Saudische Schiiten
MIT ihren endlosen Prachtstraßen, gesäumt von Einkaufszentren, wirken die großen Städte Saudi-Arabiens sehr amerikanisch. Ganz anders Qatif: Eine Stadt an einer unverbauten Küste; enge Gassen, ein Fischmarkt (der größte im Königreich), viele Palmen. Datteln waren lange Zeit das wichtigste natürliche Erzeugnis in der gesamten Ostprovinz (al-Hassa). Seit 1938 die ersten Erdölvorkommen entdeckt wurden, pulsiert das Leben hier allerdings im Takt der Förderpumpen.
Abgesehen davon, dass der Großteil der saudischen Ölreserven in dieser Region vorkommt, weist sie noch eine weitere Besonderheit auf: Die Mehrheit ihrer Bewohner bekennt sich zum schiitischen Glauben. Ihre Zahl ist nicht genau zu ermitteln, es dürften in ganz Saudi-Arabien zwei Millionen sein, von denen auch ein Teil in Riad und Dschidda lebt; insgesamt machen die Schiiten 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung aus, wenn man auch die Ismaeliten hinzunimmt, die vor allem in der südwestlichen Provinz an-Nadschra leben.1
In einem kleinen Haus in Qatif haben sich sechs Leute getroffen, um über die Zukunft des Landes zu debattieren. Alle sind Schiiten, und sie repräsentieren das gesamte politische Spektrum: von der Linken über die Islamisten bis zum panarabischen Nationalismus. Irgendwie können sie es noch gar nicht fassen, dass sie nach dem Austausch von so viel Feindseligkeiten in der Vergangenheit nun zusammensitzen und sich ganz entspannt unterhalten. Die sechs gehören zu den 450 Unterzeichnern eines öffentlichen Aufrufs für die Stärkung der Rechte der Schiiten, dem sich – ein Novum in der Geschichte des Königreichs – auch 46 Frauen angeschlossen haben.2
Die Petition mit dem Titel „Partnerschaft in der Nation“ sei als „Geste der Öffnung und als Angebot an den Staat“ zu verstehen, erklärt einer der Anwesenden. „Wir lassen keinen Zweifel daran, dass wir unseren Platz innerhalb der Nation sehen und eine Teilung des Landes entschieden ablehnen.“
Gefordert wird ein Ende der Diskriminierung, unter der die Schiiten (vor allem bei der Einstellungspolitik der Staatsunternehmen) zu leiden haben, das Recht auf ungehinderte Religionsausübung, der Bau von Moscheen, die Eröffnung von Kulturzentren und die Publikation von Büchern sowie das Ende der Verteufelung des Schiismus im Schulunterricht und in den Medien. „Wir sehen diese Forderungen in einem größeren Zusammenhang“, meint ein anderer Teilnehmer der Zusammenkunft. „Schließlich haben wir im Januar auch den Aufruf der 104 unterzeichnet, der umfassende Reformen vorschlägt.“
Obwohl das Königreich von Anfang an geprägt war durch eine sittenstrenge Variante des sunnitischen Islam, ging es den Schiiten in Saudi-Arabien lange Zeit nicht schlecht. „Ibn Saud konnte die Region al-Hassa 1913 kampflos einnehmen“, erklärt ein Hochschullehrer. „Die Bevölkerung und ihre Repräsentanten liefen zu ihm über und gaben sogar Geld für seinen weiteren Vormarsch. Im Gegenzug erlaubte Ibn Saud den Schiiten, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln – ihre religiösen Institutionen und ihre Gerichtsbarkeit blieben erhalten.“
DIESE Abmachung hatte Bestand bis in die 1960er-Jahre. Erst als König Faisal begann, den Islam als politisches Machtmittel in der Auseinandersetzung mit Ägypten unter Gamal Abdel Nasser einzusetzen, wurden die Schiiten nach und nach ihrer angestammten Rechte beraubt – vor allem im Bereich der Religionsausübung. Nach der islamischen Revolution von 1979 im Iran verschärfte sich der Konflikt. Es kam zu Massendemonstrationen in der Ostprovinz, gegen die der Staat mit aller Härte vorging. 1993 schloss König Fahd ein Abkommen mit der schiitischen Exilopposition, deren Führer Scheich Hassan Safar daraufhin nach Saudi-Arabien zurückkehrte. Die Lage entspannte sich, aber die Probleme blieben ungelöst.
