13.06.2003

Rücksichtslose und zänkische Diva der Weltpolitik

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Rücksichtslose und zänkische Diva der Weltpolitik

IM historischen Vergleich der Imperien der letzten Jahrhunderte arbeitet der renommierte britische Historiker Eric Hobsbawm die Unterschiede zwischen einer Kolonialmacht wie Großbritannien und einer militärischen Weltmacht wie den Vereinigten Staaten von Amerika heraus. Das US-Empire der Gegenwart, gegründet auf den entscheidenden Machtfaktor einer konkurrenzlos überlegenen Militärtechnologie, scheint im Gegensatz zum vernünftigen Eigennutz des Britischen Empires eine wenig rationale Weltpolitik zu betreiben, die nicht einmal den eigenen Interessen dient.

Von ERIC HOBSBAWM *

Die derzeitige Weltlage ist ein historisches Novum. Die großen Weltreiche früherer Epochen, das Spanische Reich des 16. und 17. Jahrhunderts und das britische Empire im 19. und 20. Jahrhundert, sind mit dem Imperium der Vereinigten Staaten der Gegenwart kaum zu vergleichen. Die Globalisierung besitzt eine völlig neue Qualität, die sich an drei Aspekten festmachen lässt: an dem weltumfassenden Integrationsprozess, an der technologischen Entwicklung und an den politischen Strategien.

Aspekt Nummer eins: Völlig alltägliche Operationen überall in der Welt sind derart ineinander verzahnt, dass eine Störung ihres Ablaufs sofort globale Auswirkungen hat. Das zeigt sich etwa im Fall der Infektionskrankheit Sars, die irgendwo in China ausgebrochen ist, aber binnen Tagen zu einer globalen Erscheinung wurde. Seitdem hat Sars nicht nur den weltweiten Personen- und Warenverkehr beeinträchtigt, sondern auch internationale Konferenzen und Institutionen, die globalen Märkte und sogar ganze Volkswirtschaften – und dies in einem zuvor undenkbaren Tempo.

Aspekt Nummer zwei: Die permanente technologische Revolution ist auf wirtschaftlicher wie militärischer Ebene zu einem ungeheuren Machtfaktor geworden. Ohne avancierte militärische Technologie kann kein Staat heute im globalen Maßstab Macht ausüben. Doch nur sehr große Staaten können militärtechnologisch mithalten. Dieses Kriterium der Größe spielte früher keine Rolle. Großbritannien etwa war im 18. und 19. Jahrhundert, als es über das größte Weltreich seiner Epoche gebot, ein für damalige Maßstäbe lediglich mittelgroßer Staat. Und noch im 17. Jahrhundert konnte ein Staat wie die Niederlande eine wichtige weltpolitische Rolle spielen. Heute hingegen reicht es für einen Staat, der Weltmachtambitionen hat, nicht aus, wirtschaftlich stark und technologisch führend zu sein.

Der dritte Aspekt hat mit der Komplexität des politischen Systems zu tun. Die Epoche der Nationalstaaten ist nicht vorüber, und diese – nationale – Ebene ist nach wie vor die einzige, auf der Globalisierung nicht funktioniert. Das gilt zumindest für die Art Staat, in dem der einfache Bürger noch eine wichtige Rolle spielt. In der Vergangenheit konnten die politischen Entscheidungsträger über den Staat verfügen, ohne allzu viel Rücksicht auf die Meinung der Bevölkerungsmehrheit zu nehmen. Noch während des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts konnten Regierungen davon ausgehen, das Volk im Prinzip hinter sich zu haben. Seither jedoch müssen sie mehr denn je den Willen der Bevölkerung und deren Handlungsbereitschaft in ihre Politik einbeziehen.

Im Gegensatz zum imperialen Projekt der Vereinigten Staaten – und dies ist in anderer Hinsicht etwas Neues – wussten alle früheren Großmächte und Weltreiche, dass sie nicht isoliert und nicht die Einzigen ihrer Art waren. Keines von ihnen strebte ernsthaft nach alleiniger Weltherrschaft. Auch hielt sich keines für unverwundbar, selbst dann nicht, wenn es sich im Zentrum der Welt wähnte, wie China oder das Römische Reich auf dem Gipfel seiner Macht. Die größte Gefahr, die dem internationalen System vor dem Kalten Krieg drohte, war das Streben nach regionaler Vorherrschaft – wobei die globale Reichweite staatlicher Macht, wie sie nach 1492 möglich wurde, nicht mit Ambitionen zur Weltherrschaft zu verwechseln ist.

