13.06.2003

Gitarrensaiten und andere Übertragungswege

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Gitarrensaiten und andere Übertragungswege

DIE Vereinigten Staaten sind Weltspitze, was die Zahl ihrer Häftlinge pro Einwohner angeht. Wo so viele Menschen hinter Gitter wandern, wird der Strafvollzug besonders teuer. Nicht zuletzt weil sich im Knast Krankheiten wie Hepatitis C und Aids rasch ausbreiten. Obwohl – oder gerade weil – Drogenkonsum und Tätowierungen verboten sind, kursieren Spritzbesteck oder Tattoonadeln, die gemeinsam gebraucht werden. Außerdem haben die sozial Schwachen allen Grund, auf die vergleichsweise zuverlässige medizinische Versorgung im Gefängnis zu setzen. Draußen haben sie nämlich überhaupt keine.

Von MEGAN COMFORT

Wer in den Vereinigten Staaten aus einem Gefängnis entlassen wird, trägt für gewöhnlich nur seine Kleider auf dem Leib, und er hat das so genannte gate money bei sich, das sind im Allgemeinen zwischen 2 und 200 Dollar. Dazu kommt das Kleingeld für die Fahrt mit dem Bus oder der Bahn, die den Entlassenen an seinen gesetzlich zugewiesenen Aufenthaltsort bringt.

Neben ihrer spärlichen Habe tragen viele ehemalige Sträflinge allerdings noch etwas ganz anderes mit sich: Nach dem Bericht der National Commission on Correctional Health Care für das Jahr 2002 („The Health Status of Soon-to-be-released Inmates“) haben im Berichtsjahr schätzungsweise 1,3 Millionen Häftlinge die staatlichen Gefängnisse mit einer Hepatitis-C-Infektion verlassen. 137 000 ehemalige Insassen sind HIV-infiziert, und 12 000 haben Tuberkulose. Die Strafentlassenen machen somit jeweils 29 Prozent (Hepatitis C), 13 bis 17 Prozent (HIV) und 25 Prozent (Tuberkulose) aller infizierten US-Amerikaner aus.1

So erschreckend die Zahlen über Hepatitis- und HIV-Infektionen auch sein mögen, erstaunlich sind sie nicht. Denn der illegale Konsum von Injektionsdrogen, Prostitution und körperliche Gewalt sind zum einen nicht selten der Grund für die Verhaftung, und sie begünstigen zum anderen bekanntlich die Ausbreitung von sexuell oder über das Blut übertragbaren Krankheiten. Wenn im Gefängnis dann infizierte Straftäter auf nicht infizierte treffen, stehen noch weniger Möglichkeiten der Prävention zur Verfügung als außerhalb. Und da Homosexualität, Drogenkonsum und Gewalt in den Strafanstalten der Vereinigten Staaten gesetzlich untersagt sind, werden auch Spritzen, Nadeln, Lösungsmittel oder Kondome zur verbotenen Schmuggelware. Mitunter kann es sogar schwierig sein, an sauberes Wasser heranzukommen, um Spritzen und Nadeln auswaschen zu können.

Das zwingt die Häftlinge zum Improvisieren: Man behilft sich mit nicht unbedingt „professionellem“ Injektionsbesteck und lässt die wenigen äußerst begehrten Nadeln – zumeist raffiniert umfunktionierte Tintenpatronen, Strohhalme oder Gitarrenseiten – die Runde machen. Ungeschützter Sex, ob freiwillig oder mit Gewalt erzwungen, ist keine Seltenheit, weil es im Knast keine Kondome gibt. Auch bei normalerweise harmlosen Praktiken wie Tattooing und Piercing ist das Ansteckungsrisiko unter Gefängnisbedingungen deutlich erhöht. Da diese Praktiken ebenfalls illegal sind, werden die dafür erforderlichen Instrumente von Gefängnisinsassen gehortet und oft gemeinsam genutzt – womit ebenfalls ein erhöhtes Ansteckungsrisiko durch HI-Viren und Hepatitis-C-Erreger verbunden ist.

