13.06.2003

Was der Freihandel mit einer umgestoßenen Leiter zu tun hat

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Was der Freihandel mit einer umgestoßenen Leiter zu tun hat

DIE Welthandelsorganisation WTO wurde am 1. Januar 1995 als multilaterale Handelsorganisation gegründet. Sie hat heute 137 Mitglieder, von denen mehr als zwei Drittel Entwicklungsländer sind. Das Patentrezept, das ihnen von wirtschaftsmächtigen WTO-Mitgliedern und den großen Finanzinstitutionen Weltbank und Internationaler Währungsfonds immer wieder aufs nachdrücklichste empfohlen wird, ist die Liberalisierung des Marktes samt schrankenlosem Freihandel. Ein Blick in die Geschichte gerade der großen Verfechter des freien Warenaustauschs, USA und Großbritannien, zeigt, dass diese selbst in der Phase der Entwicklung ihrer Volkswirtschaften gezielt Zölle, Subventionierungen und andere Mittel des staatlichen Protektionismus eingesetzt haben. Der wirtschaftliche Erfolg dieser Maßnahmen gibt den damals führenden Ökonomen Recht.

Von HA-JOON CHANG *

In den letzten zwanzig Jahren konnten die Anhänger des freien Warenverkehrs einige bahnbrechende Erfolge für sich verbuchen. Seit Beginn der Schuldenkrise von 1982, in deren Gefolge der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank eine ganze Serie von Strukturanpassungsprogrammen finanzieren mussten, sind viele Entwicklungsländer zu einer radikalen Freihandelspolitik übergegangen. Zehn Jahre später, nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Blocks, öffneten sich weite Weltregionen erstmalig für den freien Handel. In den 1990er-Jahren wurden eine Reihe wichtiger regionaler Freihandelsabkommen unterzeichnet, deren bekanntestes das Nafta-Abkommen (North American Free Trade Association) zwischen den USA, Kanada und Mexiko ist. Als krönender Abschluss wurde von der so genannten Uruguay-Runde des Gatt (General Agreement on Trade and Tariffs) 1994 in Marrakesch die Gründung der Welthandelsorganisation WTO (World Trade Organization) für 1995 vereinbart.

Ein allgemein gültiges Freihandelsabkommen war damit allerdings noch nicht etabliert, denn die WTO lässt nach wie vor einige Zollabgaben zu. Aber seither orientiert sich der Welthandel endgültig am Prinzip Freihandel, Zollhemmnisse werden massiv abgebaut, und staatliche Subventionierung des Handels ist praktisch untersagt.

Die Verfechter des Freihandels wollen sich mit ihren in der Tat eindrucksvollen Errungenschaften noch nicht begnügen. Im Rahmen der WTO bemühen sich vor allem die Vertreter der entwickelten Länder unablässig, Zollschranken noch radikaler und noch schneller abzubauen als ursprünglich vereinbart. Zudem wollen sie die Zuständigkeit der WTO auf Gebiete ausdehnen, die im Gründungsvertrag nicht vorgesehen waren, wie auf Auslandsinvestitionen und das Wettbewerbsrecht. Und sie drängen auf die Gründung einer Gesamtamerikanischen Freihandelszone (FTAA – Free Trade Area of the Americas).

Die Verfechter einer weiteren Liberalisierung des Handels sind überzeugt, dass alle heutigen Industrieländer ihren Reichtum allein dem Prinzip des Freihandels verdanken. Entsprechend kritisieren sie an den Entwicklungsländern, dass sie sich schwer tun, das so bewährte Rezept für wirtschaftliche Entwicklung zu übernehmen. Nur ist diese Sicht der Dinge durch die historischen Fakten überhaupt nicht gedeckt. In Wirklichkeit haben die entwickelten Länder, als sie sich selbst noch in der Phase der Entwicklung befanden, keine einzige der politischen Strategien befolgt, die sie heute anempfehlen, schon gar nicht die viel gepriesene Freihandelspolitik. Die größte Diskrepanz zwischen Mythos und historischer Realität zeigt sich dabei ausgerechnet im Falle Großbritanniens und der USA, das heißt bei den beiden Ländern, die ihre führende Rolle in der heutigen Weltwirtschaft angeblich einer auf den freien Markt setzenden Entwicklungsstrategie verdanken.