Im 19. Jahrhundert war das britische Empire das einzig tatsächlich „globale“, insofern sich seine Aktivitäten rund um die Erde erstreckten. Und in diesem Sinne kann man es als Vorläufer des US-Empires bezeichnen. Das kommunistische Russland dagegen träumte zwar auch von einer weltverändernden Rolle, aber selbst auf dem Gipfel sowjetischer Macht wusste man im Kreml sehr wohl, dass die Weltherrschaft unerreichbar war. Es wurden nie ernsthafte Anstrengungen in diese Richtung unternommen, auch wenn die Rhetorik des Kalten Krieges zuweilen anders klang.

Aber die Ambitionen der Vereinigten Staaten heute und die Großbritanniens vor über hundert Jahren unterscheiden sich erheblich voneinander. Erstens erstrecken sich die USA über ein riesiges Territorium und sind auch nach der Einwohnerzahl eines der größten Länder der Erde, mit wachsender Bevölkerungszahl (im Gegensatz zur Europäischen Union), da sie weiterhin fast unbegrenzt neue Einwanderer aufnehmen.

Zudem gibt es Unterschiede des politischen Stils. Auf dem Gipfel seiner Macht besaß und verwaltete das britische Empire ein Viertel der Erdoberfläche.1 Die USA dagegen waren niemals eine echte Kolonialmacht, sieht man von einer kurzen Zeitspanne am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts ab, also während der Hochzeit des kolonialen Imperialismus. Die USA stützten sich vielmehr auf abhängige bzw. Satellitenstaaten, und zwar vornehmlich innerhalb der westlichen Hemisphäre, wo sie so gut wie konkurrenzlos agieren konnten. Zudem verfolgten die USA im 20. Jahrhundert – im Gegensatz zu Großbritannien – eine Politik der bewaffneten Intervention in diesen Staaten.

Da zu früheren Zeiten die Kriegsflotte die entscheidende Waffe eines Weltreichs war, hat Großbritannien überall strategisch wichtige Marinestützpunkte und Versorgungshäfen in seinen Besitz gebracht. Von Gibraltar über St. Helena bis zu den Falklandinseln wehte – und weht – der Union Jack. Für die Vereinigten Staaten dagegen entstand der Bedarf an solchen Stützpunkten – sieht man von denen im Pazifischen Ozean ab – erst nach ihrem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg 1941. Doch diese Stützpunkte erwarben sie im Übereinkommen mit einer „Coalition of the Willing“, wie man sie damals zu Recht nennen konnte. Heute stellt sich die Situation ganz anders dar. Die USA haben erkannt, dass sie die direkte Kontrolle von sehr vielen militärischen Stützpunkten über die indirekte Kontrolle von Ländern sicherstellen müssen.

Das Commonwealth als Keimform der Globalisierung

ZUM Dritten besteht ein großer Unterschied in der Struktur der innerstaatlichen Machtausübung und der entsprechenden Ideologie. Das britische Empire betrieb Weltpolitik im britischen, nicht etwa in einem universell begründeten Interesse, wobei natürlich seine Propagandisten die nationalen Motive zuweilen auch in altruistischen Formeln artikulierten. Zum Beispiel wurde die britische Seemacht auch mit dem Kampf um die Abschaffung des Sklavenhandels legitimiert, so wie die USA ihre militärische Macht heutzutage des Öfteren mit dem Kampf für die Menschenrechte rechtfertigen. Ähnlich wie das revolutionäre Frankreich am Ende des 18. und das revolutionäre Russland am Beginn des 20. Jahrhunderts sind die USA eine Großmacht, die sich auf eine universalistische Revolution beruft. Das heißt, sie ist im Grunde der Meinung, die übrige Welt habe ihrem guten Beispiel zu folgen beziehungsweise müsse befreit werden. Es gibt kaum etwas Gefährlicheres als ein Empire, das seine eigenen Interessen in dem Glauben verfolgt, damit der ganzen Menschheit einen Dienst zu erweisen.