Körperschmuck ist im Gefängnis besonders wichtig. Er besitzt einen ausgeprägten Ritualcharakter, da „Tattoos eine bleibende Identität darstellen, die den Inhaftierten auch von der Gefängnisverwaltung nicht genommen werden kann. Tattoos stehen also für ein positives Selbstwertgefühl in einer negativ besetzten Umwelt.“2 Außerdem machen Körperschmuck und Tattoos den Einzelnen im Gefängnis auf Anhieb identifizierbar, sie gewährleisten die Abgrenzung zwischen den verschiedenen Gangs, stehen also für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe in einer Umgebung von lauter Fremden.3

Alle Aktivitäten, zu denen Injektionsnadeln gebraucht werden, sind in den Gefängnissen verboten. Sie werden entweder überhaupt nicht registriert oder unterschätzt. Forschungsergebnisse lassen allerdings vermuten, dass die Zahl der Insassen, die sich tätowieren lassen, größer ist als die der Drogenkonsumenten. Vermutlich sind deshalb Tattoos die Hauptquelle aller HIV- und Hepatits-C-Infektionen in den Strafanstalten.4

Viele der Gefängnisinsassen wissen wenig oder gar nichts über die Übertragungswege, die Prävention oder über die Behandlung von Infektionskrankheiten und hatten vor ihrer Inhaftierung keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. In den Vereinigten Staaten gibt es eine gesetzliche medizinische Versorgung nur für diejenigen, die eine feste Anstellung bei einem Arbeitgeber haben, der Krankenversicherungen zu erschwinglichen Beiträgen garantiert. Kostenfreie medizinische Behandlung bekommen nur die Bedürftigen, Drogenabhängige und psychisch Kranke jedoch nicht. Paul Farmer und Barbara Rylko-Bauer kommen zu folgender Einschätzung: „Das bestehende US-Gesundheitssystem ist mit der Zeit zu einem Nichtsystem geworden, es ist ein pures Produkt des Zufalls, im Grunde ein Patchwork: unsystematisch, fragmentarisch und ineffizient.“5 Viele Menschen, die ihren Strafvollzug antreten, wissen gar nicht, dass sie eine ansteckende Krankheit haben, weil deren Symptome nie behandelt wurden oder weil sie sich selbst keiner Risikogruppe zurechnen.

Bei Haftantritt wird jeder Häftling auf diverse Infektionskrankheiten wie Tuberkulose oder Syphilis untersucht. Während der Haft folgen in regelmäßigen Abständen die entsprechenden Routineuntersuchungen. HIV oder Hepatitis werden dabei nicht automatisch mitgetestet. Wenn ein Häftling diese Prozeduren nicht erklärt bekommt oder nicht gut genug Englisch spricht, um zu verstehen, welche Untersuchungen an ihm vorgenommen werden, und ihm aber gleich mehrere Kanülen Blut abgenommen werden, nimmt er womöglich an, er würde unter anderem auch auf HIV und Hepatitis getestet. Wer nie eine Rückmeldung über einen positiven Befund erhalten hat, geht selbstverständlich davon aus, dass alles in Ordnung sei. Dabei ist es durchaus möglich, dass sein Blut noch nicht einmal getestet wurde.

Die Situation verschärft sich noch durch ungeeignete oder nicht zugelassene medizinische Instrumente und Verfahren. Ein kalifornisches Labor fälschte in den 1990er-Jahren die Ergebnisse von tausenden von Sträflingen. Der Skandal flog 1996 auf, als misstrauische Gefängnisangestellte die groben Fehler in den Berichten des Labors auffielen. Daraufhin durchsuchten Beamte des kalifornischen Gesundheitsministeriums das Gebäude und „fanden lauter nicht getestete Proben, […] ein völlig chaotisches Labor mit kaputten Testgeräten ohne Kalibrierung, in dem es nicht einmal die nötigen Reagenzgläser für Blut- oder Urinproben gab“6 . Als der San Francisco Chronicle im Jahr 2000 eine Untersuchung durchführte, gab es „so gut wie keine Hinweise“ darauf, dass das California State Department of Corrections irgendwelche Anstrengungen unternommen hätte, Insassen nach einem unklaren HIV- oder Hepatitis-Befund erneut zu testen oder sie zu informieren. Dagegen erhielt der Manager der Skandalfirma 1999 vom Staat eine erneute Lizenz zur Eröffnung eines klinischen Testlabors.

Ein weiterer Fall von medizinischem Fehlverhalten trug sich in einem Gefängnis in Michigan zu: Einem Häftling wurde versehentlich seine medizinische Akte von einem vorherigen Gefängnisaufenthalt gezeigt, und er stellte erstaunt fest, dass bei ihm bereits zwei Jahre zuvor eine Hepatitis-C-Infektion festgestellt wurde, ohne dass man ihn informiert hatte. Seine Freundin, mit der er zwischen seinen Gefängnisaufenthalten zusammengewohnt hatte, musste erfahren, dass sie ebenfalls mit Hepatitis C infiziert war. Das Paar hat nun Anklage gegen das Michigan Department of Corrections erhoben.

