Die dienstälteste Regierungspartei der Welt
PARAGUAY gilt als eines der korruptesten Länder der Welt. Seit 57 Jahren regiert die von General Alfredo Stroessner gegründete, grimmig-konservative Colorado-Partei. Seit dem Sturz des Diktators im Februar 1989 ist Paraguay, zumindest auf dem Papier, eine Demokratie. Aber die Opposition bleibt schwach. Die Macht liegt nach wie vor in den Händen einer kleinen verschworenen Clique. Trotz aller Korruptionsvorwürfe und anhaltender innerparteilicher Querelen hat sich bei den Präsidentschaftswahlen am 27. April wieder der Colorado-Kandidat durchgesetzt.
Von RAPHAËLE BAIL *
Dreizehn Jahre war die Demokratie in Paraguay gerade alt, als sie sich im Februar 2002 ein groteskes politisch-juristisches Abenteuer leistete. Alles fing damit an, dass María Edith Debernardini, die Frau eines wohlhabenden Unternehmers, verschwand – und bis heute verschwunden blieb. Die Polizei behauptete, Debernardini sei von einer links gerichteten, auf Lösegelderpressung spezialisierten Guerilla entführt worden. Die kolumbianische Guerillabewegung Farc, hieß es in Paraguays Hauptstadt Asunción, handle schließlich genau nach diesem Muster.
Die Behörden bezichtigten zwei prominente Mitglieder der seit 1990 bestehenden Bürgerrechtsbewegung Patria Libre öffentlich der Entführung: Juan Arrom, den führenden Kopf der Bewegung, und den Journalisten Anuncio Martí. Nur kurze Zeit später verschwanden Arrom und Martí. Es sollte wohl so aussehen, als hätten die angeblich als Täter Ermittelten die Flucht ergriffen. Doch schließlich spürten Journalisten und Familienangehörige die beiden Männer – eingeschlossen und offensichtlich gefoltert – in einer Villa am Stadtrand von Asunción auf.
Schnell wurden Fragen laut: Warum hatte die Polizei vor dieser Enthüllung alles unternommen, um die Angehörigen der beiden Männer an der Suche zu hindern? Warum hatte die Regierung Arrom und Martí immer wieder beschuldigt und ihnen sogar noch unterstellt, sie hätten ihre eigene Entführung geplant und durchgeführt? Völlig ermattet und mit Folterspuren an den Handgelenken erklärte Arrom: „Ich wurde von der Polizei verhaftet. Sie wollten mir beziehungsweise Patria Libre die Beteiligung an einer Entführung unterschieben. Ich sollte eine rundum erfundene Verschwörung gegen die Regierung gestehen, an der nicht nur Patria Libre, sondern auch alle anderen Oppositionsparteien beteiligt gewesen seien. Es war wie zu Stroessners Zeiten.“ Dieses eine Mal sind die Machthaber Paraguays und ihr repressives Regime in der Tradition des Diktators Alfredo Stroessner auf frischer Tat ertappt worden. Dass Arrom und Martí Opfer eines gewalttätigen Staatsapparats geworden waren, lag auf der Hand.
Als sich Ende der Achtzigerjahre immer mehr Länder im südlichen Lateinamerika demokratische Strukturen gaben, schien auch Paraguay diesem Trend zu folgen. 1989 wurde Alfredo Stroessner nach 35 Jahren Herrschaft aus dem Land vertrieben. Damit ging eine der düstersten und brutalsten Diktaturen der Region zu Ende. Mindestens 150 000 Menschen haben in Stroessners Gefängnissen gesessen. In dem nur 5,6 Millionen Einwohner zählenden Land wird die Zahl der Toten und Verschwundenen auf 1 000 bis 3 000 geschätzt.1 Ein barbarisches Regime selbst in den Augen der Diktatoren aus den Nachbarstaaten – was sie jedoch nicht daran hinderte, die Archive der Operation Cóndor in Paraguay aufzubewahren, da sie dort am sichersten schienen.2 Nach dem Sturz Alfredo Stroessners hielt seine Colorado-Partei weiterhin die Zügel in der Hand. Die Herrschaft dieser Partei hatte schon 1947 begonnen – also lange bevor Stroessner an die Macht kam. Innerhalb der politischen Elite Paraguays hat sich seither nicht viel geändert. In der staatlichen Verwaltung sind Korruption und Vetternwirtschaft an der Tagesordnung. Um ein Beispiel zu nennen: Der Vater des derzeitigen, noch bis 15. August amtierenden Präsidenten Luis Ángel González Macchi war unter Stroessner Minister für Justiz und Arbeit.
