Falten, packen, Bücher binden
Früher sprach man von Tütenkleben, wenn man die Arbeit von Gefängnisinsassen beschreiben wollte. Tatsächlich handelt es sich meist um stumpfsinnige Tätigkeiten: arbeitsintensiv bei geringer Wertschöpfung. Und selbstverständlich schlecht bezahlt.
Von SÉVERINE VATANT *
DER 22. Juni 1987 hat hier alles verändert“, berichtet François Tillol, Leiter der Stelle für Arbeit, Ausbildung und Beschäftigung in der „Direction de l’Administration pénitentiaire“ (DAP), der Gefängnisverwaltung im französischen Justizministerium. „Vor diesem Datum galt die Gefangenenarbeit als Teil der Strafe, sie war vorgeschrieben. Dann wurde ein neues Strafvollzugsgesetz erlassen, in dem die Strafe auf bloßen Freiheitsentzug beschränkt wird.“ Seit 1987 ist die Arbeit im Strafvollzug rechtlich wieder das, was sie für jeden freien Bürger auch ist: ein Recht, ein Mittel zur Sicherung des Lebensunterhalts – und ein Weg zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Die betreffenden Stellen des Strafgesetzbuchs, die damals ebenfalls überarbeitet wurden, verpflichten die DAP, allen Antragstellern zu einer Beschäftigung zu verhelfen. Befreit von ihrem Zwangsaspekt, erhält die Gefangenenarbeit so, zumindest auf dem Papier, einen humanistischen Impetus, der auf die Stärkung der Selbstständigkeit des Einzelnen und auf seine Resozialisierung zielt.1
Die Arbeit soll den Häftling aber nicht nur auf das Leben in Freiheit vorbereiten, sie dient auch einem anderen, sehr elementaren Zweck: dem Gelderwerb. „Das Geld wird zum Teil für die Entschädigung der Nebenkläger gebraucht“, erklärt Tillol. „Die Gefangenen können sich damit aber auch eine kleine Rücklage verschaffen, und sie können ihre Familie draußen versorgen, falls sie eine haben. Vor allem können sie aber ihr Leben im Vollzug so gestalten, wie es ihren Bedürfnissen entspricht.“ Denn im Gefängnis ist nichts umsonst: Fernsehen, Zeitschriftenabo, ein kleiner Kühlschrank, Essen, das besser ist als die oft dürftige Alltagskost, Stift und Papier, Zahncreme oder Waschmittel.
Mehr als 54 000 Häftlinge befanden sich am 1. November 2002 in den Gefängnissen Frankreichs und seiner Überseedepartements. Im Jahr 2001 hatten nur 47,6 Prozent von ihnen die Möglicheit zu arbeiten.2 Eine für die Berufsausbildung zuständige Strafvollzugsbeamtin berichtet: „Gleich nach seiner Ankunft in der Haftanstalt sollte sich der Gefangene persönlich um eine Stelle bewerben. Je nach Gefängnistyp wird ihm die Stelle dann entweder vom Anstaltsleiter bewilligt oder von der Person, die mit der Aufsicht über die Gefangenenarbeit betraut ist, oder, was in letzter Zeit häufig vorkommt, von einem Ausschuss, der aus der Gefängnisleitung und Vertretern der Rechtsabteilung sowie Psychologen und Sozialpädagogen zusammengesetzt ist. Ausschlaggebend für die Beurteilung sind letztlich die persönliche Motivation des Gefangenen, sein Verhalten, seine finanzielle Situation sowie seine psychische Verfassung.“
Das erste Stellengesuch eines Gefangenen wird nur selten abgelehnt, etwa wenn der Kandidat besonders ungeeignet ist oder keine Arbeitsstellen mehr frei sind. Wer Glück hat, dem stehen zwei Möglichkeiten zur Auswahl: die Arbeit im Rahmen des service général – das sind die in deutschen Gefängnissen so genannten Hausarbeiten – oder eine Tätigkeit in den Werkstätten. „Zum service général gehören Küchenarbeiten, Reinigungs- und Wartungsdienste“, erklärt der Leiter des Aufsichtsdienstes der Justizvollzugsanstalt von Nanterre. „In den Werkstätten werden verschiedene Tätigkeiten angeboten. Unser Gefängnis ist eine maison d’arrêt3 . Da fallen vor allem Arbeiten an, die auch von ungelernten Arbeitskräften ausgeführt werden können. Daneben gibt es aber auch handwerkliche Tätigkeiten, die durchaus Sachkenntnis verlangen, in der Metallverarbeitung, in der Tischlerei, der Druckerei oder in der Elektrotechnik. Im Allgemeinen werden solche Arbeiten aber eher in den so genannten maisons pour peine angeboten.“
Auftraggebendes Unternehmen der Werkstätten kann entweder die „Industriegesellschaft der Justizvollzugsanstalten“ (Régie industrielle des établissements pénitentiaires – RIEP) sein, ein staatliches Unternehmen, das vor allem Industriegüter von hoher Qualität herstellt – oder ein privates Unternehmen, das mit einem oder mehreren Gefängnissen einen so genannten Konzessionsvertrag abschließt. Letztere sind bei weitem die wichtigsten Arbeitgeber in französischen Gefängnissen. Im Jahr 2001 beschäftigten sie 44,6 Prozent der arbeitenden Häftlinge, 30,9 Prozent arbeiteten für den service général und 5,8 Prozent für die RIEP. Der verbleibende Rest verteilte sich auf bezahlte Weiterbildungsmaßnahmen und Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb der Gefängnisse. Die angebotenen Tätigkeiten und der Anteil der darin eingebundenen Gefangenen variieren von Anstalt zu Anstalt stark. Dauerhaft schwierig ist die Lage in den maisons d’arrêt. Die hohe Fluktuation der Gefangenen erschwert dort den Aufbau gut funktionierender Strukturen. Daher sind gerade in den maisons d’arrêt die Beschäftigungsraten am niedrigsten und die angebotenen Tätigkeiten vergleichsweise anspruchslos.