Der Fall in Michigan verweist auf eine ebenfalls leicht nachvollziehbare Problematik: von den schätzungsweise neun Millionen Menschen, die in den Vereinigten Staaten jedes Jahr aus der Haft entlassen werden, haben sich viele während des Gefängnisaufenthaltes infiziert und stecken dann ihre Partner oder andere Kontaktpersonen aus ihrem Drogenumfeld an. Viele dieser Strafentlassenen haben sich das Virus vermutlich schon vor ihrer Inhaftierung eingefangen. Sie jedoch ohne ausreichende medizinische Tests oder Behandlung nach Hause zu schicken ist unverantwortlich. Eine Studie belegt, dass die meisten Menschen das Gefängnis nicht als besonderes Risikoumfeld wahrnehmen, also keine übermäßige Angst vor den dort grassierenden ansteckenden Krankheiten haben. Folglich verzichten sie auch nicht auf ungeschützten Sex mit Straffälligen, die gerade erst wieder in die Gesellschaft entlassen wurden, oder benutzen dieselbe Injektionsnadel wie sie.7 Da Strafvollzugsanstalten normalerweise regelmäßiges Essen, ein Dach über dem Kopf und ein Mindestmaß an gesundheitlicher Betreuung garantieren, befinden sich Strafgefangene in den Augen von Leuten, die „draußen“ in Armut oder auf der Straße leben, häufig sogar in einem relativ gesunden Umfeld. Das gilt vor allem dann, wenn ein Entlassener sichtlich ausgeruht, gut ernährt und durch lange und ausdauernde Fitnessübungen „gestählt“ in seine Umgebung zurückkehrt. Der US-amerikanische Sozialstaat wird derzeit so radikal zurückgefahren, dass der Strafvollzug zunehmend zu „Amerikas sozialer Auffangstation“8 geworden ist – die strafende Hand des Staates wird somit gerade für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft zugleich zur rettenden Hand, die sie trotz allem über Wasser hält.

Noch paradoxer kann die Situation für Strafgefangene werden, bei denen tatsächlich eine Infektionskrankheit diagnostiziert wurde. Aufgrund der häufigen Behandlungsfehler und der teils inkompetenten und nachlässigen Versorgung sind sowohl Untersuchungshäftlinge als auch Strafgefangene medizinisch schlecht versorgt, nicht zuletzt weil Ärzte und medizinisches Personal, denen die Lizenz entzogen wurde, in Gefängnissen weiterarbeiten dürfen. Und Insassen, die aufgrund einer HIV- oder Hepatitis-C-Erkrankung bestimmte Medikamente benötigen, müssen eine medizinisch überholte Behandlung über sich ergehen lassen, weil das womöglich in ihrer Anstalt so üblich ist. So bleibt manchen Häftlingen gar keine andere Wahl, als einer Behandlung mit Einfachmedikamenten zuzustimmen.

Manchmal ist aber auch schlichte Nachlässigkeit am Werk: Ein Häftling in Florida erhielt sein HIV-Medikament regelmäßig zu den Mahlzeiten, obwohl es auf dem Beipackzettel ausdrücklich heißt, dass zwei Stunden vor und eine Stunde nach Einnahme der Tablette nichts gegessen werden darf. Derartige Schlampereien gefährden nicht nur das Leben und Wohlbefinden der inhaftierten Patienten, sie produzieren zudem antibiotikaresistente Erreger, die das gesamte Umfeld des Erkrankten gefährden.

Dennoch – für Menschen, die auf das staatliche Sozialsystem angewiesen sind, dürfte die Gesundheitsversorgung in den US-Gefängnissen noch immer besser sein als die medizinischen Leistungen, die sie sich zusammenschnorren können, wenn sie nicht hinter Gittern sitzen. Die US-Statistikbehörde FedStats zählte im Jahr 2001 insgesamt 41 Millionen nicht krankenversicherte Amerikaner. Sie haben alle anfallenden medizinischen Kosten selbst zu tragen – oder sie verzichten auf die Behandlung. Nach Schätzungen der FedStats ist die Zahl der US-Bürger, die ganz oder vorübergehend ohne Versicherungsschutz waren, auf 71,5 Millionen gestiegen. Und weil sich Ärzte und Krankenhäuser ihrerseits wieder gegen die Schadenersatzansprüche versichern müssen, die Patienten aufgrund von Behandlungsfehlern oder Verletzungen der Sorgfaltspflicht an sie stellen und die in den Vereinigten Staaten immens hoch sind, kostet ein Arztbesuch das Drei- bis Fünffache der Summe in vergleichbaren europäischen Ländern. In den USA können diese Rechnungen bei einem längeren Krankenhausaufenthalt und einer schweren Erkrankung auf mehrere hunderttausend Dollar steigen.