Dass Großbritannien schon immer der große Vorkämpfer des Freihandels gewesen sei, ist ein Ammenmärchen. In Wahrheit hat das Land lange Zeit eine ausgesprochen dirigistische Politik verfolgt – sie in gewisser Hinsicht überhaupt erst erfunden – um so seine wichtigsten Industriebranchen zu schützen und zu fördern. Diese Strategie wurde in begrenztem Umfang bereits im 14. und 15. Jahrhundert (unter Edward III. und Heinrich VII.) betrieben, und zwar zum Schutz des damals wichtigsten Gewerbezweiges: der Wollmanufakturen. Diese Politik verfolgte das Ziel, die englische Rohwolle, die zuvor immer in die Niederlande exportiert worden war, im eigenen Land zu verarbeiten. Zu diesem Zweck erhob man Ausfuhrzölle auf den Export von Rohwolle und warb Facharbeiter aus den Niederlanden an.1

In der Zeit zwischen der Handelsreform von 1721, die der erste britische Premierminister Robert Walpole durchgesetzt hat, und der Aufhebung der Korngesetze im Jahre 18462 verfolgte Großbritannien eine überaus aggressive Handelspolitik. Deren wichtigste Instrumente waren Schutzzölle, Exportsubventionen, ermäßigte Importzölle für Rohstoffe, die für die Produktion von Exportgütern nötig waren, sowie eine staatliche Qualitätskontrolle für Exportwaren. Man verfügte also über ein ganzes Arsenal „protektionistischer“ Instrumente, die heute eher zur Wirtschaftspolitik Japans und anderer Staaten Ostasiens passen würden. Weitgehend unbekannt ist auch, dass Großbritannien seine Industrie damals viel mehr abschirmte als alle übrigen europäischen Länder – insbesondere im Vergleich zu Frankreich, das ja immer als dirigistischer Gegenpol zum britischen Freihandelssystem wahrgenommen wird.

Erst mit der Aufhebung der Korngesetze von 1846 vollzog Großbritannien die entscheidende Wende in Richtung Freihandel, ohne sich allerdings ganz auf dieses Prinzip festzulegen. Diese Maßnahme wird bis heute weithin als der endgültige Sieg der klassischen liberalen Wirtschaftslehre über den traditionellen kleinkarierten Merkantilismus angesehen. Aber viele Historiker sehen darin einen Akt des „Freihandelsimperialismus“. Und der hatte in den Worten von Charles Kindleberger das Ziel, „den Fortschritt der Industrialisierung auf dem Kontinent aufzuhalten, indem der dortige Markt für Agrarprodukte und industrielle Rohstoffe angekurbelt wurde“.3 Genauso argumentierten bei der Kampagne für die Aufhebung der Korngesetze deren wichtigste Protagonisten, wie der Politiker Richard Cobden und John Bowring als Vertreter des Board of Trade.4

Großbritannien hatte also seine technologische Führungsposition, die ihm schließlich den Übergang zu einer Freihandelspolitik ermöglichte, „hinter hohen und sehr lange bestehenden Zollmauern“ erlangt, wie es der Wirtschaftshistoriker Paul Bairoch formuliert hat.5 Bereits der zeitgenössische Beobachter Friedrich List hat darauf aufmerksam gemacht. Der bedeutendste deutsche Ökonom des 19. Jahrhunderts und Vordenker des Deutschen Zollvereins gilt allgemein als Vater der modernen Theorie, der zufolge ökonomisch rückständige Länder in einer Umgebung aus entwickelten Ökonomien ihre neuen Industrien nicht ohne Intervention des Staates und vor allem nicht ohne Zollschutz nach außen entwickeln können. List verglich damals das britische Eintreten für den Freihandel mit dem Verhalten eines Mannes, der dem anderen die Leiter umstößt, ohne die er selbst nie über eine hohe Mauer gekommen wäre.6

