13.06.2003

Die Furcht der Insel vor der dritten Besatzung

zurück

Die Furcht der Insel vor der dritten Besatzung

EINGELEITET hatte der maltesische Ministerpräsident den Beitritt Maltas zur EU im Jahr 1990, doch Ende 1997 hatte die Regierung des Inselstaates den Antrag auf Beitritt zurückgezogen. Auch nun, da der Beitritt mit der EU-Konferenz in Athen besiegelt ist, bleibt Skepsis. Viele glauben nach wie vor, durch eine Politik der Neutralität hätten sie ihre geopolitische Lage besser ausnützen und sich günstigere Bedingungen aushandeln können. Von der EU hat Malta indes viele Zugeständnisse erhalten, darunter die freie Jagd auf Zugvögel – auch im Frühjahr. Dies ist der letzte Beitrag unserer Serie „Länder vor dem EU-Beitritt“.

Von STEFANO LIBERTI *

Die Phönizier nannten den Archipel Malet (Paradies), die Römer Melita, und die Araber schließlich Malta. Die fünf kaum 316 Quadratkilometer umfassenden Inseln – Malta, Gozo, Comino und die unbewohnten Cominotto und Filfla – südlich von Sizilien im Herzen des Mittelmeers werden ab dem 1. Mai 2004 als kleinster Staat der Europäischen Union angehören. Mit der Unterschrift unter den Beitrittsvertrag am 16. April 2003 während des Gipfeltreffens in Athen hat Edward FenechAdami den Prozess der Integration in die EU formal besiegelt. Dieser Prozess war weder einfach noch geradlinig.

Am 8. März 2003 haben die Malteser Bürger über den EU-Beitritt abgestimmt. Obwohl dieses Referendum für die Regierung nicht bindend war, ging seine politische Bedeutung weit über die engen Grenzen des Inselstaats hinaus: Ein eventuelles „Nein“ hätte nicht nur die europafreundliche Politik des nationalistischen Premierministers Edward Fenech Adami in Schwierigkeiten gebracht, sondern womöglich auch einen Domino-Effekt bei den anderen Beitrittskandidaten ausgelöst. Die als Euroskeptiker bekannten Malteser waren nämlich die Ersten, die über diese Frage abstimmten1 , weshalb Europa am Tage der Abstimmung das Geschehen auf der paradiesischen Insel gespannt verfolgte.

Der mit 53,65 Prozent knappe Sieg der Beitrittsbefürworter zeigt deutlich, wie tief gespalten die maltesische Bevölkerung ist. Dem Referendum war ein intensiver, von heftigen Ausfällen begleiteter Wahlkampf vorausgegangen. Er war dominiert von den einander entgegengesetzten Positionen der beiden Männer, die seit mehr als zehn Jahren unangefochten das politische Leben Maltas bestimmen: Auf der einen Seite der gegenwärtige Ministerpräsident Fenech Adami von der nationalistischen Partei (PN), der ein begeisterter Befürworter des Betritts ist, und auf der anderen Seite Alfred Sant, Führer der oppositionellen Labour-Partei (MLP), als hartnäckiger Isolationist und harscher Kritiker der Brüsseler Bürokratie bekannt. Dieser Gegensatz hat die maltesische Politik während der ganzen 1990er-Jahre geprägt: Der Beitrittsprozess wurde von Fenech Adami 1990 in seiner ersten Regierungszeit in Gang gesetzt, von Sant dagegen, als er in den Jahren 1996 bis 1998 Ministerpräsident war, auf Eis gelegt, um erst nach der Wiederwahl des Kandidaten der Nationalisten abermals aufgenommen zu werden.

Seufzer der Erleichterung

IN Brüssel nahm man den Ausgang des Referendums mit einem Seufzer der Erleichterung zur Kenntnis, doch auf Malta war der Konflikt dadurch keineswegs ausgestanden. Der rein konsultative Charakter der Volksbefragung ließ Raum für alle möglichen Spekulationen, wie die einander entgegengesetzten Einschätzungen der Kontrahenten nach dem Wahlausgang zeigten: Während Fenech Adami strahlend behauptete: „Der Sieg hat den starken Wunsch der maltesischen Bevölkerung zum Ausdruck gebracht, der EU beizutreten“, stellte Sant die verfängliche Rechnung auf, dass die 142 000 Jastimmen nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten repräsentiere. Zudem sei die Befragung ohne bindenden Charakter.