„Auf den ersten Blick mag die Arbeit im Strafvollzug ja gut organisiert scheinen“, meint ein Mitarbeiter. „Aber das Ganze steht auf sehr wackligen Füßen. Zumal wir nicht in der Lage sind, die gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen. Der Laden läuft nur noch, weil wir flexibel sind und auch mal fünfe gerade sein lassen!“
Ein wichtiger Aspekt ist die rechtliche Stellung der Arbeitskräfte in den Gefängnissen. Auch wenn Freiheitsentzug das einzig verbliebene Element der Bestrafung ist, gilt für die Angestellten im service général und in den Werkstätten noch lange nicht das normale Arbeitsrecht. Sie dürfen weder als Vertragspartner auftreten noch individuelle oder kollektive Abmachungen treffen. Die Konzessionsverträge, die zwischen den Gefängnissen und den Unternehmen abgeschlossen werden, berücksichtigen die zukünftigen Lohnempfänger in keiner Weise. Die DAP betrachtet die Gefangenenarbeit als Zeitarbeit und stellt so Arbeitskräfte zur Verfügung, deren Forderungen erstaunlich bescheiden ausfallen. Kein Wunder, die Gefangenen haben den Vertrag nicht zu unterschreiben.
Da ihr rechtlicher Status unbestimmt ist, bleiben sie von den sozialen Errungenschaften der Außenwelt ausgeschlossen: keine Probezeit, keine Kündigungsfrist, keine Regelung der Entlassungsmodalitäten, kein geregelter Mindestlohn, keine Mitbestimmung oder Arbeitnehmervertretungen, noch nicht einmal Anspruch auf Kranken- oder Arbeitslosengeld, selbst dann nicht, wenn es sich um einen technisch bedingten Arbeitsausfall handelt. Nur in einem Punkt wird das Arbeitsrecht befolgt: „Wir halten uns an die Hygiene- und Sicherheitsvorschriften, wie sie das Arbeitsrecht vorsieht“, sagt Dominique Orsini, Leiter der Stelle für Arbeit und Beschäftigung im Pariser Regionalbüro der DAP. „Im Zuge unserer Bemühungen um eine Verbesserung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen haben wir vor kurzem die Strafanstalten aufgefordert, sich noch stärker für die Einhaltung der geltenden Regeln einzusetzen. Dabei haben wir auch die Bezahlung der Gefangenen und ihre Arbeitszeiten angesprochen.“ Eine solche – immerhin erstmals schriftlich formulierte – Aufforderung mag zwar als Zeichen guten Willens zu begrüßen sein, einen Arbeitsvertrag kann sie aber nicht ersetzen. Ein symbolischer Appell wird sie im Übrigen schon deswegen bleiben, weil es die DAP mit Schwierigkeiten zu tun hat, für die sie nicht allein verantwortlich ist und die sie auch nicht prinzipiell ausräumen kann.
Zwar gibt es einzelne Arbeitsstellen, die Fachkenntnisse voraussetzen, vor allem in den maisons pour peine. Meistens jedoch besteht die Gefangenenarbeit darin, etwas zusammenzufalten oder zu verpacken, dazu kommen kleinere Montagearbeiten, die Anfertigung von Warenproben etc. – alles arbeitsintensive Tätigkeiten mit geringer Wertschöpfung. Das durchschnittliche Lohnniveau in den Gefängnissen ist unfassbar niedrig. Die Gefangenen werden dabei so gut wie immer nach Akkord bezahlt, unabhängig davon, ob die Konzessionsinhaber aus der Privatwirtschaft die Produktion selbst leiten oder ob sie ein Subunternehmen beauftragen. Es wird eine Stückzahl pro Stunde und der entsprechende Stundenlohn festgelegt: im Schnitt 3 Euro in den maisons d’arrêt, zwischen 3,80 und 4 Euro in den maisons pour peine. Wer mehr schafft, kann auch mal etwas mehr verdienen, wer weniger schafft, dem bleibt fast nichts. Wenn es gut läuft, bringt ein Tag in den Werkstätten zwischen 15 und 16 Euro brutto ein. Bei Arbeiten mit hoher Wertschöpfung kann der Betrag auf 25 Euro, in seltenen Fällen auf 45 bis 50 Euro steigen.