Wahnsinnstat gegen den Warentausch

GROSSBRITANNIEN war das erste Land, das seine aufstrebende Industrie mit Erfolg durch gezielte Fördermaßnahmen unterstützte. Die eifrigsten Verfechter einer solchen Industrieförderungspolitik waren jedoch die Vereinigten Staaten, die Paul Bairoch deshalb als „Mutterland und Bollwerk des modernen Protektionismus“ bezeichnet.7 Es ist also durchaus kein Zufall, dass die erste systematische Begründung für eine staatliche Industrieförderung von US-amerikanischen Denkern entwickelt wurde, wobei vor allem Alexander Hamilton, der erste Finanzminister der USA, und der heute längst vergessene Ökonom Daniel Raymond zu nennen sind. Tatsächlich ist Friedrich List mit dem Konzept des temporären staatlichen Protektionismus – als dessen geistiger Vater er gilt – erstmals während seines Exils in den USA (1822–1830) in Berührung gekommen. In den USA hatten viele Intellektuelle und Politiker des 19. Jahrhunderts begriffen, dass das Konzept des Freihandels für ihr Land nicht das Richtige war, auch wenn sie damit gegen die Lehren so bedeutender Ökonomen wie Adam Smith oder Jean-Baptiste Say verstießen. Nach deren Meinung sollten die USA nämlich darauf verzichten, ihre Fertigungsindustrie zu schützen, und sich lieber auf die Agrarproduktion spezialisieren.8

Tatsächlich hielten die Vereinigten Staaten von 1830 bis 1945 ihre Zolltarife für industrielle Fertigwaren auf einem Niveau, das zu den höchsten der Welt gehörte. Und da ihre geografische Lage – wegen der bis in die 1870er-Jahre hohen Transportkosten – ohnehin eine starke „natürliche“ Protektion garantierte, kann man sagen, dass die US-amerikanische Industrie bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges in der Tat die weltweit bestgeschützte war. Selbst das protektionistische Smoot-Hawley-Zollgesetz von 1930, das für den bekannten Freihandelspropheten Jagdish Ghagwati die größte jemals gegen den freien Warentausch gerichtete „Wahnsinnstat“ war,9 hat den Protektionismus der US-Wirtschaft nur unwesentlich verschärft. Der durchschnittliche Einfuhrzoll für Fertigwaren lag nach diesem Zollgesetz bei 48 Prozent und damit lediglich im oberen Bereich der durchschnittlichen Zollsätze, die in den USA seit dem Sezessionskrieg (1861–1865) in Kraft gewesen waren. Nur im Vergleich zu dem kurzen „liberalen“ Zwischenspiel in der Zollpolitik von 1913 bis 1929 kommt im Zollgesetz von 1930 ein verschärfter Protektionismus zum Vorschein: gegenüber 1925 wurden die durchschnittlichen Zolltarife von 37 auf 48 Prozent angehoben.

In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass es im amerikanischen Sezessionskrieg neben der Abschaffung der Sklaverei auch und gerade um Fragen der Zollpolitik ging. Was die Zölle anging, hatte der Süden weit mehr zu befürchten als in der Frage der Sklaverei. Abraham Lincoln war ein Protektionist, der sich seine politischen Sporen in der liberalen Whig Party unter dem charismatischen Politiker Henry Clay verdient hatte.10 Clay war ein Verfechter des „amerikanischen Systems“, das auf die Förderung der eigenen Infrastruktur und auf Protektionismus setzte und das als Schutz „amerikanischer“ Interessen vor den „britischen“ Freihandelsinteressen gemeint war. Im Übrigen hielt Lincoln die Schwarzen für rassisch minderwertig und die Sklavenbefreiung für ein idealistisches und kurzfristig unrealisierbares Projekt. In der Anfangsphase des Krieges schrieb Lincoln in Reaktion auf einen Zeitungskommentar, der die sofortige Befreiung der Sklaven forderte: „Wenn ich die Union retten könnte, ohne einen einzigen Sklaven zu befreien, würde ich das tun; wenn ich sie retten könnte, indem ich alle Sklaven befreie, würde ich es auch tun; und wenn ich dasselbe Ziel erreichen könnte, indem einige befreit werden und andere nicht, würde ich es ebenfalls tun.“11 Demnach hätte Lincoln die Sklavenbefreiung im Jahre 1862 nicht so sehr aus moralischer Überzeugung verkündet, sondern aus strategischen Erwägungen, mit dem Ziel, den Bürgerkrieg zugunsten der Nordstaaten zu entscheiden.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als die US-Industrie sich eine unbestrittene Vorherrschaft gesichert hatte, liberalisierten die USA ihre Handelsbeziehungen – wenn auch nicht so eindeutig wie Großbritannien Mitte des 19. Jahrhunderts – und begannen, sich für den Freihandel stark zu machen. Damit hatte sich Friedrich Lists Metapher von der umgestoßenen Leiter ein zweites Mal bestätigt. Dass die Amerikaner sich in diesem Punkt nichts vormachten, bestätigt ein Zitat von General Grant, dem Helden des Sezessionskrieges und späteren US-Präsidenten (1868–1876): „Über Jahrhunderte hinweg hat England auf die Protektion seiner eigenen Wirtschaft gesetzt, dieses Prinzip zu äußerster Konsequenz getrieben und damit befriedigende Ergebnisse erzielen können. Ohne Zweifel verdankt England seine gegenwärtige Stärke ebendiesem System. Nach 200 Jahren dann schien es England genehm, das Prinzip des Freihandels zu übernehmen, weil es sich von der Protektion nichts mehr versprach. Nun denn, verehrte Herrschaften, was ich über mein eigenes Land weiß, bringt mich zu der Überzeugung, dass auch Amerika in 200 Jahren, wenn es von der Protektion alles bekommen hat, was sie bietet, das System des Freihandels übernehmen wird.“12