Das britische Empire war zwar in gewisser Hinsicht sogar noch globaler als die heutigen Vereinigten Staaten, denn seine Flotte beherrschte die Weltmeere so unangefochten und eindeutig, wie keine Macht von heute den globalen Luftraum kontrolliert. Aber Großbritannien strebte nicht nach globaler Macht – nicht einmal nach militärischer und politischer Kontrolle zu Lande in Europa oder Amerika. Das britische Empire diente den ökonomischen Interessen Großbritanniens, wobei es sich so wenig wie möglich in fremde Angelegenheiten einmischte. Es war sich der eigenen Grenzen durch seine geografische Größe und seine Ressourcen stets bewusst und hat nach 1918 seinen Niedergang auch völlig klar gesehen.

Auf der anderen Seite war das weltweite Empire der ersten Industrienation in gewisser Weise eine Keimform der Globalisierung, zu deren Entfaltung die britische Volkswirtschaft sehr viel beigetragen hat. Es war vor allem ein System des internationalen Handels, das im Laufe der Entwicklung seiner heimischen Industrie vor allem auf dem Export seiner industriellen Fertigwaren in die weniger entwickelten Länder basierte. Im Gegenzug wurde Großbritannien zum wichtigsten Importmarkt für Rohstoffe aus aller Welt.2 Und als es später seine Rolle als industrielles Fertigungszentrum für die Welt einbüßte, entwickelte es sich zum Zentrum des globalen Finanzsystems.

Anders die Volkswirtschaft der USA. Ihr Hauptmerkmal war zunächst, dass sie die heimische Industrie auf dem potenziell gigantischen Binnenmarkt gegen ausländische Konkurrenz schützte, ein Protektionismus, der noch heute ein wesentliches Element der US-Politik ist (siehe den Beitrag von Ha-Joon Chang auf Seite 12/13). Doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts nimmt die US-Ökonomie keine so dominante Stellung unter den heutigen Industrieländern mehr ein wie noch vor einigen Jahren.3 Darin zeigt sich eine entscheidende Schwäche des US-Empires. Die USA importieren heute riesige Mengen industrieller Fertigwaren, was sowohl bei den einheimischen Produzenten als auch bei den Wählern nach wie vor protektionistische Reflexe auslöst. Es existiert ein Widerspruch zwischen der Ideologie einer weltweit dominierenden und von den USA beaufsichtigten Freihandelspolitik einerseits und den Interessen wichtiger innenpolitischer Kräfte, die sich durch diese Ideologie kompromittiert fühlen.

Die Entwicklung der Rüstungswirtschaft stellt eine probate Möglichkeit dar, dieses Problem zu lösen. Und hier zeigt sich eine weiterer Unterschied zwischen dem britischen und dem amerikanischen Empire. Vor allem seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat die Akkumulation von Waffen in den USA ein für Friedenszeiten unerhörtes und in der modernen Geschichte nie da gewesenes Niveau erreicht. Dies dürfte der Grund für den bestimmenden Einfluss sein, den der „militärisch-industrielle Komplex“ (den Begriff prägte Präsident Eisenhower) auf die US-Politik ausüben konnte. In den 40 Jahren des Kalten Kriegs haben beide Seiten geredet und agiert, als befänden sie sich im Krieg oder als ob jederzeit einer ausbrechen könne. Das britische Empire stand ein Jahrhundert lang – von 1815 bis 1914 – am Zenit seiner Macht. In dieser Zeit kam es nicht zu großen internationalen Kriegen.

Mehr noch: Trotz der offensichtlich ungleichen Machtverhältnisse zwischen den USA und der Sowjetunion hat Washington – schon vor Ende des Kalten Krieges – den Ausbau der eigenen Rüstungsindustrie immer weiter verstärkt, und dieser Trend hält bis heute an. Mit dem Kalten Krieg wurden die USA zur Hegemonialmacht der westlichen Welt, wobei sie sich allerdings als Kopf eines internationalen Bündnisses verstanden. Unter den Verbündeten machte sich natürlich niemand Illusionen über die wahren Kräfteverhältnisse: Die reale Macht lag in Washington und nirgendwo sonst. Die Europäer erkannten damals in gewisser Weise die Logik eines amerikanischen Imperiums an. Heute dagegen muss die US-Regierung davon ausgehen, dass ihr Empire und ihre Ziele keine echte Akzeptanz mehr finden. Von einer „Koalition der Willigen“ kann keine Rede sein, die aktuelle Politik der USA ist unpopulärer, als es die irgendeiner früheren US-Regierung oder vielleicht sogar die irgendeiner anderen Großmacht je war.