Das abschließende Urteil über den EU-Beitritt Maltas war also noch nicht gesprochen, aber die Zeit wurde immer knapper. Da er auf dem Gipfel in Athen mit einem klaren politisches Votum auftreten wollte, ließ Fenech Adami für den 13. April, den letztmöglichen Termin vor dem Gipfel, Neuwahlen ausschreiben. Mit dieser dramatischen Entscheidung wurde die Wahl von vornherein zu einer Art Russischem Roulette für den Ministerpräsidenten und zu einem Showdown zwischen den politischen Gegnern. Ihre historische Bedeutung wurde schon allein daran deutlich, dass tausende Malteser, die im Ausland leben, zur Wahl extra in die Heimat zurückkehrten. Die staatliche Fluglinie Air Malta bot zu diesem Zweck Billigflüge an. In den Krankenhäusern waren Freiwillige den Patienten behilflich, um möglichst allen die Teilnahme an der Wahl zu ermöglichen. Entsprechend erschienen in den Wahllokalen, in denen den ganzen Tag ein großer Andrang herrschte, Frauen und Männer auf Bahren, in Rollstühlen und an Krücken. Das Ergebnis: eine Wahlbeteiligung von 96 Prozent und ein zwar knapper, aber entscheidender Sieg für die Nationalisten.2

Durch diesen Erfolg der MLP war die Entscheidung für den EU-Beitritt Maltas endgültig: Während Fenech Adami schon seine Koffer für Athen packte, gestand Sant seine Niederlage ein und erklärte im Fernsehen, wie bei solchen Gelegenheiten üblich, er werde die Entscheidung des souveränen Wählers selbstredend respektieren.

Im Gegensatz zu anderen Beitrittsländern, in denen das Problem der Europäischen Union für die öffentliche Meinung nur eine untergeordnete Rolle spielt (wie sich unter anderem an der geringen Beteiligung bei den entsprechenden Referenden zeigt), steht es in Malta ganz oben auf der Tagesordnung und beherrschte über zehn Jahre lang die politische Debatte und jede politische Veranstaltung. Dabei hat sich ein tiefer Graben quer durch den ganzen Archipel aufgetan, an dem sich zwei ganz unterschiedliche politische Visionen und Traditionen unversöhnlich gegenüberstehen. Sant auf der einen Seite knüpft an die in der Vergangenheit von der Labour-Partei und ihrem legendären Führer Dom Mintoff, Premierminister von 1971 bis 1984, verfolgte Politik an. In enger Bindung an die Staaten des südlichen Mittelmeerraums und insbesondere an Libyen hatte Mintoff in der Zeit des Kalten Krieges durch geschickte Ausnützung der geostrategischen Lage Maltas eine Politik der Neutralität verfolgt, um damit ein Maximum an Zugeständnissen von beiden Blöcken zu erreichen. Auch Mintoffs unmittelbarer Nachfolger Karmenu Mifsud Bonnici hielt sich ebenso wie der gegenwärtige Führer der MLP Sant, der ansonsten ein Gegner Mintoffs3 ist, an die zwei politischen Grundsätze des ehemaligen Premierministers: Neutralität und Blockfreiheit.4 Während seiner fünfjährigen Tätigkeit als Beamter in Brüssel hatte Sant eine sehr persönliche Abneigung gegen die EU entwickelt, die er in seinem Buch „Geständnisse eines maltesischen Europäers“ als eine Art politisches Manifest veröffentlichte. Sant ist alles andere als ein vorsichtiger Diplomat, denn er wurde dafür bekannt, dass er Nicole Fontaine, die Präsidentin des Europaparlaments, als „Taliban“ bezeichnete und Günter Verheugen, den deutschen Kommissar für die EU-Erweiterung, bei dessen Malta-Besuch an die im Zweiten Weltkrieg durch die deutsche Luftwaffe erlittenen Schäden erinnerte. Doch Sant bringt mit derartigen Äußerungen ohne Zweifel die Befürchtungen eines großen Teils der maltesischen Bevölkerung zum Ausdruck, die im nahenden Europa von Schengen einen „dritten Eroberungskrieg“ gegen die Inseln sehen, vergleichbar mit dem des türkischen Sultans Suleiman im Jahre 1565 und dem durch die deutsche Luftwaffe 1940.

