Ungeschicklichkeiten größeren Ausmaßes
NACH dem schnellen Sieg der USA über das Regime Saddam Husseins laufen im Irak die Vorbereitungen zur Bildung einer Übergangsregierung. Polizei und Verwaltung arbeiten wieder, sogar die Fußballmannschaft des Landes steht wieder. Und doch ist das Leben für die Iraker nicht leichter geworden, Lebensmittel werden knapp, es herrschen Chaos und Anarchie. Im entstandenen Machtvakuum haben sich lokale Stammesführer und religiöse Führer positioniert. Den Amerikanern wäre es am liebsten, wenn sie ihre militärische Präsenz nach und nach in eine ökonomische überführen könnten. Das wird nur gehen, wenn die Hoffnungen der Bevölkerung auf ein besseres Leben nicht enttäuscht werden.
Von DAVID BARAN *
Nach Ansicht der US-Administration, die auf die Wirkung von Voraussagen vertraut, befindet sich die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung im Irak auf bestem Wege. Die Bildung einer Übergangsregierung wird demnach nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die Stromerzeugung läuft wieder auf Vorkriegsniveau. Die Polizisten und die meisten Verwaltungsangestellten haben ihren Dienst wieder aufgenommen. Schulen und Universitäten sind wieder geöffnet. Sogar die irakische Fußballmannschaft steht wieder. Blieb nur noch eine Tennismeisterschaft in Bagdad zu organisieren, was der unterhalb des berühmten Hotels Palästina gelegene exklusive Club al-’Alwija auch prompt getan hat – die ausländischen Journalisten saßen in der ersten Reihe.
Vom Irak aus betrachtet ein ganz und gar trügerisches Bild: Nicht irgendeine neue Verwaltung, sondern Unsicherheit herrscht im größten Teil des Landes. In der Hauptstadt gehen die Plünderungen weiter, zum Beispiel im Informationsministerium, nur 200 Meter vom amerikanischen Hauptquartier entfernt. Die tausende Polizisten, die wieder Dienst tun, sind an Tagen wie diesem nahezu unsichtbar, während in Gesprächen eine beunruhigende Geschichte nach der anderen kolportiert wird: Sie handeln von Mord auf offener Straße, Vergewaltigung oder Kindesentführung. Die Lebenshaltungskosten steigen, und die Löhne werden nicht einmal teilweise ausgezahlt. Auch die Lebensmittelvorräte, die die Menschen sich noch vor dem Krieg angelegt hatten, gehen in einigen Stadtvierteln allmählich zur Neige. Das Benzin wird knapp, ebenso das Gas zum Kochen.
Wie also sieht sie aus, die amerikanische Strategie für dieses Land, dessen Wirtschaft und dessen öffentliche Institutionen durch Saddam Husseins Regime missbraucht und untergraben wurden und die nun als Folge der Invasion völlig zusammengebrochen sind? Zwei Monate nach der Einnahme von Bagdad gibt es auf diese Frage seltsamerweise immer noch keine Antwort. Die Iraker selbst können nur rätseln, was diese Strategie betrifft. Irgendeine Aufklärung über deren Ziele haben sie nie erhalten. Außerdem hat sich eine Pattsituation entwickelt zwischen der Bevölkerung, die überzeugt ist, unter amerikanischer Vormundschaft zu stehen, und einer Besatzungsmacht, die ihrerseits wiederum überzeugt ist, ihre Mission im Wesentlichen bereits erfüllt zu haben.
Denn die Strategie der Amerikaner zielt auf die Bildung einer Übergangsregierung. Ihr soll die Aufgabe zufallen, sich um die Bedürfnisse der Bevölkerung und die praktische Bewältigung der zahllosen technischen Probleme zu kümmern. Die Präsenz der Amerikaner soll sich zum einen auf die militärische Besetzung und zum andern auf die Organisation von Verhandlungen zur Bildung dieser Regierung beschränken. Im Lauf der Wiederaufbauphase würde die militärisch-politische Präsenz nach und nach in den Hintergrund treten und, wenn die lokalen Infrastrukturen wieder hergestellt sind, an ihrer Stelle eine eher ökonomische Präsenz bestehen bleiben.