Früher nahmen die Amerikaner ihre Führungsrolle so sensibel und zurückhaltend wahr, wie es solchen internationalen Bündnissen entspricht. Schließlich verlief die Frontlinie im Kampf gegen die sowjetischen Armeen mitten durch Europa. Dennoch war die Allianz auf die USA angewiesen, da sie auf deren Militärtechnologie angewiesen war. Und Washington hat seinen Widerstand gegen ein unabhängiges militärisches Potenzial in Europa nie aufgegeben. Die ständigen Zwistigkeiten zwischen den USA und Frankreich – seit den Tagen von General de Gaulle – rühren von der Weigerung Frankreichs her, ein Bündnis zwischen Staaten als ewige Allianz anzusehen, sowie von dessen Festhalten an einem eigenen militärischen Potenzial, an einer unabhängigen Produktion von Hightech-Waffensystemen. Trotz solcher Belastungen war diese alte Allianz jedoch eine echte „Koalition der Willigen“.

Da sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine andere Macht mit den USA anlegen konnte oder wollte, ist es nur schwer zu verstehen, dass sich Washington plötzlich als eigensinnige, rücksichtslose und zänkische Macht aufspielt. Dies entspricht weder der bewährten und im Kalten Krieg erprobten imperialen Strategie noch den Interessen der US-Wirtschaft. Ohnehin ist die Welt von heute zu kompliziert, als dass ein einziger Staat sie dominieren könnte. Und die materiellen Vorteile der USA sind – von ihrer militärischen Überlegenheit bei den Hightech-Waffensystemen abgesehen – im Schwinden begriffen oder zumindest gefährdet. Die US-Volkswirtschaft hat zwar immer noch riesige Dimensionen, aber ihr Anteil an der Weltwirtschaft nimmt stetig ab. Zudem ist sie, auf kurze wie auf längere Sicht, durchaus krisenanfällig. Man stelle sich zum Beispiel vor, die Opec fasste plötzlich den Beschluss, alle Ölrechnungen in Euro statt in Dollar auszustellen.

Auf politischer Ebene haben die USA die meisten ihrer Trümpfe in den letzten 18 Monaten leichtfertig aus der Hand gegeben, auch wenn ihnen noch einige bleiben. An dem vorherrschenden Einfluss der US-amerikanischen Kultur und der englischen Sprache wird sich nichts ändern. Aber der entscheidende Vorteil bei allen imperialen Plänen liegt im Militärischen: Hier steht das amerikanische Empire völlig konkurrenzlos da, und das wird auf absehbare Zeit so bleiben. Keine andere Macht, auch nicht China, ist in der Lage, den technologischen Vorsprung der Amerikaner aufzuholen. Ob dieser für regional begrenzte Konflikte so entscheidende Vorteil ausreicht, um alle politischen Ziele durchzusetzen, ist ein andere Frage.

Die USA sind natürlich keineswegs darauf aus, die ganze Welt zu erobern. Wenn sie einen Krieg führen, wollen sie vielmehr proamerikanische Regierungen installieren und anschließend wieder nach Hause fahren. Doch dieses Konzept wird nicht aufgehen. Der Irakkrieg zum Beispiel war militärisch höchst erfolgreich. Darüber wurden allerdings die ganz praktischen Anschlussprobleme vernachlässigt. Wie etwa die Frage, wie man in einem besetzten Land die zivile Verwaltung und die wichtigsten Alltagsfunktionen in Gang halten kann, wie es die Briten in ihrem klassischen Kolonialland Indien getan haben. Und die USA machen sich etwas vor, wenn sie glauben, sie benötigten keine echten Verbündeten unter den anderen Staaten oder sie könnten ohne echte Unterstützung in den Ländern auskommen, die sie zwar militärisch erobern, aber nicht erfolgreich verwalten können.

Der Irakkrieg war ein Exempel für die Frivolität, mit der in Washington schwer wiegende Entscheidungen getroffen werden. Der Irak ist geschlagen, hat sich aber nicht unterworfen. Das Land war, obwohl es über große Ölreserven verfügt, so ausgeblutet, dass es leicht zu besiegen schien. Dabei war dieser Krieg in erster Linie eine günstige Gelegenheit für die USA, ihre Machtposition international zu demonstrieren. Das politische Ziel hingegen, von dem die Extremisten in Washington reden – die vollständige Umgestaltung der Nahostregion – hat nicht viel Sinn. Wenn sie die saudische Monarchie beseitigen wollen, wen sollen sie an deren Stelle setzen? Wenn es ihnen im Ernst darum ginge, die Karten im Nahen Osten neu zu verteilen, müssten sie zu allererst eins tun: Druck auf Israel ausüben. Präsident Bush sen. war dazu bereit, sein Nachkomme im Weißen Haus scheint es weniger zu sein.