Großbritannien und die USA mögen besonders krasse Beispiele sein, aber auch die Geschichte der anderen Industrieländer ist nach diesem Muster verlaufen. Wann immer es für diese Länder darum ging, den Vorsprung der weiter entwickelten Länder aufzuholen, verlegten sie sich auf Schutzzölle, Subventionen und andere Instrumente der Industrieförderung. Interessanterweise setzten dabei Großbritannien und die USA, die angeblichen Stammländer der Freihandelspolitik, das Mittel der Schutzzölle am aggressivsten ein – und nicht etwa Länder wie Frankreich, Deutschland oder Japan. Während des gesamten 19. und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Zölle für Industrieprodukte in Frankreich und Deutschland mit 15 bis 20 Prozent relativ niedrig. Die japanischen Zölle lagen bis 1911 aufgrund einer Reihe von ungerechten Verträgen, die dem Land nach seiner wirtschaftlichen Öffnung (1853) aufgezwungen worden waren, sogar unter 5 Prozent. Demgegenüber verlangten Großbritannien und die USA im selben Zeitraum (bis in die 1860er-Jahre hinein) Einfuhrzölle für Industrieprodukte in einer Höhe von 40 bis 50 Prozent.

Die einzigen Ausnahmen von diesem historischen Grundmuster sind die Schweiz und die Niederlande. Beide Länder standen jedoch im 18. Jahrhundert bereits an der Spitze des technologischen Fortschritts und waren deshalb auf Protektion nicht angewiesen. Die Niederlande hatten im Übrigen bis ins 17. Jahrhundert hinein eine ganze Reihe interventionistischer Maßnahmen ergriffen, um ihre Vorherrschaft im Handel, insbesondere in der Handelsschifffahrt auszubauen. Die Schweiz hingegen kannte bis 1907 kein Patentrecht – dem die heutigen neoliberalen Dogmatiker bekanntlich eine ungeheure Bedeutung beimessen. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Niederlande ihr 1817 eingeführtes Patentrecht 1869 wieder abschafften, mit der Begründung, Patente seien auf politischem Wege geschaffene Monopole, ergo mit den Grundsätzen eines freien Marktes unvereinbar. Dieses Argument scheinen die heutigen Freihandelsökonomen geflissentlich zu übergehen, wenn sie das Trips-Abkommen der WTO (Trade-related Intellectual Property Rights) unterstützen, das die internationale Durchsetzung von Patentrechten sicherstellen soll.13

Für viele Länder war die Schutzzollpolitik ein entscheidendes Element ihrer Entwicklungsstrategie, wenn auch nicht das einzige und nicht einmal unbedingt das wichtigste. Dazu kamen noch eine Menge anderer Instrumente wie: Exportsubventionen, Zollrabatte für importierte Waren, die für die Produktion von Exportwaren nötig waren, Gewährung von Monopolrechten, Kartellabsprachen, gezielte Kreditförderung, Investitionsplanung, Arbeitsmarktplanung, staatliche Förderung von industrieller Forschung und Entwicklung, Unterstützung von Institutionen, in denen privater und öffentlicher Sektor zusammenarbeiten. Von solchen gezielten Förderungsstrategien nimmt man gemeinhin an, sie seien nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan oder anderen Staaten Ostasiens erfunden worden, oder frühestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Dabei reichen einige dieser Maßnahmen viel weiter in die Vergangenheit zurück. Zudem haben die heute entwickelten Länder bei all ihren grundsätzlichen Gemeinsamkeiten die jeweiligen handels- und industriepolitischen Instrumente sehr unterschiedlich kombiniert. Offenbar gibt es für industrielle Entwicklung eben doch kein allgemein gültiges Modell.