Eine solche Politik, deren Auswirkungen nicht sofort spürbar sind, setzt eine gewisse Trägheit der Bevölkerung voraus, als handle es sich um eine amorphe und beliebig formbare Masse. Doch hat die Bevölkerung in der Zeit, als sie sich selbst überlassen und mit dem Chaos konfrontiert war, längst ihre eigenen Strukturen aufgebaut. Die Ergebnisse der abgeschirmten Verhandlungen zwischen der US-Administration und den gerade erst aus dem Exil zurückgekehrten Oppositionsparteien wollte man lieber nicht abwarten. Religiöse und Stammesführer, die bei den Gipfelgesprächen außen vor geblieben waren, haben auf lokaler Ebene die Stelle des zerfallenen Staatsapparats eingenommen. Über das Machtvakuum hinaus gibt es auch ein Sinnvakuum, auf das solche unterschiedlichen Initiativen reagieren. Was also passiert wirklich außerhalb des begrenzten politischen Spiels, das die Aufmerksamkeit Washingtons und der Medien auf sich zieht, das aber bei den Irakern wenig mehr als Gleichgültigkeit hervorruft?
Nach der Verkündung verschiedener Vorwände für den Angriff auf den Irak hat Washington seine Militärintervention schließlich als „Befreiungskrieg“ präsentiert. Von den edlen Absichten der Amerikaner ist trotzdem niemand überzeugt. Alle Welt sieht hinter der Intervention kein anderes Motiv als die Verteidigung der Interessen Washingtons. Die Truppen der Koalition sind nicht gekommen, um den Irak zu „befreien“, sondern um ihn zu besetzen und sich seine Reichtümer anzueignen. Nur an der Frage, was sich aus der faktischen Besetzung nun machen lässt, scheiden sich die Geister.
Einige – es sind die wenigsten – legen einen unerschütterlichen Optimismus an den Tag. In ihren Augen sind die Zukunftsaussichten jetzt allemal besser, als sie es unter Saddam Hussein waren. Sie genießen eine Freiheit, für die sie lange dankbar sein werden – und wegen des amerikanischen Imperialismus, so bewusst er ihnen auch sein mag, machen sie sich keine großen Sorgen: „Lassen wir ihnen doch das Öl. Schließlich hatten wir ja vorher auch nichts davon.“ Egal, ob die künftige Regierung von Washington abhängig ist, Hauptsache, es ist Schluss mit Unterdrückung, Krieg und Entbehrungen.
Anders als man vielleicht erwarten würde, sind es nicht so sehr die vor dem Krieg Benachteiligten, die so denken. Die meisten von denen, die sich heute freuen, haben schon lange jegliches Interesse an Politik verloren. Andere unterhielten mehr oder weniger freiwillig enge Beziehungen zum Regime. Umgekehrt deckt sich auch die Gruppe der heute skeptischen oder gar unzufriedenen Iraker nicht mit den treuen Anhängern des Exdiktators. Im schiitischen Armenviertel al-Thawra in Bagdad, der so genannten Medinat Saddam (Saddam City), die jetzt in Medinat al-Sadr umbenannt wurde (nach einem 1999 ermordeten hoch angesehenen Imam), ist zum Beispiel die Mehrheit der Bewohner wider Erwarten der Meinung, dass sie „es vorher besser hatten“.
Der Großteil der Leute ist einzig und allein mit dem täglichen Überleben beschäftigt und betrachtet den Sturz des Regimes unter dem Aspekt der materiellen Probleme und der daraus entstandenen Unsicherheit. Denn man lebte „vorher“ insofern tatsächlich besser, als man „wenigstens gefahrlos auf die Straße gehen konnte“. Wie soll diese Bevölkerung an eine bessere Zukunft glauben, wenn ihre Lebensbedingungen sich weiter verschlechtern? Wie soll sie von der Hochherzigkeit einer amerikanischen Intervention überzeugt sein, wenn deren greifbarer Nutzen noch immer auf sich warten lässt? Wenn im Gegenteil allmein das Gefühl überwiegt, dass „die Amerikaner nichts tun“.
Tatsächlich werden weiter Waffen auf offener Straße verkauft. Völlig ungestraft fielen Kurden in die arabischen Städte im Nordosten des Landes ein, während die Einwohner von al-Thawra Strafexpeditionen gegen Wohnsiedlungen der Baath-Anhänger in al-Mussajeb und al-Iskanderia unternahmen. Die scheinbar einfachsten Probleme sind nach wie vor ungelöst. Die phänomenale Handlungsfähigkeit, die die Amerikaner während des Krieges an den Tag legten, ließ den Eindruck entstehen, sie könnten alles, wenn sie nur wollten. Umso größer ist das Unverständnis, mit dem die Iraker die offensichtliche Untätigkeit der Amerikaner seit dem Fall Bagdads aufnehmen.