„Wir bekamen die offizielle Erlaubnis, neue Moscheen zu bauen, weil es einen deutlichen Bevölkerungszuwachs gab“, erinnert sich ein Religionsgelehrter. „Aber es dauerte drei Jahre, bis das königliche Dekret in Kraft trat. Und dann scheiterte die Umsetzung am Widerstand der Behörden.“ Die Schiiten sind mit ihrer Geduld am Ende – auch das kommt in der „Petition der 450“ zum Ausdruck.
„Wir hatten beim Büro des Kronprinzen angefragt, wie wir unsere Petition übergeben sollten“, erzählt einer der Unterzeichner. „Dort hieß es, das sei ein Fall für die wöchentliche Audienz, bei der Prinz Abdallah Forderungen und Beschwerden entgegennimmt. Das lehnten wir ab. Aber es gab auch schon Kontakte zu seinem wichtigsten Berater, Abdelasis al-Tuaidschiri, der uns dann zu einem privaten Abendessen einlud. Wir konnten zwei Stunden lang ein sehr offenes Gespräch führen, bei dem er uns versicherte, dass der Kronprinz sich der Bedeutung dieser Fragen sehr wohl bewusst sei.“
Am Tag darauf, dem 30. April, gewährte Kronprinz Abdallah achtzehn der Unterzeichner eine Audienz von fünfundzwanzig Minuten. Er versicherte, dass er sich um Lösungen bemühen und einen Ausschuss einsetzen werde, in dem sunnitische, schiitische und ismaelitische Korangelehrte alle Fragen diskutieren könnten. Außerdem stellte er weitere Maßnahmen in Aussicht. Termine wurden nicht genannt. Große Hoffnungen machen sich die Unterzeichner indes nicht – weder die Petition noch das Treffen mit dem Kronprinzen waren der saudischen Presse eine Meldung wert.
Aber die Zeit drängt. „Wir gehören einer Generation an“, erklärt ein Scheich, „die ihre politischen Erfahrungen gemacht hat, nicht zuletzt im Gefängnis. Wir sind Realisten. Welche Vorstellungen die Jugend hat, wissen wir nicht.“
Ein junger Mann, der an den Demonstrationen in Safua gegen den Wiedereinmarsch Israels ins Westjordanland und gegen den Angriff auf das Flüchtlingslager Dschenin beteiligt war, erzählt: „Am Freitag bestand die Kundgebung nur aus dreißig Leuten. Aber schon am nächsten Tag kamen tausende von Jugendlichen, obwohl es keine zentrale Planung gab. Alle tauchten plötzlich auf – die Kinder der Reichen wie der Armen, auch viele Frauen. Wir waren völlig überrascht.“
Wem werden diese Jugendlichen in Zukunft folgen? Muss man befürchten, dass sie für die Unabhängigkeit kämpfen werden, sobald die Schiiten im Irak an Macht und Einfluss gewinnen? Auch dreizehn hohe schiitische Religionsgelehrte aus Saudi-Arabien, unter ihnen Hassan Saffar, haben den Sturz des Regimes von Saddam Hussein ausdrücklich begrüßt.
VIELE Saudis sind überzeugt, dass die Vereinigten Staaten eine Aufteilung des Königreichs planen und nichts gegen eine schiitische Republik einzuwenden hätten, die über die entscheidenden Ölvorkommen verfügen und natürlich zu ihren Verbündeten zählen würde.
Entsprechende Szenarien sind von neokonservativen Thinktanks in den USA bereits lanciert worden. Erst kürzlich erklärte Robert Jordan, der US-amerikanische Botschafter in Riad: „Wir können es nicht billigen, dass Menschen nur wegen ihrer Zugehörigkeit zum schiitischen Glauben benachteiligt werden, wie wir überhaupt jede Diskriminierung wegen religiöser Überzeugungen ablehnen. Dass die Schiiten bislang von der Regierung ausgeschlossen waren, stellt nach meiner Ansicht ein Problem dar. Ich habe mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, dass der saudische Botschafter im Iran Schiite ist und dass es in der Madschlis al-Schura schiitische Repräsentanten gibt.“3
Dagegen kann man kaum etwas einwenden – und doch zeigen sich die Schiiten in Saudi-Arabien wenig erfreut über diese Einlassungen. „Die USA verfolgen hier nur ihre eigenen Ziele“, meint ein schiitischer Intellektueller. „Unsere Rechte sind ihnen völlig egal, und solche Erklärungen fördern nur das Misstrauen, das uns entgegengebracht wird. Wir stehen plötzlich da wie die fünfte Kolonne einer fremden Macht. Das Königreich muss die notwendigen Reformen endlich in Angriff nehmen – aber ohne Einmischung von außen.“
A. G.