Begriffe wie „axis of evil“ oder „roadmap“ sollen nicht etwa politische Konzepte bezeichnen, sie sind lediglich PR-Formeln, die nachträglich ein gewisses Eigengewicht gewinnen. Die geradezu erdrückende Fülle von „Neusprech“, die unsere Welt seit dem September 2001 überschwemmt, ist ein klares Indiz für das Fehlen einer echten Realpolitik. Bush selbst ist kein Politiker, sondern ein Politikdarsteller. Und die Leute, die seine Regierung repräsentieren (inoffiziell wie Richard Perle oder offiziell wie Paul Wolfowitz), benutzen öffentlich wie privat dieselbe Rambosprache. Für sie zählt einzig und allein die unschlagbare Macht der Vereinigten Staaten. Das heißt konkret, dass die USA jedes Land besetzen können, wenn es nur klein genug ist und damit einen schnellen Sieg gestattet. Doch dieses Konzept ist keine Politik und erst recht kein Rezept für erfolgreiche Politik.

Imperialismus als Dienst an den Menschenrechten

FÜR die USA wird das innen- wie außenpolitisch gefährliche Folgen haben. Innenpolitisch droht einem Land, das die Welt kontrollieren will – und zwar mit vornehmlich militärischen Mitteln –, die ernsthafte und bislang beträchtlich unterschätzte Gefahr der Militarisierung. Außenpolitisch droht eine große Destabilisierung. Der Nahe Osten ist dafür nur ein Beispiel, denn die Region ist heute weit weniger stabil als noch vor zehn oder vor fünf Jahren. Nicht nur hier bewirkt die Politik der USA die Schwächung aller anderen – vertraglichen wie informellen – Übereinkommen, die eine gewisse Ordnungsstruktur gewährleisten. In Europa hat sie bereits das Nordatlantische Verteidigungsbündnis untergraben – ein Verlust, der wohl zu verschmerzen wäre. Aber der Versuch, aus der Nato eine globale Polizeitruppe im Dienst der USA zu formen, entlarvt das Ganze endgültig als Farce.

Auch die Europäische Union wird von Washington bewusst sabotiert. Und eine der großen Errungenschaften unserer Welt nach 1945 wird systematisch torpediert: die Entwicklung zum prosperierenden und demokratischen Sozialstaat. Dagegen scheint mir die Glaubwürdigkeitskrise der Vereinten Nationen weniger schwerwiegend zu sein. Denn sie konnten immer nur allenfalls am Rande agieren, da sie völlig vom UN-Sicherheitsrat – sprich: vom US-amerikanischen Gebrauch des Vetorechts – abhängig ist.

Wie soll die Welt den Vereinigten Staaten begegnen respektive ihre Macht eindämmen? Natürlich halten es einige Länder für günstiger, sich dem neuen Empire anzuschließen, weil sie davon ausgehen, dass sie nicht mächtig genug sind, um sich ihm entgegenzustellen. Gefährlicher sind freilich die Politiker, die zwar die vom Pentagon verfochtene Ideologie entschieden ablehnen, das imperiale Projekt aber dennoch mit dem Argument unterstützen, dass man in diesem Rahmen immerhin auf lokaler und regionaler Ebene gewisse ungerechte Zustände beseitigen könne. Diese Auffassung eines „Imperialismus im Dienst der Menschenrechte“ wurde vor allem durch das Scheitern der europäischen Politik in den Balkankonflikten der 1990er-Jahre genährt. In den öffentlichen Kontroversen um den Irakkrieg hat sich nur eine Minderheit einflussreicher Intellektueller – zum Beispiel Michael Ignatieff und Bernard Kouchner – für die US-Intervention ausgesprochen, weil sie an die Notwendigkeit einer bewaffneten Macht glauben, die Ordnung ins Elend der Welt bringt. Nun lässt sich tatsächlich argumentieren, dass es Regierungen gibt, die so verbrecherisch und grausam sind, dass ihre Beseitigung ein Segen wäre. Aber das rechtfertigt noch nicht das daraus entstehende Risiko: eine Weltmacht, die sich im Grunde für den Rest der Welt nicht interessiert, weil sie ihn ohnehin nicht versteht, und die zugleich jederzeit in der Lage ist, militärisch zu intervenieren, wenn ihr irgendwo etwas nicht passt.