Als Monatseinkommen muten die Durchschnittslöhne noch lächerlicher an: 446 Euro netto in den Werkstätten der RIEP, 382 Euro in den Konzessionswerkstätten, 157 Euro im service général. „Ein Großteil der Gefangenen eignet sich gar nicht für die Arbeitswelt“, findet François Tillol, „über Fachkenntnisse verfügen nur die wenigsten.“ Demnach wären die mangelnden Fähigkeiten der Gefangenen eine Rechtfertigung für Arbeit ohne Vertrag und zu minimalem Lohn. Doch selbst der private Konzern Gepsa, der vierzehn halbstaatlich4 betriebene Haftanstalten leitet, spricht im Rahmen einer Studie zur Bewertung der Gefangenenarbeit davon, dass es „in puncto Fähigkeiten und Potenzial keinen nennenswerten Unterschied zwischen den Häftlingen und vergleichbaren Bevölkerungsgruppen außerhalb der Gefängnisse gibt“.
Der Geist des Gesetzes
DIE Lohnnebenkosten erhöhen? Vertragliche Verpflichtungen einführen? Schon der Gedanke daran löst beim zuständigen Gefängnispersonal allgemeines Schaudern aus. Die Mitarbeiter halten das für den sichersten Weg, Arbeitgeber aus den Werkstätten zu vertreiben.
Aber was sind das für Arbeitgeber? Es handelt sich doch um Unternehmen, die nicht verpflichtet sind, das Arbeitsvolumen konstant zu halten und denen Räumlichkeiten, manchmal auch Lagerhallen, unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden. Auch Nebenkosten, etwa für Wasser oder Elektrizität, fallen nicht an, und der Arbeitgeberanteil an den Sozialabgaben liegt bei nur 15 Prozent – während er außerhalb der Gefängnisse 40 bis 50 Prozent beträgt.
Wenn nun aber die Einbindung in Marktstrukturen zu einem so miserablen Lohnniveau führt, wenn jede berufliche Weiterqualifikation ausgeschlossen und die Verknüpfung von Ausbildungs- und Arbeitsplatz immer problematischer wird; und wenn weiterhin das Fehlen arbeitsrechtlicher Bestimmungen den Geist des Gesetzes von 1987 ad absurdum führt und die arbeitenden Gefangenen nur noch als Manövriermasse in einem ökonomischen Kalkül erscheinen – ist es dann nicht an der Zeit, sich über die Stimmigkeit des aktuellen Systems Gedanken zu machen? Gegenwärtig werden von verschiedenen Seiten Lösungsansätze entwickelt – von Senator Paul Loridant, der einen Bericht über das Thema Arbeit im Strafvollzug verfasst hat,5 von Menschenrechtsaktivisten und von der DAP selbst. Und auch unter den Konzessionsfirmen gibt es einige, die angesichts der gegenwärtigen Situation Bedenken haben.
Letztendlich könnten deren Ansätze zusammengenommen ein sinnvolles Vorschlagspaket ergeben: Arbeitsplätze in Gefängnissen, die privatwirtschaftlichen Interessen dienen, sollten ganz abgeschafft und durch solche ersetzt werden, die dem Staat und der Gemeinschaft zugute kommen (zum Beispiel Digitalisierung der staatlichen Archive, Pflege des nationalen Kulturerbes etc.); eine Institution des öffentlichen Rechts sollte geschaffen werden, die anstelle der RIEP6 mit der Arbeit im Vollzug befasst wäre; und die Gefangenenarbeit selbst sollte teilweise oder vollständig nach dem Modell der „geschützten Arbeit“ organisiert werden, wie man es von Eingliederungsprogrammen für Langzeitarbeitslose oder benachteiligte Jugendliche kennt.
Ein von Marylise Lebranchu ausgearbeiteter Vorentwurf zu einem Strafvollzugsgesetz, der beachtliche Fortschritte hinsichtlich der arbeitsrechtlichen Bestimmungen bedeutet hätte, ist inzwischen in der Versenkung verschwunden. Und in der „Loi Perben“, einer nach Justizminister Perben benannten Reform des französischen Justizwesens, die vor allem jugendliche Wiederholungstäter aufs Korn nimmt und am 26. Mai in erster Lesung vom französischen Abgeordnetenhaus gebilligt wurde, kommt das Thema überhaupt nicht zur Sprache.
deutsch von Patrick Batarilo
* Journalistin