Intrigen und Unberechenbarkeit bestimmen den Kurs der Colorado-Partei. Ihre politischen Kampagnen seit 1989 zeigen, dass die Demokratisierung in Paraguay gescheitert ist. General Lino Oviedo – der immerhin an Stroessners Sturz beteiligt war – spielt seit 1990 eine fatale Rolle im politischen Leben des Landes. Als Oviedo im April 1996 einen Putschversuch gegen Juan Carlos Wasmosy, den ersten gewählten Präsidenten Paraguays seit 50 Jahren wagte, hagelte es wütenden Protest von Seiten der Nachbarstaaten und Mercosur-Partner Argentinien, Brasilien und Uruguay. Die drei Länder warfen Oviedo vor, die Demokratie in der gesamten Region zu gefährden. In der Folge sah sich Paraguay – ein Paradies für Schmuggler und Supermarkt der Waffen – international weitgehend isoliert.
Der Machtkampf zwischen Juan Carlos Wasmosy und General Oviedo verschärfte sich, als Letzterer wegen der Anstiftung zum Staatsstreich von 1996 zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Mit Raúl Cubas ließ sich dann ein enger Verbündeter des Haudegens Oviedo „stellvertretend“ zum Nachfolger Wasmosys wählen. Prompt nutzte er seine neue Funktion, um den Putschgeneral freizulassen.
Während in dem Land inzwischen über zwei Millionen Arme leben,3 erreichte der ebenso erbitterte wie erbärmliche Kampf um die Macht seinen Höhepunkt: Vizepräsident Luis María Argaña, ein politischer Gegner von Raúl Cubas und Lino Oviedo, fiel einem Mordanschlag zum Opfer. Daraufhin kam es Ende März 1999 zu einer Revolte der Zivilgesellschaft. Von diesem Marzo Paraguayo („Paraguayischer März“) haben die internationalen Medien kaum Notiz genommen. Tausende Demonstranten, darunter viele Jugendliche, verlangten den Rücktritt Raúl Cubas’. „Alle wollten, dass unser Land noch einmal von vorn beginnt“, erinnert sich Richard Ferreira, der jetzt Journalist bei der Tageszeitung Ultima Hora ist.
In den Augen vieler Paraguayer handelte es sich bei diesem Aufstand gegen die Regierung und ihren Sicherheitsapparat um ein Ereignis von historischer Bedeutung, wenn nicht gar um einen Gründungsakt der jungen Demokratie. „Die Demonstranten haben nächtelang vor dem Kongress für Freiheit, Demokratie und Vaterland demonstriert und dabei ihr Leben riskiert“, schreibt Ferreira. „Das war die wichtigste politische Geste in unserer Geschichte. Endlich ging die Initiative einmal von den Bürgern des Landes selbst aus.“ Sieben Menschen starben, Präsident Cubas trat zurück, und General Oviedo musste ins Exil gehen – und trotzdem war der Triumph der Freiheit nur von kurzer Dauer. González Macchi wurde zum Interimspräsidenten bestellt. Er versprach baldige Wahlen, die schließlich vier Jahre später, am 27. April 2003, stattfanden.
Nach dem Aufstand von 1999 kehrte das Regime jedoch schnell zu seinem alten Stil zurück: einem grimmigen Konservatismus in sämtlichen politischen und wirtschaftlichen Fragen. Seither sind die Unzufriedenen des Paraguayischen März – Studenten, Intellektuelle, Journalisten, politische Aktivisten und Gewerkschafter – im Visier einer Regierung, die sie mit aller Gewalt zum Schweigen bringen will.