Vor diesem Hintergrund ist der zunehmende Druck auf die Medien zu sehen. In einer Welt, in der die öffentliche Meinung derart wichtig ist, wächst die Versuchung der Manipulation.4 Im Golfkrieg 1990/91 bemühte sich die amerikanische Seite systematisch, eine Situation wie die in Vietnam zu vermeiden und zu verhindern, dass direkt aus den Kampfgebieten berichtet wurde. Vergebliche Mühe: Medien wie CNN waren in Bagdad vertreten und brachten Nachrichten, die der von Washington gewünschten Darstellung nicht entsprachen. Im jüngsten Irakkrieg versuchte man es mit dem Gegenteil und integrierte Journalisten in die Truppen vor Ort (die embedded journalists), um deren Sicht der Dinge zu beeinflussen. Nichts davon hat wirklich funktioniert, weshalb man sich bemühen wird, wirksamere Methoden zu ersinnen. Das Ergebnis könnte eine direkte, vielleicht als letztes Mittel die technische Kontrolle der Medien sein. In jedem Fall wird man das Zusammenspiel zwischen Regierungen und Medienkartellen noch wirksamer auszubeuten wissen, als wir es heute schon bei der Bush-Regierung mit Fox News beobachten können – oder in Italien beim Zusammenspiel Berlusconis mit sich selbst.

Das amerikanische Empire könnte aus innergesellschaftlichen Gründen ins Wanken geraten. Der aktuellste Grund liegt darin, dass die meisten US-Amerikaner an Imperialismus im Sinne von Weltherrschaft und Weltregierung sehr viel weniger Interesse haben als an ihrem eigenen Wohlergehen in den Vereinigten Staaten. Angesichts der kriselnden US-Wirtschaft werden sowohl die Regierenden als auch die Wähler irgendwann zu dem Ergebnis kommen, dass es weitaus wichtiger ist, die eigenen ökonomischen Probleme zu lösen, als sich auf weitere militärische Abenteuer in aller Welt einzulassen.5 Dies gilt erst recht, wenn die Kosten für künftige militärische Interventionen – anders als beim ersten Golfkrieg und auch weitgehend während des Kalten Krieges – in erster Linie von der US-Bevölkerung selbst getragen werden müssen.

Seit gut fünf Jahren steckt die kapitalistische Weltwirtschaft in der Krise. Zusammenbrechen wird sie natürlich nicht, aber es ist auch kaum anzunehmen, dass Washington seine ehrgeizige Außenpolitik bei ernsthaften inneren Problemen einfach weiter betreiben wird. Die Bush-Regierung verfügt – selbst nach den Kriterien des einheimischen Kapitals – über keine angemessene ökonomische Strategie für die USA. Und ihre Außenpolitik ist nicht einmal im Sinne der imperialen oder globalen Interessen der USA besonders rational, und für die Zukunftsperspektiven des US-Kapitalismus schon gar nicht. Das erklärt im Übrigen auch die politischen Kontroversen innerhalb der Bush-Regierung.

Es gab ja durchaus Zeiten, in denen das US-Empire anerkannt hat, dass seiner Macht Grenzen gesetzt sind – oder dass es sich zumindest so verhalten sollte, als ob es sie gäbe. Der Grund war natürlich, dass man die andere Weltmacht Sowjetunion zu fürchten hatte. Heute müssen wir an Stelle der Furcht auf andere limitierende Faktoren setzen: auf das aufgeklärte Eigeninteresse der USA und auf die mäßigende Wirkung der anderen Staaten.

deutsch von Niels Kadritzke

* Marxistischer Historiker. Autor u. a. von: „Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts“, München (Hanser) 1995, und „Nationen und Nationalismus“, Frankfurt/Main (Campus) 1992.

Fußnoten: 1 Siehe dazu: Eric Hobsbawm, „Das imperiale Zeitalter. 1875–1914“, Frankfurt/M. (Campus) 1992. 2 Ebd. 3 Siehe Chalmers Johnson, „The Costs and Consequences of American Empire“, New York (Owl Books) 2000. 4 Siehe „France protests US media ‚plot‘ “, International Herald Tribune, 16. Mai 2003. 5 Siehe „US unemployment hits an 8 year high“, International Herald Tribune, 3. Mai 2003.

Le Monde diplomatique vom 13.06.2003, von ERIC HOBSBAWM