Die zahlreichen, weit verbreiteten Ängste reichen von der Sorge darum, ob die einheimischen Märkte der europäischen Konkurrenz werden standhalten können, über die Erwartung eines schwindelhaften Anstiegs der Immobilienpreise bis hin zum Bedauern über den Verlust der stolz gehüteten militärischen Neutralität. Letztere hat hohe symbolische Bedeutung: Seit der Unabhängigkeit Maltas im Jahr 1964 hatte es zwischen dem neuen Inselstaat und Großbritannien Auseinandersetzungen darüber gegeben, ob die ehemalige Kolonialmacht ihre Militärstützpunkte auf Malta behalten dürfte. Um diese Frage zu beenden, hatte die Labour-Regierung unter Mintoff am 14. Mai 1981 im Parlament eine Neutralitätserklärung eingebracht, derzufolge künftig keine fremden Militärs auf der Insel stationiert sein sollten. Nun fürchten die Gegner eines EU-Beitritts, zu denen neben der MLP und einigen mit ihr verbundenen Komitees vor allem die größte Gewerkschaft des Landes, die General Workers Union5 , gehört, nach kaum vierzig Jahren Unabhängigkeit eine neue „Kolonisierung“.

Während die Beitrittsgegner Europa als Eroberer fürchten, hoffen die Befürworter darauf, Zugang zu einem Markt von 500 Millionen Verbrauchern zu erhalten. Da der Warenaustausch mit der EU bereits 75 Prozent des gesamten Außenhandels ausmacht, wird die vollwertige Zugehörigkeit zur europäischen Familie als Grundvoraussetzung für ökonomischen Wohlstand und Stabilität erachtet. Davon ist zumindest die Nationalistische Partei überzeugt, für die der EU-Beitritt schon immer einen Eckpfeiler ihrer Politik darstellte. Bereits als Fenech Adami 1987 zum ersten Mal die Regierung übernahm, hatte er in seinem Wahlkampf betont, Malta müsse sich Europa nähern und deshalb den Eintritt in die Europäische Gemeinschaft anstreben. „Wir lehnen jede Erpressungstaktik ab: Unsere Politik muss geradlinig sein und sich ihre Verbündeten dort suchen, wo unsere politische und kulturelle Affinität liegt, das heißt im Westen“, erklärte Adami bei einem seiner ersten öffentlichen Auftritte.6

In Anlehnung an Mintoff träumt die Labour-Partei dagegen von einem flexiblen Partnerschaftsvertrag, der Malta zu einer Art „Schweiz des Mittelmeers“ machen sollte, wie es Alfred Sant gerne formuliert. Dieser Partnerschaftsvertrag sollte den Status quo im Verhältnis Malta–Brüssel mehr oder weniger beibehalten und sich an den EU-Assoziationsvertrag von 1971 anlehnen, in dem die EU partiell die Zölle aufgehoben sowie zu einzelnen Projekten Unterstützung zugesagt hatte. Sant hat den Hinweis auf die Schweiz mit Bedacht gewählt, und zwar in zweifacher Hinsicht: Politisch ist damit das Modell der Neutralität und der Blockfreiheit gemeint, wirtschaftlich das des Bankgeheimnisses und der verdeckten Finanzgeschäfte. Schon lange war es der MLP ein Dorn im Auge, dass die Nachfolgeregierungen die Steuer- und Bankgesetze Maltas an die eisernen Regeln des „europäischen Standards“ angleichen wollten, was die einstige Attraktivität der Insel als Steuerparadies für ausländische Investoren deutlich minderte. In den letzten Jahren hatte Malta sich bereits an die von der OECD geforderten Regelungen zur Verhinderung von Geldwäsche angeglichen und sich gezwungen gesehen, das Seehandelsrecht zumindest teilweise zu verschärfen, um dem Ruf Maltas als Sitz von Billigflotten entgegenzuwirken.7 Die Europagegner hatten immer auf die enormen sozialen Kosten dieser Angleichung hingewiesen und argumentiert, der Status quo ante sei sowohl ökönomisch als auch politisch vorteilhafter gewesen. Die Labour-Partei rechnete mehrmals vor, dass die Beitrittskosten weit über den 81 Millionen Maltesische Pfund8 liegen würden, die Malta als Finanzhilfe in den ersten drei Jahren nach dem Beitritt aus Brüssel erhalten wird.

