Todesursache ungeklärt
SUIZID IM STRAFVOLLZUG
Von JÉRÔME ERBIN *
IN französischen Gefängnissen werden jedes Jahr über hundert Selbstmorde von der Strafvollzugsverwaltung (Administration Pénitentiaire, AP) registriert. Fast alle drei Tage ein Freitod: siebenmal mehr als draußen. Betroffen sind vorwiegend Häftlinge mit kurzen Strafen, Untersuchungsgefangene, jugendliche Immigranten und Kranke.
Als Gründe werden gewöhnlich Verzweiflung, die Haftbedingungen und überalterte Infrastrukturen angeführt. Das ist praktisch. Die Verzweiflung verweist das Individuum auf seine eigene Schuld, während über die Überalterung allerorten geredet wird: ein Modethema. Zeugenaussagen, Dokumentationen und parlamentarische Untersuchungsberichte haben die Missstände ans Licht gebracht. Sie sind allgemein bekannt, und es gibt nichts daran zu deuteln. Und genau da liegt das Problem.
Die pragmatische Regierung Raffarin kann die Angelegenheit getrost dem für die Bauvorhaben der Justiz zuständigen Staatssekretär Pierre Bédier überlassen, dessen Programm bis 2007 13 200 neue Haftplätze durch den Bau von 28 neuen und den Umbau bestehender Haftanstalten vorsieht.1 Die Frage der „Unsicherheit“ im Strafvollzug wird durch die Einstellung von mehr Gefängnispersonal gelöst.
Problematisch an den Selbstmordstatistiken ist zum einen, dass Gefangene, die außerhalb der Mauern – etwa im Krankenhaus – sterben, nicht mitgezählt werden, und zum anderen, dass sich die Justizverwaltung wohlweislich hütet, ihre makabere Gesamtrechnung detailliert, Gefängnis für Gefängnis zu erstellen, und größtmögliche Undurchsichtigkeit bezüglich der Todesumstände der Betreffenden herrscht.
Möglicherweise wären exakte Ergebnisse höchst unangenehm und kaum mit bloß materiellen Missständen im Strafvollzug oder der berühmten Verzweiflung zu rechtfertigen. Man würde feststellen, dass es erstaunliche Unterschiede von einem Gefängnis zum anderen gibt und dass der pauschale Begriff „Haftbedingungen“ ganz verschiedene Situationen bezeichnen kann. Wenn man weiß, wie viele Selbstmorde durch das prompte Eingreifen des Gefängnispersonals verhindert worden sind, ist die Reaktionslosigkeit in anderen Fällen und an anderen Orten umso erstaunlicher.
Im Hinblick auf selbstmordgefährdete Häftlinge klagt die Justizverwaltung ständig über Personalmangel. Wenn der Staat also nach eigenem Bekunden nicht die Mittel hat, gefährdete Menschen am Suizid zu hindern, wie kann man ein Strafvollzugssystem rechtfertigen, das mit einer wirklichen psychologischen Betreuung unvereinbar ist? Im Übrigen verweist die Gefängnisverwaltung häufig auf die Gewalt der Häftlinge untereinander, Schutzgelderpressung und Ähnliches. Die gibt es gewiss. Aber die Verwaltung übersieht systematisch andere Faktoren: Verlegungen, durch die gefängnisinterne Beziehungen zerstört und die Häftlinge oft noch weiter von ihren Familien entfernt werden; Unterbringung in Isolationshaft, die ja als eine Art Folter gilt; Verweigerung von Besuchserlaubnissen oder bedingter Haftentlassung, in die ein Inhaftierter seine ganze Hoffnung gesetzt hat; Schikanen mancher Aufseher, die alltäglichen Gemeinheiten und Quälereien. Alles, was getan wird, um Individuen zu brechen und gefügig zu machen.
Abgesehen von dem Zynismus und der Gleichgültigkeit, die den Umgang der Strafvollzugsverwaltung mit Selbstmorden charakterisieren, müssen die Familien, wenn die Todesumstände eines Angehörigen verdächtig erscheinen, regelrecht kämpfen, um auch nur die geringste Information zu erhalten.