Die wenigen neoliberalen Ökonomen, die über die protektionistische Vergangenheit der heute entwickelten Länder Bescheid wissen, behelfen sich mit folgender Argumentation: Der Protektionismus mag ja in der Vergangenheit die eine oder andere positive Wirkung gehabt haben, doch in der globalisierten Welt von heute sei er absolut schädlich. Die Überlegenheit des Freihandels zeige sich schon darin, dass die Wirtschaft der Entwicklungsländer in den letzten zwanzig Jahren liberaler Handelspolitik viel mehr gewachsen sei als in den vorangegangenen Jahrzehnten, in denen die Entwicklungsländer eher auf Protektionismus gesetzt haben.

Doch die Fakten sehen anders aus. Wenn der Freihandel eine so großartige Sache wäre, müsste sich nach den vielen Schritten zur Liberalisierung des Handels das Wirtschaftswachstum in den letzten 20 Jahren eigentlich beschleunigt haben. In Wirklichkeit ist jedoch die Weltwirtschaft in den Jahren zwischen 1960 und 1980 – als es weitaus mehr Schutzmechanismen und andere regulative Instrumente gab – viel schneller gewachsen als heute. In den „schlechten alten Tagen“ wuchs das globale Pro-Kopf-Einkommen durchschnittlich um etwa 3 Prozent, in den letzten 20 Jahren hingegen nur um 2,3 Prozent. In den entwickelten Ländern verlangsamte sich das jährliche Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens von durchschnittlich 3,2 Prozent in den Jahren 1960 bis 1980 auf durchschnittlich 2,2 Prozent von 1980 bis 1999. In den Entwicklungsländern halbierte sich die Wachstumsrate sogar von 3 auf 1,5 Prozent. Und wenn in den letzten zwei Jahrzehnten die chinesische und die indische Wirtschaft nicht so stark gewachsen wären – wohlgemerkt ohne Anwendung neoliberaler Rezepte –, dann würde dieser Wert noch niedriger liegen.

Das Ausmaß der Entwicklungskrise, die viele unterentwickelte Länder in den letzten zwanzig Jahren getroffen hat, wird an durchschnittlichen Wachstumsraten jedoch längst nicht deutlich. In Lateinamerika zum Beispiel ist das Wirtschaftswachstum praktisch zum Stillstand gekommen: das Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens, das in der Zeit von 1960 bis 1980 noch 3,1 Prozent betrug, sank auf ganze 0,6 Prozent in den Jahren 1980 bis 1999. Im Nahen Osten und in Nordafrika schrumpfte das Pro-Kopf-Einkommen in den letzten Jahren um durchschnittlich 0,2 Prozent, im subsaharischen Afrika sogar um 0,7 Prozent, während es zwischen 1960 und 1980 noch um 2,5 (Nordafrika) bzw. 2,0 Prozent (Subsahara-Afrika) zugelegt hatte. Hinzu kommt, dass viele ehemals kommunistische Länder seit Beginn ihres Übergangs zum Kapitalismus einen rasanten Verfall ihres Lebensstandards erlebt haben und heute nicht einmal mehr die Hälfte ihres Pro-Kopf-Einkommens in kommunistischen Zeiten erreichen.

Sein großes Versprechen hat das neoliberale Experiment also nicht gehalten: Es hat kein beschleunigtes Wachstum gebracht. Und dem sollten wir doch alle anderen gesellschaftlichen Projekte unterordnen – vom Gleichheitsprinzip bis zu den wichtigsten umweltpolitischen Zielen. Dennoch hat die neoliberale Auffassung von den Vorzügen des Freihandels ihre Dominanz noch immer nicht eingebüßt, und zwar dank eines ökonomisch-politisch-ideologischen Apparats, dessen Einfluss und Reichweite nur mit dem des Vatikans im Mittelalter vergleichbar ist.

