08.04.2004

Die doppelte Vernichtungsstrategie

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Die doppelte Vernichtungsstrategie

Von ALAIN GRESH

DER Psychiater Eiad Serradsch gehört zu den angesehenen Persönlichkeiten in Gaza. In seiner Praxis finden die Opfer der Gewalt Hilfe: traumatisierte Kinder, Frauen, die von ihren Männern verprügelt werden, Männer, die der Krieg in den Wahnsinn treibt. Sein entschiedenes Eintreten für die Menschenrechte hat ihm die Palästinensische Autonomiebehörde bereits mehrfach mit Verhaftungen gedankt. Am 22. März, kurz nach der Ermordung des geistlichen Führers von Hamas, Scheich Jassin (mit dem er persönlich bekannt war), gab Serradsch folgende Erklärung ab: „Scheich Jassin war bereit gewesen, den Konflikt zu beenden, einen palästinensischen Staat an der Seite Israels zu akzeptieren und dafür den Traum von einem islamischen Staat in ganz Palästina aufzugeben. Nichts lag ihm mehr am Herzen als die Beendigung der israelischen Besatzung. Im Sommer des vergangenen Jahres spielte er eine zentrale Rolle bei der Entscheidung von Hamas, einen einseitigen Waffenstillstand für zwei Monate zu beschließen.“ Und weiter: „Die Ermordung Jassins ist einer der letzten Nägel im Sarg der Palästinensischen Autonomiebehörde, die Scharon Schritt für Schritt ausgeschaltet hat […]. Ein Triumph für die Anhänger der Vernichtungsstrategie.“ Israel, Palästina und vielleicht dem gesamten Nahen Osten droht eine tödliche Eskalation.

Vor drei Jahren hat Ariel Scharon die Parlamentswahlen gewonnen und die Bemühungen seines Vorgängers Ehud Barak wie eine Fußnote der Geschichte wirken lassen. Sein Wahlversprechen von damals: Frieden und Sicherheit. Dass die Israelis dem alten Anführer der Rechten die Stimme gaben, lag an der traumatischen Erfahrung der zweiten Intifada – die im September 2000 durch Scharons „Besuch“ auf dem Tempelberg ausgelöst wurde. Offenbar interessierte es nicht mehr, dass Scharon durch die Verwicklung in Kriegsverbrechen kompromittiert war, vor allem durch seine Rolle beim israelischen Einmarsch in den Libanon 1982 und die Massaker von Sabra und Schatila. Man wollte seinen Versprechungen glauben. Und zu dieser Zeit waren die Selbstmordattentate noch keineswegs typisch für die Intifada.

Aber dem Likud-Chef geht es in erster Linie nicht um die Sicherheit der Israelis. Sein oberstes Ziel ist es, Schritt für Schritt die Folgen der Oslo-Verträge rückgängig zu machen. Scharon ist im Jahr 2000 längst nicht mehr der hitzköpfige General, der einst die Panzer auf Beirut vorrücken ließ. Er hat aus seinen Fehlern von 1982 gelernt, achtet sorgsam darauf, das israelische Volk nicht zu spalten und die strategischen Beziehungen zu den USA nicht zu gefährden. Seine Ziele sind die gleichen geblieben.

Der Staatsmann Scharon beweist tatsächlich diplomatische Geschmeidigkeit, erklärt seine Bereitschaft zu „schmerzhaften Zugeständnissen“ und versäumt nicht die regelmäßige Abstimmung mit der US-Regierung. Er lässt sich sogar die Zustimmung zu jenem „Fahrplan zum Frieden“ (Roadmap) abringen, den die USA am 30. April 2003, unmittelbar nach ihrem Feldzug im Irak, als Produkt des Nahost-Quartetts (USA, Russland, Europäische Union, Vereinte Nationen) vorstellten.

Diese „Roadmap“ sieht die Schaffung eines palästinensischen Staates bis 2005 vor. Der Weg dorthin soll in drei Etappen zurückgelegt werden. In der ersten Phase wird von den Palästinensern gefordert, erneut das Existenzrecht und die Sicherheitsinteressen Israels anzuerkennen und der Gewalt abzuschwören; zugleich sollen sie eine grundlegende Reform der Autonomiebehörde vornehmen und einen Ministerpräsidenten mit erweiterten Befugnissen ernennen. Gleichzeitig wird von den Israelis erwartet, dass sie die Entstehung des Palästinenserstaats unterstützen, die Ausgangssperren und Reisebeschränkungen aufheben, die Repressalien gegen die Bevölkerung und die Beschlagnahmung oder Zerstörung von Wohnhäusern beenden. Israel soll seine Truppen schrittweise aus den seit dem 28. September 2000 erneut besetzten Gebieten zurückziehen, und nicht zuletzt wird ein Siedlungsstopp gefordert: Keine neuen Kolonien – auch nicht im Rahmen des „natürlichen Wachstums“ – und der Abbau der so genannten illegalen Siedlungen, also jener Kolonien, die ohne Erlaubnis der Regierung entstanden sind.