„Mein Bruder Belgacem war neunzehn Jahre alt“, berichtet Nadia Soltani. „Er saß wegen Beamtenbeleidigung ein und verbüßte eine Strafe von sieben Monaten, etwas weniger als fünf Monate, wenn man den Straferlass abzieht. Er starb unter merkwürdigen Umständen einen Monat vor seiner Entlassung.“ Als die Familie zur Identifizierung des Toten ins Gefängnis kam, entdeckte sie am Leichnam des jungen Mannes zahlreiche Spuren von Misshandlungen. „Bei seiner letzten Verlegung wurde er, kaum in Tarbes angekommen, in Einzelhaft genommen und nach einem Streit mit den Wächtern geschlagen. […] Am nächsten Tag soll er aufgehängt an einem Gitter seiner Zelle gefunden worden sein. […] Wie soll die bloße Anwendung ,unverzichtbarer Gewalt‘2 die gebrochene Nase, den gebrochenen Kiefer und den eingeschlagenen Schädel erklären, die Beulen, Schnittwunden und Spuren von Tritten, darunter Abdrücke beschlagener Schuhsohlen, mit denen sein Körper übersät war?“
Seit der Gründung der Beobachtungsgruppe für Selbstmorde und verdächtige Todesfälle in Haft3 werden immer mehr solche Fälle bekannt – belegt durch Fotos, Briefe, Zeugenaussagen von Mitgefangenen oder Familienmitgliedern –, die eigentlich sofort ernsthafte und unabhängige Untersuchungen nach sich ziehen sollten. Es finden zwar Untersuchungen statt, aber die Ergebnisse bestätigen regelmäßig die offizielle Version, sogar wenn die von den Ermittlern selbst festgestellten Fakten nicht ins Bild passen. Bei der Rekonstruktion des „Selbstmordes“ von Belgacem Soltani beispielsweise musste „der Direktor auf einen Stuhl und ein Wärter auf die Schultern des Direktors steigen, um mit ausgestrecktem Arm das Gitter zu erreichen (an dem Belgacem sich erhängt haben sollte), und auch das nur unter größten Schwierigkeiten, denn der Vorgang musste dreimal wiederholt werden“. Zum Zeitpunkt der Tat war nicht einmal ein Stuhl in der Zelle. Es gab auch „keinen Abdruck des Lakens um den Hals […], nicht einmal einen Abdruck des Knotens, der doch bezeichnend für das Erhängen ist“, fügt seine Schwester hinzu. Nur Spuren äußerer Gewalteinwirkung waren sichtbar.
Es geht hier nicht darum, die Strafvollzugsverwaltung oder ihr Personal in Bausch und Bogen zu verurteilen. Es sollen nur Fälle aufgezeigt werden, in denen die Beweise so offenkundig sind, dass man sie nicht einfach unter den Teppich kehren kann. „Um zu erreichen, dass eine ordnungsgemäße Untersuchung durchgeführt wurde und wir alle Ergebnisse, Berichte und Zeugenaussagen bekamen, mussten wir vor dem Gericht und der Haftanstalt demonstrieren. […] Belgacem konnte erst fünf Monate nach seinem Tod beerdigt werden.“
Die betroffenen Familien, die nur selten Unterstützung finden, organisieren sich nun, um für ihr Recht zu kämpfen. „Für uns war es das Wichtigste, alle Dokumente zu bekommen, um den Rechtsweg in Frankreich ausschöpfen und mit tauglichen Beweisen vor europäische Gerichte gehen zu können. Wir schulden Belgacem die Wahrheit, und eines Tages wird ihm Gerechtigkeit widerfahren. Denn wenn Frankreich die Wahrheit leugnet, werden andere sie aufgrund der Beweise an den Tag bringen.“4 Es ist dringend erforderlich, dass der Staat die Praktiken des Strafvollzugs offen legt. Die vom Justizministerium eingesetzte Kommission unter Leitung von Jean-Louis Terra muss eine vollständige Liste der Orte erstellen, an denen Selbstmorde von Inhaftierten vorgekommen sind, und jeden zweifelhaften Fall genauestens untersuchen.
deutsch von Grete Osterwald
* Mitglied der Vereinigung Ban Public (www.Prison.eu.org).