Weil die neoliberalen Kräfte in den Regierungen der wichtigsten Industrieländer – vor allem der USA und Großbritanniens – einflussreiche Positionen besetzen, prägen sie auch das politische Programm der maßgeblichen internationalen Organisationen, vor allem des IWF, der Weltbank und der WTO. Und da dieselben Kräfte auch in den Mainstream-Medien in aller Welt das Sagen haben, können sie Sorge dafür tragen, dass unliebsame Informationen wie die zitierten schwachen Wachstumsraten nicht an die große Glocke gehängt werden. Und dann gibt es noch die neoliberalen Wirtschaftswissenschaftler in den ökonomischen Fakultäten, die keine Dissidenten in die erlauchten akademischen Kreise vordringen lassen und ihnen wissenschaftliche Autorität vorenthalten wollen.

In den Entwicklungsländern haben die neoliberalen Kräfte die Zügel noch fester in der Hand. Für viele bedeutet die fortdauernde Entwicklungskrise, dass sie die von IWF, Weltbank und den wichtigsten Geberländern verordneten Strukturanpassungen durchführen müssen, und zwar selbst dann, wenn diese die Entwicklungskrise, die sie in die Abhängigkeit geführt hat, nur noch weiter verlängern. In diesen Ländern gibt es zudem mächtige Interessengruppen, die von der neoliberalen Politik profitieren. Das gilt für die Exporteure von Rohstoffen oder für Firmen, die Dienstleistungen für ausländische Unternehmen anbieten. Politische Alternativen werden in diesen Ländern kaum mehr artikuliert, weil die meisten Intellektuellen sich nicht mehr trauen, den neoliberalen Dogmen entgegenzutreten. Wenn etliche dieser Intellektuellen ins andere Lager „übergelaufen“ sind, so ist auch das nicht verwunderlich, denn ein Gutachten für den IWF oder die Weltbank bringt ein Honorar, für das ein Akademiker in den meisten Entwicklungsländern normalerweise mehrere Jahre arbeiten müsste.

Ökonomische Analphabeten

DA die neoliberalen Kräfte die politischen und intellektuellen Diskussionen dominieren, können sie ihre Kritiker als feige Schlappschwänze abkanzeln, die es nicht aushalten, wenn auf kurze Sicht die Einkommensunterschiede anwachsen und dafür langfristig größerer Wohlstand für alle erzielt wird. Oder als ökonomische Analphabeten, die einfach nicht kapieren, wie die Welt tickt. Auf diese Weise werden ernsthafte Debatten vermieden und die Abweichler systematisch mundtot gemacht, was die neoliberale Dominanz weiter verstärkt.

Grundsätzlich sei festgehalten: Es gibt tatsächlich viele gute theoretische Gründe für die Annahme, dass der freie Handel zwischen Gesellschaften mit sehr unterschiedlichem Produktionsniveau für die ärmeren Länder kurzfristige Vorteile bringen kann, weil ihnen dann größere Exportmärkte zur Verfügung stehen. Ebenso plausibel ist jedoch, dass der Freihandel die langfristige Entwicklung dieser Länder beeinträchtigt, weil er sie auf Fertigungsprozesse mit niedriger Produktivität festlegt. Dieses Problem haben übrigens kluge Politiker in Ländern, die zu einer ökonomischen Aufholjagd angesetzt haben, klar gesehen und als Grund für ihre Ablehnung der Freihandelsstrategie angeführt. Das gilt für Robert Walpole und Alexander Hamilton im 18. Jahrhundert wie für die japanischen und koreanischen Wirtschaftsbürokraten in der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Freihandelsabkommen zwischen Ländern mit sehr unterschiedlichem Produktionsniveau haben in der Regel schon deshalb nicht lange Bestand, weil den ärmeren Ländern mit der Zeit aufgeht, dass sie ihrer ökonomischen Entwicklung nicht förderlich sind. So gesehen haben Freihandelsvereinbarungen zwischen Ländern mit ähnlichem Entwicklungsniveau wie etwa Mercosur und Asean14 langfristig größere Erfolgsaussichten als Freihandelszonen, in denen Länder mit unterschiedlichem Entwicklungsniveau zusammengeschlossen sind, wie in der von den USA propagierten Gesamtamerikanischen Freihandelszone. Schon Friedrich List sah durchaus keinen Widerspruch zwischen seinem Eintreten für den Deutschen Zollverein einerseits und für einen Schutz der aufstrebenden Industrie andererseits. Er ging nämlich davon aus, dass die deutschen Kleinstaaten einen einigermaßen ähnlichen Entwicklungsstand erreicht hatten, weshalb ein zwischen ihnen geschlossenes Freihandelsabkommen langfristig allen beteiligten Staaten zugute kommen musste.

