andere Bevölkerungsgruppen (wie beispielsweise die Kosaken) wurden durch den Hunger dezimiert. Wie dem auch sei – der Historiker läuft stets Gefahr, zum Ankläger zu werden, der mit aller Gewalt den Nachweis erbringen will, dass alles von langer Hand geplant war, obwohl Geschichte im Wesentlichen aus dem Zusammenspiel von Zufällen und ungewissen Umständen besteht, also nicht linear verläuft.

Von derartigen Divergenzen abgesehen sind sich die Forscher jedoch in einem Punkt einig: Sie glauben, dass die Disziplin der genocide studies nur durch vergleichende Studien weiterzuentwickeln ist. Zwar wird immer wieder der Vorwurf mangelnder methodischer Stringenz laut, zumal wenn die verglichenen Ereignisse stark divergieren, doch schon seit zehn Jahren werden immer wieder interessante Gemeinschaftsarbeiten publiziert, die verschiedene Fallstudien zusammenbringen3 . Bei allen Vergleichen wird deutlich, wie einzigartig jedes einzelne historische Ereignis ist, und doch lassen sich eine Reihe gemeinsamer Fragestellungen herausarbeiten, etwa die, wie es am Ende zur konkreten Mordtat kommen kann.

Gemeinsamer Bezugspunkt all dieser Studien sind zumeist Untersuchungen über den nationalsozialistischen Völkermord, allen voran Christopher Brownings Studie „Ganz normale Männer“4 . Ob es um Kambodscha, Ruanda oder Bosnien geht, immer steht der Forscher vor denselben Fragen, und immer gilt es, mit unterschiedlichen Interpretationsansätzen das Rätsel zu lösen, wie genau der Schritt zur Tat, zum Massenmord also, erfolgt ist.

Soll man etwa der Ideologie eine so entscheidende Rolle zugestehen, oder allgemeiner gesprochen: Ist der Massenmord durch politische Ideen wie die Ablehnung des „Anderen“ geprägt? Auch wenn man weiß, welche Rolle Intellektuelle bei der Erfindung der Feindbegriffe und Feindbilder gespielt haben, kann man den Entschluss zur (bösen) Tat nicht hinreichend aus der Existenz derartiger intellektueller Raster ableiten, so sehr sie auch als Vehikel gewirkt haben dürften. Man muss vielmehr auch das Kalkül hinter dem Mordgeschehen bedenken, das heißt: Die kalte Entscheidung (oder auch Entscheidungskette) einer kleinen Gruppe von Amtsträgern, Menschen umzubringen, ist oftmals eine bewusste Strategie, die auf die Aneignung eines Territoriums zielt oder auf die Homogenisierung und Dezimierung der Bevölkerung oder auch einfach auf Machterhalt.

Aber läuft man dabei nicht Gefahr, die irrationale Dimension der Morde bzw. des Genozids beiseite zu schieben? Schließlich haben diese Taten auch und gerade in ihrer Fixierung auf Homogenität und Reinheit auch einen wahnhaften Aspekt. Genozidforschung ist notwendig interdisplinär – sie vereinigt Psychopathologie und Geschichte, Politikwissenschaft und Anthropologie. Doch sie muss nicht alles Schritt für Schritt herleiten oder erklären können. Und noch eine Frage zieht sich durch die gesamte Forschung: Handelt es sich bei den Staaten, die solche Morde befehlen oder begehen, um schwache oder starke Staaten? Da der Massenmord eines großen Propaganda- und Vernichtungsapparates bedarf, liegt die Vermutung nahe, dass nur starke Staaten Völkermord begehen. „Macht tötet“, sagt der Soziologe Rudolf J. Rummel aus Hawai, „uneingeschränkte Macht tötet uneingeschränkt.“5

Doch sobald die Wissenschaftler den Kontext und das internationale Beziehungsgeflecht der jeweiligen Mörderstaaten untersuchen, stellen sie fest, dass die Staaten, wie mächtig sie auch sein mögen, machtpolitisch in einer eher prekären Situation sind, was den Vernichtungswillen befördern dürfte. Durch Kontextanalysen wird die These vom starken Staat also in vieler Hinsicht abgeschwächt.

Historiker wie Philippe Burrin oder Christian Gerlach6 haben darauf hingewiesen, dass die im Dezember 1941 beschlossene „Endlösung“ im Kontext ihrer Zeit gesehen werden muss, denn ungefähr im Dezember 1941 dürfte den Nazis klar geworden sein, dass der Krieg gegen die Sowjetunion nicht zu gewinnen war. Hitler, so die Argumentation, habe im Bewusstsein der bevorstehenden Niederlage, das durch den Kriegseintritt der USA nach der Bombardierung von Pearl Harbor (6. Dezember 1941) noch verstärkt wurde, zumindest bei seinem zweiten grundlegenden Ziel die Oberhand behalten wollen: bei der geplanten Vernichtung des jüdischen Volkes.