Immer häufiger wird die Haltung der USA mit der Politik Saddam Husseins verglichen und als deren Fortsetzung empfunden. Die Besatzungsmächte haben sich in den Heiligtümern und den Sommerresidenzen des alten Regimes verschanzt. Dort agiert nun eine Macht, die illegitim wirkt, sich abschottet und mit der Wahrung ihrer eigenen Interessen beschäftigt ist. Abweichende Einstellungen werden, ohne zu zögern und ohne zu differenzieren, falls nötig mit Gewalt bestraft. So entsteht in den Augen der Iraker ein Regime, das seine Gegner zwar nicht foltert, wohl aber tötet und das es sich im Schutz seiner Festungen gut gehen lässt, sich auf eine selbst ernannte und dienstbereite Elite stützt, sich der Ressourcen des Landes bemächtigt und die Bevölkerung ihrem Elend überlässt.
So vermuten viele, dass hinter der Benzinknappheit eine politische Absicht steckt. Wenn man weiß, dass die Ölförderanlagen im Krieg verschont geblieben sind, ist die Versuchung groß, willkürliche Verknappung zu unterstellen, wie sie schon Saddam Hussein geschickt einzusetzen verstand. Es kursiert ein Spruch, der diese angebliche Rückkehr zu den alten Methoden ausdrückt: „Die Lehrlinge sind weg, jetzt kommen die Meister.“ Paradoxerweise bezieht die amerikanische Präsenz ihre Daseinsberechtigung aus der gleichen Quelle wie das Regime Saddam Husseins, nämlich aus der Furcht vor einem Machtvakuum und dem damit drohenden Chaos.1 In einer Hinsicht sind die Iraker beinahe einer Meinung: Sie sind überzeugt, dass Washington letztlich deshalb nichts gegen die öffentliche Unordnung und die Verschärfung der Gewalt unternimmt und die Uneinigkeit der Iraker instrumentalisiert, weil es so die militärische Besetzung verlängern kann.
Die üblichen Reden und Parolen von der „Einheit des Iraks“ verraten im Übrigen ein deutliches Bewusstsein über die Uneinigkeit im Land, die vielfältiger und komplexer ist, als es den Anschein hat. Die Kurden zum Beispiel sind in verschiedenen Gruppen mit konkurrierenden Interessen organisiert. Die sunnitischen Araber stellen streng genommen gar keine eigene Gemeinschaft dar. Die Schiiten wiederum unterstehen der unangefochtenen Autorität von al-Hawza al-’Ilmija, ihrer höchsten religiösen Institution mit Sitz in Nadschaf, in der die geistliche und wissenschaftliche Elite der Gemeinschaft versammelt ist. Trotzdem gehören sie noch lange nicht ein und derselben Schule an.
Tatsächlich ziehen sich die Spaltungen nicht nur durch die „Glaubensgemeinschaften“, sondern auch durch die Stadtviertel und Familien. Sie gehen sogar durch die einzelnen Individuen, die ohne weiteres die Ambivalenz in ihren Einstellungen zugeben. Manche der oben genannten Kategorien können sich auch überschneiden. Dass jemand mit einem konsistenten politischen Konzept oder scharf umrissenen Positionen aufzuwarten hätte, bleibt die Ausnahme. Nur wenige, insbesondere religiöse Persönlichkeiten fordern schon jetzt den Rückzug der amerikanischen Streitkräfte. Die übrige Bevölkerung hat eine zwiespältigere und differenziertere Haltung eingenommen. Die Iraker scheinen nach dem Zusammenbruch des Regimes desorientiert zu sein oder, wie einer von ihnen es nannte, „unter Schock“ zu stehen. Angeblich durchschauen sie den Zynismus der amerikanischen Politik und empören sich nur in Maßen, als wäre dieser Zynismus, der im Westen so viele Emotionen ausgelöst hat, für sie selbstverständlich.