Die einzige Methode, nach der eine Freihandelszone funktionieren kann, die Länder mit unterschiedlichem Entwicklungsniveau umfasst, ist die einer vertieften Integration, wie sie die Europäische Union anstrebt. Hier sind nämlich öffentliche Transferzahlungen von den reicheren in die ärmeren Länder ebenso möglich wie umgekehrt die Wanderung von Arbeitskräften aus den armen in die reichen Länder. Aber dieses Modell kann nur funktionieren, wenn die ärmeren Volkswirtschaften im Vergleich zu den reichen deutlich in der Minderzahl und relativ kleiner sind, denn andernfalls wäre so ein Abkommen für die reicheren Ländern zu kostspielig. Genau deshalb wird der Erweiterungsprozess der EU wahrscheinlich auch zum Stillstand kommen, bevor relativ arme und große Länder wie die Türkei und die Ukraine beitreten können.

Was heißt das nun für die Welthandelsorganisation? Der WTO-Vertrag ist ja kein umfassendes Freihandelsabkommen, er gewährt den Entwicklungsländern durchaus noch einen gewissen Spielraum für den Schutz ihrer Industrien. Dennoch geht der Druck im Rahmen der WTO-Verhandlungen eindeutig dahin, die Zollschranken für Industrieprodukte weiter zu senken. Vor kurzem haben die USA vorgeschlagen, sämtliche Zölle bis 2015 praktisch ganz abzuschaffen. Die WTO hätte damit noch mehr Möglichkeiten, die Entwicklungsanstrengungen der armen Länder zu durchkreuzen, als es bei der geplanten Gesamtamerikanischen Freihandelszone oder sogar der Nafta (für Mexiko) der Fall ist, da die Produktivitätsunterschiede unter den WTO-Mitgliedsländern so groß sind.

In einer Hinsicht jedoch zielt das WTO-Abkommen über die üblichen Freihandelsabkommen hinaus: es betrifft auch die „Rechte an geistigem Eigentum“, die Kontrolle über ausländische Investitionen und öffentliche Ausschreibungsverfahren – und bedeutet somit ein zusätzliches Handicap für die Wirtschaftsentwicklung der ärmeren Mitgliedsländer.

Trotz all dieser Nachteile halten die meisten Entwicklungsländer derzeit an einer WTO-Mitgliedschaft fest. Denn sie erlaubt ihnen wenigstens ein gewisses Mitspracherecht bei der Gestaltung des Welthandelssystems, zumal die Organisation jedenfalls theoretisch am Prinzip „One country – one vote“ festhält. Auch genießen diese Länder damit einen gewissen Schutz vor dem Druck, den einzelne Industrieländer – insbesondere die USA – auf sie auszuüben versuchen.

Diese Einstellung zur WTO könnte sich aber durchaus ändern, denn bei den Entwicklungsländern macht sich zunehmende Unzufriedenheit mit deren Wirken bemerkbar. Das liegt vor allem daran, dass die WTO faktisch eben doch ein oligarchisches System darstellt, das von den entwickelten Ländern beherrscht wird. Die mächtigen Staaten können die schwächeren Mitglieder nämlich nicht nur durch gutes Zureden oder harte Drohungen auf Linie bringen – wie es in allen demokratischen Systemen zwischen ungleichen Partnern der Fall ist –, sondern haben es oft nicht einmal nötig, sich auf „demokratische“ Spielchen einzulassen. Das zeigt sich sehr deutlich bei den berüchtigten „Green Room“-Besprechungen, zu denen die Vertreter der Entwicklungsländer erst gar nicht eingeladen werden oder – sollten sie doch auftauchen – mit handfesten Mitteln am Zutritt gehindert werden. Das Ergebnis solcher exklusiven Beratungen ist ein politisches Programm, das äußerst einseitig auf die Interessen der mächtigen WTO-Länder geeicht ist.