Trotz der Proteste der Labour-Partei und der verbreiteten Ängste in der Bevölkerung hat die Regierung große Verhandlungserfolge erzielt. Zwar musste die Regierung zur Erfüllung der Beitrittskriterien durchgreifende Reformen einführen, sie hat aber dennoch in 77 Fällen einen Aufschub zur Erreichung des EU-Standards erhalten. Einige dieser Ausnahmebestimmungen betreffen keineswegs zweitrangige Fragen: etwa die Mehrwertsteuer, die in Malta nicht existiert, die Begrenzung der Zuwanderungsfreiheit für Arbeitskräfte aus der EU bis zum Jahr 2008, Restriktionen für Eigentumserwerb für Nichtmalteser, ein Protokoll über die Abtreibung (in einem weitgehend katholischen Land, in dem Schwangerschaftsabbruch und Scheidung verboten sind), die Aufrechterhaltung der freien Jagd auf Zugvögel im Frühjahr (ein entscheidender Kompromiss, da dieser Sport alljährlich von 18 000 Maltesern ausgeübt wird) und, last but not least, die Aufrechterhaltung der Neutralität (also des Verbots, die fremden Streitkräfte die Nutzung der vorhandenen Basen zu gestatten) sowie Anerkennung des Maltesischen als offizielle Sprache der EU, was die Iren und Luxemburger für ihre Sprachen nicht geschafft haben.

Die Nachgiebigkeit der EU gegenüber Malta überrascht, zumal das Land kaum ökonomisches Gewicht hat. Doch ein Blick auf die Landkarte genügt: als logistischer Vorposten der EU nur neunzig Kilometer südlich von Italien kann man von Malta aus die Straße von Sizilien und damit den Übergang zwischen den zwei großen Becken des Mittelmeers kontrollieren, weshalb der Archipel immer einen unleugbaren strategischen Wert besaß. Aus diesem Grund äußerte Napoleon gegenüber seinen Beratern im Jahre 1800, als er sich von der kaum zwei Jahre zuvor eroberten Insel vor der britischen Übermacht zurückziehen musste, er sähe die Engländer lieber in Montmartre als in La Valletta.

deutsch von Friederike Hausmann

Dieser Text erscheint nur in der deutschsprachigen Ausgabe

* Lebt als Journalist (il Manifesto) in Rom, Herausgeber der italienischen Le Monde diplomatique.

Fußnoten: 1 Nach Malta führten auch Slowenien, Ungarn, Litauen und die Slowakei entsprechende Abstimmungen durch. 2 Die PN erhielt 51,8 Prozent der Stimmen und 34 Sitze im Parlament, gegenüber 47,6 Prozent und 31 Sitzen für die MLP. Die dritte politische Kraft der Insel, die Grünen der Alternattiva Demokratika, kam nur auf 0,7 Prozent und erhielt keinen Sitz. 3 1998 stimmte der ehemalige Premierminister Dom Mintoff gegen die damalige Regierung Sant, die dadurch ihre Mehrheit verlor und zur Ausschreibung von Neuwahlen gezwungen wurde, die dann die Nationalisten gewannen. 4 Außer dem Einfrieren der Beitrittsverhandlungen für die EU ist Malta unter Sants Regierung auch aus dem Nato-Partnerschaftsrat für den Frieden ausgeschieden. 5 Vgl. zu den Gründen für die Ablehnung des EU-Beitritts durch die Gewerkschaft www.gwu.org.mt/eu_e.html. 6 „Malte et l’Europe: les retrouvailles. Entretien avec Eddi Fenech-Adami“, Politique internationale, 37, 1987. 7 Die maltesische Handelsflotte ist, gemessen an der Tonnage, die fünftgößte der Welt. Vgl. zu den jüngsten Reformen www.mma.gov.mt/pics/annualreport2002.pdf. 8 Ein Maltesisches Pfund entspricht 2,34 Euro.

Le Monde diplomatique vom 13.06.2003, von STEFANO LIBERTI