Einige erwähnen immerhin das mysteriöse Verschwinden der „Massenvernichtungswaffen“ oder auch das vorgeschobene Argument der Verbindung mit dem Terrorismus. Aber bei aller möglichen Kritik würde doch niemand gegen die amerikanische Politik und ihre Verfechter lauthals Anklage erheben. Letztlich haben die Iraker aus all den Argumenten und Begründungen für den Krieg offenbar nur ein einziges Wort in Erinnerung behalten: „Freiheit“. Auf sie richten sich ihre Erwartungen. Und was ihre Freiheit angeht, werden sie eines Tages Rechenschaft von ihren so genannten Befreiern fordern. Hat doch die Bevölkerung ihre „Befreiung“ nicht nur als bloße Befreiung von der Herrschaft Sadam Husseins verstanden. Sie braucht sehr viel mehr als eine Freiheit, die nichts als Chaos und Faustrecht bedeutet und den Kampf aller gegen alle.
Wenn die US-Administration die Hoffnungen, die sie geweckt hat, enttäuschen sollte, wird sie erleben, dass sich von allen Seiten Protest erheben wird. Tatsächlich haben verschiedene politische Kräfte versucht, das Vakuum auszufüllen, das nicht nur durch den Zusammenbruch des Regimes, sondern auch durch das anschließende Ausbleiben einer amerikanischen Politik entstanden ist. Wie lange sich die Strategie der minimalen Intervention noch durchhalten lässt, wie lange ihr die Vernunft und Verantwortlichkeit der Iraker zugute kommen wird – das weiß derzeit niemand. Auch nicht, ob sich die Kräfte, die von der Übergangsregierung ausgeschlossen sind, widerstandslos einer Autorität beugen werden, der es an Legitimität fehlt.
Der Irak gleicht einem riesigen Monopoly-Spiel, für das die Amerikaner bloß das Brett frei geräumt haben, um dann im richtigen Moment einen Sieger nach ihrem Belieben einzusetzen. Bis dahin versuchen die anwesenden Spieler ihre Positionen zu festigen. Unzählige Parteien haben sich die verlassenen Plätze des gefallenen Regimes unter den Nagel gerissen. Die mächtigsten unter ihnen etablieren schon wieder ihre eigene Vetternwirtschaft, durchaus, wie die Iraker feststellen, „im Stil Saddam Hussein“. Ahmed Chalabi erkauft sich Unterstützung, indem er für den Eintritt in seine Partei, den Irakischen Nationalkongress, die keine gesellschaftliche Basis hat, eine Belohnung zahlt. Dschalal al-Talabani, der Vorsitzende der Patriotischen Union Kurdistans, hat begonnen, Satellitentelefone und teure Waffen an bereitwillige Mitglieder einiger arabischer Stämme zu verteilen.
Schiitische Würdenträger haben den Zusammenbruch der staatlichen Institutionen genutzt, um ihre persönliche Macht auszuweiten. Das riesige Viertel al-Thawra, das mit seiner auf zwei Millionen geschätzten Bevölkerung jede Verwaltung vor eine schwierige Aufgabe stellt, ist mit einem sehr gut organisierten Netz junger Imame überzogen, Anhängern von Muqtada al-Sadr, einem aus der al-Hawza al-’Ilmija hervorgegangenen religiösen Führer. Diese Imame finanzieren und leiten Krankenhäuser, islamische Kulturzentren, die nach dem Fall des Regimes gegründet wurden, und indirekt auch die zivile Verwaltung, die sich gegenwärtig um die elementaren Bedürfnisse der Bevölkerung kümmert.
Es zeichnet sich also eine komplexe politische Geografie ab, in der jede Stadt besondere Organisationsformen aufweist. In einigen Fällen, wie in al-Ramadi, spielen die Stammeschefs eine dominierende Rolle. In anderen sind es hauptsächlich die religiösen Führer. Manchmal arbeiten religiöse und Stammesführer bei der Bewältigung der anstehenden Aufgaben eng zusammen. Doch es gibt auch konkurrierende Mächte. In dem Dorf al-Hilla findet der lokale Potentat, der selbst ernannte und von den Besatzungsmächten anerkannte Gouverneur, nicht die Billigung des obersten Imams der Stadt, den die Amerikaner ihrerseits ignoriert hatten. Der Einfluss der religiösen Würdenträger erregt bei den Besatzern prinzipielles Misstrauen – offenbar merken sie nicht, was für ein gravierender Fehler es ist, sich diese Leute zum Gegner zu machen.