Wenn die WTO den armen Ländern weiterhin keine faire Entwicklungsperspektive bietet, ist nicht völlig auszuschließen, dass sich viele von ihnen aus der Organisation verabschieden. Doch könnten sie umgekehrt auch versuchen, die demokratischen Strukturen der WTO voll auszunutzen, um die Grundregeln des Welthandels neu zu verhandeln. Sollten die Entwicklungsländer dies versuchen, könnten allerdings die mächtigsten Länder – allen voran die USA mit ihrem politischen und wirtschaftlichen Unilateralismus – sich dazu entschließen, aus der WTO auszutreten, ehe sie in einer wichtigen Frage eine Niederlage riskieren. Eine solche Entwicklung würde das Ende des Freihandels in seiner jetzigen Form bedeuten – was nach der Bilanz der letzten 200 Jahre vielleicht gar nicht so sehr zu bedauern wäre.

deutsch von Niels Kadritzke

* Professor an der Universität Cambridge (Faculty of Economics and Politics), Autor des Buches „Kicking Away the Ladder – Development Strategy in Historical Perspective“, London (Anthem Press) 2002, auf dem dieser Artikel beruht.

Fußnoten: 1 In seinem fast vergessenen Buch „A Plan for the English Commerce“ von 1728 hat der berühmte Kaufmann, Politiker und Romanautor Daniel Defoe (Autor von „Robinson Crusoe“) beschrieben, wie sich England unter dem Haus Tudor und insbesondere unter Heinrich VII. (1485–1509) und Elisabeth I. (1558–1603) zum weltweit dominierenden Produzenten von Wollwaren entwickelt hat, und zwar durch gezielte staatliche Eingriffe. 2 Mit den Korngesetzen von 1815 hatte das englische Parlament gegen den Widerstand der Industriellen und der städtischen Bourgeoisie extrem hohe Importzölle auf Weizeneinfuhren vom Kontinent eingeführt. 3 Siehe Charles Kindleberger, „Germany’s Overtaking of England, 1806 to 1914“, in „Economic Response: Comparative Studies in Trade, Finance, and Growth“, Cambridge, Mass. (Harvard University Press) 1978. 4 So argumentierte Cobden, die Industrien hätten sich auf dem Kontinent kaum so schnell entfalten können, wenn nicht die hohen Nahrungsmittelpreise in Großbritannien den kontinentalen Ländern mit ihren „billiger ernährten Arbeitern“ einen Wettbewerbsvorteil verschafft hätten. Siehe dazu Erik Reinert, „Raw Materials in the History of Economic Policy – Or why List the protectionist and Bobden the free trader both agreed on free trade in corn“, in: G. Cook, Ed., „The Economics and Politics of International Trade – Freedeom and Trade“, Volume 2, London (Routledge) 1998. 5 Paul Bairoch, „Economics and World History – Myths and Paradoxes“, Brighton (Wheatsheaf) 1993. 6 Friedrich List, „Das nationale System der Politischen Ökonomie“, Berlin (Akademie-Verlag) 1982. 7 Paul Bairoch, a. a. O., S. 30. 8 So schrieb Adam Smith in seinem 1776 verfassten Hauptwerk: „Were the Americans […] to stop the importation of European manufactures and, by thus giving a monopoly to such of their own countreymen as could manufacture the like goods, divert any considerable part of their capital into this employment, they would retard instead of accelerating the further increase in the value of their annual produce, and would obstruct instead of promoting the progress of their country towards real wealth and greatness.“ Zitat aus: „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“, New York (Random House) 1937. 9 Jagdish Bhagwati, „Protectionism“, Cambridge, Mass. (MIT Press) 1985. 10 Henry Clay gehörte auch zu den führenden Köpfen der 1817 gegründeten American Colonization Society, deren Ziel es war, in Afrika einen Staat für befreite Sklaven zu gründen. Die 1820 gegründete Republik in Westafrika bekam daher den Namen Liberia. 11 Zit. n. John Garraty and Mark Carnes, „The American Nation – A History of the United States“, 10. Aufl., New York (Addison Wesley Longman) 2000. 12 Zit. n. André Gunder Frank, „Capitalism and Underdevelopment in Latin America“, New York (Monthly Review Press) 1967. 13 Ein Patentrecht wurde in den Niederlanden erst 1912 wieder eingeführt. 14 Zum Mercosur (Markt des Südens) gehören Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay, zur Asean (Assoziation südostasiatischer Länder) Brunei, Kambodscha, Indonesien, Laos, Malaysia, Birma, Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam. Nur Singapur ist ein wirklich entwickeltes Land (der Reichtum von Brunei basiert ausschließlich auf Öl).

Le Monde diplomatique vom 13.06.2003, von HA-JOON CHANG