Wer sich das nicht leisten kann, ist auf die unzuverlässigen und bürokratischen staatlichen Gesundheitsdienste angewiesen. Diese kosten zwar nichts oder nur wenig, sind aber – da notorisch unterfinanziert – entsprechend schlecht. Alternative Anlaufstellen sind die Notaufnahmen der Krankenhäuser, an die sich mittellose US-Bürger bei akuten Erkrankungen häufig als Erstes wenden. Krankenhäuser müssen ernsthaft Kranke oder Verletzte versorgen, aber sie tun es auf einem Niveau, das dem von Kliniken in Dritte-Welt-Ländern gleicht. Absurderweise sind die Gefängnisinsassen jedenfalls die einzige Gruppe in den Vereinigten Staaten, die ein gesichertes Recht auf medizinische Behandlung hat. Daher kann es nicht verwundern, wenn ein Beobachter feststellt: „Es ist eine traurige Wahrheit, dass manche Menschen sich absichtlich immer wieder in Haft begeben, weil sie das Gefühl haben, dass sie dort eine bessere Versorgung finden als in ihrer normalen Gemeinde.“9

Viele Aspekte des US-amerikanischen Justiz- und Strafvollzugssystems lassen sich mit dem Begriff „unproportional“ kennzeichnen: Es gibt einen unproportionalen Anteil von Afroamerikanern, die hinter Gittern sitzen: Sie machen 28 Prozent der zu lebenslanger Haft Verurteilten aus, während der Anteil der Weißen nur 4 Prozent beträgt. Auch unter den Verurteilten, denen die Todesstrafe droht, sind die ethnischen Minderheiten überproportional vertreten: Im Jahr 2001 waren von 3 581 Todeskandidaten in den US-Gefängnissen 1 612 Farbige. Dasselbe gilt für die unproportional strengen Strafen, die nach dem „Three Strikes“-Gesetz und anderen obligatorischen Minimalstrafgesetzen verhängt werden.10

Die verglichen mit der sonstigen Bevölkerung alarmierende Verbreitung von Infektionskrankheiten unter den Häftlingen der Vereinigten Staaten verursacht den Gefängnissen immer höhere Kosten. Eine Mehrbelastung, die den Steuerzahlern nur schwer verständlich zu machen ist, haben sie sich doch bereits damit abzufinden, dass der erhöhte Finanzbedarf der Strafanstalten in den letzten Jahren einen Großteil der staatlichen Bildungs- und Sozialausgaben verschlungen hat. Wenn ein Staat eine Strafverfolgungspolitik betreibt, die viel zu viele sozial Schwache hinter Gitter bringt, und gleichzeitig eine medizinische Versorgung zulässt, in der Schlampigkeiten an der Tagesordnung sind, dann steht diesem Gemeinwesen gesundheitspolitisch eine düstere Zukunft bevor.

deutsch von Elisabeth Wellershaus

* Soziologin an der London School of Economics.

Fußnoten: 1 National Commission on Correctional Health Care, „The Health Status of Soon-to-be-released Inmates“, Chicago 2002. 2 Susan A. Phillips, „Gallo’s body: decoration and damnation in the life of a Chicago gang member“, Ethnography 2, 2001. 3 Margo Demello, „The Convict Body: Tattooing Among Male American Prisoners“, Anthropology Today 9, 1993. 4 D. C. Doll, „Tattooing in Prison and HIV Infection“, Lancet 2, 1988. 5 Paul Farmer und Barbara Rylko-Bauer, „L’Exceptionnel système de santé américain: critique d’une médicine à vocation commerciale“ in Actes de la recherche en sciences sociales 139, Paris 2001, S. 13-27. 6 Sabin Russell, „State Fumbles Prison Lab Testing: Company’s Fake Results May Never Have Been Corrected“, San Francisco Chronicle, 6. Juli 2000. 7 Megan Comfort, Olga Grinstead u. a. „Reducing HIV Risk Among Women Visiting Their Incarcerated Male Partners“, Criminal Justice and Behaviour 27, Thousand Oaks, Kalifornien, 2000) S. 57–71. 8 Elliott Currie, „Crime and Punishment in America“, New York (Henry Holt and Company) 1998. 9 Theodore M. Hammett, „Health-Related Issues in Prisoner Reentry to the Community“, in: „Reentry Roundtable“, Washington DC: The Urban Institute, Justice Policy Centre, 2000. 10 Das kalifornische „Three Strikes-Law“ (der Begriff kommt ursprünglich aus dem Baseball) sieht harte Strafen vor, wenn jemand zum dritten Mal straffällig wird, auch wenn es sich um minder schwere Delikte handelt. Ein wichtiger Unterschied zum europäischen Strafvollzugssystem ist auch, dass es bei lebenslanger Haft keine vorzeitige Entlassung gibt. In der amerikanischen Gesellschaft bedeutet „life long“ also tatsächlich lebenslang Gefängnis, und nicht etwa nur 15 Jahre.

Le Monde diplomatique vom 13.06.2003, von MEGAN COMFORT