Im Fall Armenien liegen die Dinge ähnlich: Kurz vor dem Massaker hatten die Russen den Türken eine schwere Niederlage beigebracht, und die Regierung der „Jungtürken“ sah damals in den Armeniern die Bundesgenossen Russlands. So gesehen kann man behaupten, dass Massaker von schwachen Staaten oder zumindest angeschlagenen Staaten begangen werden, die glauben, dass sie, um den Krieg zu gewinnen, einen Teil der Zivilbevölkerung umbringen müssen.

Es gehört zu den Hauptaufgaben heutiger sozialwissenschaftlicher Forschung, sich genaue Kenntnis über die Gewaltakte zu verschaffen, die dem einzelnen Massenmord oder Völkermord vorausgehen. Anfang des 20. Jahrhunderts lag der Prozentsatz der Opfer, die Kriegshandlungen unter der Zivilbevölkerung forderten, bei etwa 10 Prozent. Am Ende des 20. Jahrhunderts hatte sich die Proportion verkehrt: 80 bis 90 Prozent der Opfer kriegerischer Konflikte sind Zivilisten.

Ein derartiger Forschungsaufwand hat enorme praktische Implikationen. Zu allererst hinsichtlich der Frage, wie die Länder, in denen die Morde stattgefunden haben, die Zukunft sehen. Oft gibt es ein großes Gefälle zwischen den Haltungen internationaler Experten, die zur „Versöhnung“ aufrufen, und den Menschen vor Ort, für die eine solche Versöhnung unvorstellbar ist, weil die Ereignisse viel zu tiefe traumatische Verletzungen hinterlassen haben. Wer in solchen Ländern Frieden schaffen will, muss zuallererst diese Traumata berücksichtigen, anstatt den Menschen vor Ort von außen irgendwelche „Post-Konflikt“- Strategien aufzuzwängen.

Hinzu kommen äußerst praktische Überlegungen über die Vorkrisenzeit: Gibt es eine Möglichkeit, einen Völkermord zu verhindern? Und wenn ja: Unter welchen Bedingungen? Einige glauben an ein Frühwarnsystem, das genozidäre Tendenzen vorweg ausmachen sollte, sodass man die bedrohte Bevölkerung jeweils rechtzeitig in Sicherheit bringen könnte. Doch solange Staaten, von den eigenen egoistischen Interessen verblendet, keinen politischen Willen entwickeln, entsprechend aktiv einzugreifen, bleiben derartige Vorschläge zur Massenmord-Prävention fromme Wünsche.

Umso bedeutender ist die Arbeit von Journalisten und Nichtregierungsorganisationen. Denn sie können zumindest gewährleisten, dass die internationale Öffentlichkeit keine derartige Tragödie totschweigt – wie es etwa in Tschetschenien immer wieder zu geschehen droht. Allerdings, und das darf nicht vergessen werden, sind es viele Menschen leid, über die Medien ständig mit solchen Dramen „behelligt“ zu werden. Dabei ist das „Nie wieder!“ immer noch so nötig, wie das Gespenst des Völkermords gegenwärtig ist.

deutsch von Marie Luise Knott

* Forschungsdirektor am CNRS (CERI) und Professor für Politikwissenschaft. Zuletzt erschien: „Analyser le massacre. Réflexions comparatives“, Paris (CERI) 2002.

Fußnoten: 1 Siehe „Lexikon der Völkermorde“, Gunnar Heinsohn (Hg.), Reinbeck (Rowohlt) 1998. 2 Journal of Genocide Research, gegründet 1999 von dem Historiker Henry Huttenbach, www.tandf.co.uk/journals, siehe auch seit 1999 in Deutschland Zeitschrift für Genozidforschung, hg. vom Institut für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhruniversität Bochum, Wilhelm Fink Verlag. 3 So in jüngerer Zeit der Band von Ben Kierman und Robert Gellately, „The Specter of Genocide: Mass Murder in a Historical Perspective“, Cambridge University Press 2003. 4 Christopher Browning, „Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die Endlösung in Polen“, Reinbek (Rowohlt) 1993. 5 Rudolf J. Rummel, „Demozid – der befohlene Tod. Massenmorde im 20. Jahrhundert“, mit einem Vorwort von Jehuda Bauer, Wissenschaftliche Paperbacks Nr. 12, Münster (Lit Verlag) 2003. 6 Siehe Philippe Burrin, „Warum die Deutschen? Über Antisemitismus, Nationalsozialismus und Genozid“, aus dem Franz. von Michael Bischoff, erscheint in diesem Herbst bei Propyläen. Ferner: Christian Gerlach, „Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg“, Berlin 1998.

Le Monde diplomatique vom 08.04.2004, von JACQUES SEMELIN