Während die Autonomiebehörde eine gewisse Reformbereitschaft zeigt, indem sie das Amt eines Ministerpräsidenten schafft und eine strenge staatliche Finanzaufsicht einführt, lässt die israelische Seite jede Kooperation vermissen. Scharon ist weder bereit, die Besatzungstruppen auf ihre Stellungen vor Beginn der Intifada zurückzubeordern, noch zeigt er sich gewillt, die illegalen Siedlungen aufzulösen und die Abriegelung der palästinensischen Enklaven aufzuheben. Unter diesen Umständen fehlt dem neuen palästinensischen Ministerpräsidenten Mahmud Abbas (Abu Masen) – der zum gemäßigten Flügel der Führung gehört – jeder innenpolitische Spielraum: Er tritt am 10. September 2003 zurück, sein Nachfolger wird Ahmed Kurei (Abu Ala). Ein am 29. Juni von allen militanten palästinensischen Organisationen (einschließlich Hamas und Islamischer Dschihad) beschlossener einseitiger Waffenstillstand hat nicht lange Bestand, weil Israel seine Politik der gezielten Tötungen fortführt. Scharon liegt offensichtlich nichts daran, der Spirale von Selbstmordanschlägen und staatlichem Gegenterror ein Ende zu setzen.

Der israelische Ministerpräsident lässt sich nicht beirren: Es bleibt sein erklärtes Ziel, die Palästinenser zur Aufgabe zu zwingen, zum Verzicht auf jede Form von Widerstand. Die israelische Armee führt einen Schlag nach dem anderen: Systematische Zerstörung der Infrastruktur in den Palästinensergebieten, Flächenbombardements von Flüchtlingslagern, Angriffe auf Krankenhäuser, Vernichtung aller Grundlagen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. Es geht vor allem darum, die Autonomiebehörde und ihren Präsidenten Jassir Arafat auszuschalten.

Erst im Sommer 2003, nachdem sie die Autonomiebehörde weitgehend handlungsunfähig gemacht hat, beginnt die israelische Führung, gezielt gegen Hamas vorzugehen. Konnte man unter diesen Umständen noch erwarten, dass sich die palästinensischen Gruppierungen auf eine Waffenruhe einigen würden, um der Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen eine Chance zu geben? Am 21. August 2003 wurde Ismail Abu Schanab, ein Führungsmitglied der islamistischen Bewegung, Opfer eines israelischen Mordanschlags – ein „schwerer Verstoß“ gegen die vierte Genfer Konvention. Nun herrschte erneut die Logik der Gewalt.

Scharon hofft noch immer, den Palästinensern jene „langfristige Lösung“ aufzwingen zu können, die er seit 1989 propagiert: Palästina als ein Gebilde aus isolierten „Bantustans“, umschlossen von jüdischen Siedlungen. Darin soll, nach dem Vorbild kolonialer Herrschaftspraktiken, die „autochthone“ Bevölkerung ihre lokalen Angelegenheiten regeln dürfen. Souveränität ist nicht vorgesehen, aber Scharon wäre so gnädig, diese vollständig abhängigen Gebietseinheiten als „Staat“ zu bezeichnen.

Zu diesem Konzept gehört auch der „Sicherheitszaun“, eine Grenzmauer, deren Ausbau unter der Regierung Scharon vorangetrieben wird. Offiziell als Schutzwall deklariert, zielt das Vorhaben vor allem darauf, die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland in Ghettos einzuschließen. Die Wallanlagen durchschneiden palästinensisches Gebiet, bewirken eine unwiderrufliche Zerstörung des Ökosystems und ermöglichen Israel den Zugriff auf Wasservorräte. Sie isolieren Jerusalem und das Jordantal und dürften bis im Jahr 2005 das Westjordanland in drei abgeschottete Zonen zerteilen. Dieses Vorhaben war für die USA kein Grund, Scharon ihre Gunst zu entziehen. Und die Europäische Union hat sich auf wohlgemeinte Protestnoten beschränkt. Die Palästinenser müssen sich verraten vorkommen, den andauernden straflosen Völkerrechtsverletzungen Israels ausgeliefert.

Nachdem die „Roadmap“ Makulatur war, brachte Scharon die Idee eines vollständigen Rückzugs aus Gaza auf. Damit soll vor allem die kriegsmüde israelische Bevölkerung beruhigt werden, die mehrheitlich den Rückzug aus den besetzten Gebieten und den Abbau der Siedlungen wünscht. Der Gaza-Streifen, in dem einige tausend Siedler unter mehr als einer Million Palästinensern leben, war für die Besatzungsmacht stets ein Albtraum. Nun schlägt Scharon den Rückzug vor – aber nicht sofort, sondern frühestens 2005. Und natürlich nicht umsonst, sondern um den Preis, dass die USA Israel den Fortbestand der großen Kolonien zugestehen.

In der israelischen Regierungskoalition hat der Plan heftige Kontroversen ausgelöst. Auch im Militär regt sich Widerstand: Man befürchtet ähnliche Folgen wie nach dem überstürzten Rückzug aus dem Libanon im Mai 2000 – am Ende könnte Hamas als große Siegerin dastehen. Scheich Jassin hat bereits am 17. März auf der Website von Hamas erklärt, er werde nach einem vollständigen Rückzug Israels alle militärischen Operationen aus dem Gebiet von Gaza unterbinden, und zwischen den palästinensischen Gruppierungen wird zweifellos ein Machtkampf um die Vorherrschaft in Gaza entbrennen. Mit der Ermordung des Hamas-Gründers hat sich die Situation verschärft, aber Scharon dürfte das gelegen kommen, denn er setzt auf die Eskalation. Den Preis für diese wahnwitzige Politik, deren Folgen nicht nur den Nahen Osten treffen könnten, zahlen wie immer die Menschen in Israel und Palästina. Eiad Serradsch hatte Recht: „Ein Triumph für die Anhänger der Vernichtungsstrategie.“

deutsch von Edgar Peinelt

Le Monde diplomatique vom 08.04.2004, von ALAIN GRESH