In Ansätzen macht sich bereits eine schärfere Opposition gegen die amerikanische Politik bemerkbar. Die schiitischen Kämpfer der al-Badr-Brigade2 , denen gestattet wurde, unbewaffnet in den Irak zurückzukehren, um ihre Familien wiederzusehen, haben sich inzwischen neue Waffen zulegen und ihre Geheimorganisation aufrechterhalten können. Auch die Muslimbrüder, islamistische Sunniten, sind jetzt im Westen des Landes aufgetaucht. Andere, nicht religiöse Widerstandsgruppen sind ebenfalls dabei, sich zu formieren. Verbittert über ihre schlechten Zukunftsaussichten, treffen sich beispielsweise Angehörige des Sicherheitsapparats mit Leuten von der ehemaligen politischen Polizei und planen gemeinsame Aktionen. Verschiedene religiöse und Stammesführer machen kein Hehl aus ihrer Absicht, auf den bewaffneten Kampf zurückzugreifen, falls die Amerikaner ihre Versprechen nicht einlösen.
Ein Aufstand wird in absehbarer Zeit von all diesen Initiativen jedoch kaum zu erwarten sein. Die Stämme und die religiösen Autoritäten sind von den fünfunddreißig Jahren des Baath-Regimes sehr geschwächt, die Bevölkerung ganz allgemein desorganisiert und kriegsmüde. Zudem ist sie sich der überwältigenden militärischen Stärke der Besatzer bewusst, deshalb sind Klugheit und Vorsicht geboten. Doch unter der Oberfläche nehmen die Figuren in einem politischen Spiel ihre Plätze ein, bei dem die Einsätze weit über den Rahmen dessen hinausgehen, was in Bagdad verhandelt wird.
So gesehen stehen die Besatzer vor allem vor zwei Problemen – vorausgesetzt, ihnen passieren keine irreparablen Ungeschicklichkeiten, wie die Verhaftung eines hohen schiitischen Würdenträgers, oder größere militärische Schnitzer. Einerseits haben sie in den Augen der Iraker die Pflicht, die Verantwortung, die sie mit der Invasion des Iraks auf sich geladen haben, auch zu tragen. Denn sie wussten sehr wohl, dass das von Saddam Hussein geschaffene politische System mit dessen Sturz völlig zusammenbrechen würde. Konkret: die unmittelbaren Forderungen der Bevölkerung sind die Wiederherstellung der Sicherheit und der Grundversorgung. Abstrakter gesagt, eine Mehrheit der Iraker hat ein dringendes Bedürfnis nach Hoffnung, nach einem Beweis für irgendeine Art von Fortschritt. Je verzweifelter die Iraker sind, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Gewaltexzessen kommt.
Andererseits wird die Bildung einer Übergangsregierung dem politischen Spiel ein Ende setzen, natürlich zum Nachteil bestimmter Kräfte. Damit wächst die Gefahr, dass lokale Machthaber und ausgegrenzte Gruppen eine härtere Gangart anschlagen. Die Zentralregierung wird ihre Autorität nicht problemlos durchsetzen können. Sie wird von den Amerikanern gestaltet sein und über keinerlei eigene Sanktionsinstrumente verfügen – folglich wird sie große Schwierigkeiten haben, an die Stelle der vergleichsweise legitimen lokalen Machthaber zu treten. Zudem stellt eine Übergangsregierung eine leicht zu treffende Zielscheibe dar, gegen die man eher protestieren kann als gegen Besatzungsmächte. Am Ende werden diese Besatzungsmächte wahrscheinlich der Regierung zu Hilfe kommen müssen, damit sie ihr eigenes Volk wieder unter Kontrolle bekommt.
Wenn dieses ebenso unerhörte wie ungewisse, noch dazu schlecht vorbereitete Experiment einer Demokratisierung scheitern sollte, lassen sich daraus gewisse Schlüsse ziehen: Ganz bestimmt werden die Befürworter der Invasion den Irakern vorhalten, sie seien widerspenstig gewesen und hätten die einzigartige Chance, sich zu einer demokratischen Gesellschaft zu entwickeln, nicht zu nutzen verstanden. Zweifellos werden sie ein weiteres Mal ihr schlagendstes Argument anführen: die Verbrechen von Saddam Hussein, der Inkarnation des Bösen, die, koste es, was es wolle, beseitigt werden musste. So können sie denn auf jedes kritische Nachdenken über die Berechtigung ihres Unternehmens verzichten, eines Unternehmens, das so viel mehr Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, wenn, ja wenn es bei diesem Abenteuer tatsächlich um die Freiheit gegangen wäre.
deutsch von Sigrid Vagt
* Journalist, Ottawa.