Auf der internationalen Bühne tritt Paraguay stets mit Vorsicht und Bedacht auf. Es wird dabei leicht übersehen, dass die seit Jahrzehnten an Stillhalten gewöhnte Bevölkerung gelernt hat, die Unterdrückung einfach hinzunehmen. Der Patria-Libre-Aktivist Juan Arrom hat keinen Zweifel, dass die Regierung ihm sein Engagement für die landlosen Bauern heimzahlen wollte – 90 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflächen Paraguays befinden sich in den Händen eines Zehntels der Bevölkerung.4 Arrom sieht nur eine Möglichkeit, gegen den „Staatsterrorismus“, wie er es nennt, zu kämpfen: „Wir müssen die Unterdrückungsmechanismen dieses Staates bloßstellen, ihm einen Riegel vorschieben, damit das System nicht immer so weitermachen kann. Sonst kann es in Paraguay nie eine echte Demokratie geben.“
Dass eine winzige Minderheit die politische Macht ausübt und dazu nutzt, den eigenen Besitzstand zu verteidigen, ist in Lateinamerika nichts Außergewöhnliches. Und so bedient man sich auch in Paraguay zur Durchsetzung privater Interessen der Mittel aus längst vergangenen Zeiten. Neuerdings jedoch bekommt das Regime im Zusammenhang mit dem „internationalen Kampf gegen den Terrorismus“ neue ideologische Waffen an die Hand. Eduardo Oreja, der Generalsekretär des Gewerkschaftsbundes CNT, führt aus: „Paraguay hat sich das Schema des 11. September zu eigen gemacht. Die Machthaber stempeln nach Möglichkeit alle Oppositionsbewegungen als kriminell ab und sagen ihnen Verbindungen zu einer Internationale des Terrorismus nach. Das ist erstens modern und zweitens ziemlich einfach.“
Der von den USA ausgerufene Kampf gegen die „Achse des Bösen“ hat in diesem Winkel der Erde eine regionale Besonderheit. Im Dreiländereck zwischen Brasilien, Paraguay und Argentinien leben viele Einwanderer aus dem Nahen Osten, unter ihnen auch viele Libanesen. Schon länger vermutet die CIA, dass die Hisbollah in der Region Stützpunkte unterhält. Das Attentat von 1992 auf die israelische Botschaft in Buenos Aires und der Anschlag vom Juli 1994 gegen das jüdisch-argentinische Sozialwerk (Amia) in Buenos Aires, bei dem 86 Menschen getötet wurden, haben diese Annahme anscheinend bestätigt. Seit dem 11. September 2001 werden den Paraguayern nun die Daumenschrauben angezogen. Laut amnesty international haben die Behörden vor kurzem siebzehn Araber verhaftet und später wieder auf freien Fuß gesetzt, weil man ihnen nichts vorzuwerfen hatte – bis auf einen, der des Landes verwiesen wurde. Im Oktober 2002 kamen Vertreter des amerikanischen Außenministeriums nach Paraguay, um dessen Polizei und Militär im „Kampf gegen den Terrorismus“ zu instruieren.
Der Druck aus den USA kommt der regierenden Colorado-Partei im Kampf gegen eine schwache, aber lästige Opposition ganz gelegen. Denn was wäre einfacher, als aufsässige politische Gegner zu verbrecherischen, terroristischen Staatsfeinden zu erklären – eine bequeme Anschuldigung, die US-Präsident Bush gern und häufig erhebt und an der schon längst niemand mehr Anstoß nimmt? Verbindungen etwa zwischen der paraguayischen Linken und der kolumbianischen Guerilla lassen sich im Handumdrehen konstruieren. Und dass die chilenische „Patriotische Front Manuel Rodríguez“ tatsächlich Washington Olivetto, den Chef der größten brasilianischen Werbeagentur, entführt hat, bedeutet Wasser auf die Mühlen der Regierung in Asunción.
Aus der Sicht des Gewerkschaftsbundes CNT mit seinen 80 000 Mitgliedern – 80 Prozent von ihnen sind Bauern – verbindet das Regime politische Unterdrückung, Kampf gegen den Terrorismus und autoritäre Durchsetzung des Neoliberalismus. Für Alternativen, die aus den Reihen der Linken kommen könnten, besteht von vornherein keinerlei Spielraum. Inzwischen steckt Paraguay auch wirtschaftlich in der Sackgasse. Die Industrialisierung des Landes hat noch nicht richtig begonnen, und die Preise für Agrarprodukte auf den internationalen Märkten schwächeln seit langem. Die Arbeitslosigkeit beträgt etwa 50 Prozent, und das durchschnittliche Jahreseinkommen der Paraguayer liegt mit 1 550 Dollar bei etwa einem Drittel des Nachbarlandes Uruguay.5
Paraguays Bauernbewegung ist offensiv und gut organisiert. Sie gilt als Speerspitze im Kampf um sozialen Fortschritt und gerät damit ins Visier des staatlichen Terrors, denn das Regime verteidigt die Interessen der ihm nahe stehenden Großgrundbesitzer. Dabei wird vorwiegend mit juristischen Mitteln gearbeitet, etwa mit der Einschränkung des Streikrechts; aber manchmal wird auch nackte Gewalt eingesetzt. Der Gewerkschafter Eduardo Oreja kann dem Fall Martí/Arrom deshalb sogar etwas Positives abgewinnen. „Endlich kommt einmal ans Licht, welcher Methoden sich unser Staat bedient“, sagt er. „Bisher ging das alles im Stillen vor sich. Seit 1989 sind 72 Bauern getötet worden, und 20 weitere sitzen vermutlich mit völlig willkürlichen Begründungen im Gefängnis.“
Im Juni des vergangenen Jahres haben die paraguayischen Bauern ihren Einsatz teuer bezahlen müssen. Bei Demonstrationen gegen die verordneten Privatisierungen erschoss die Polizei mehrere Menschen. Erbitterten Widerstand riefen vor allem der Verkauf der staatlichen Telefongesellschaft Copaco sowie die Unregelmäßigkeiten bei deren Abwicklung hervor: Ein mit Präsident Macchi befreundeter Notar erhielt zum Beispiel 500 000 Dollar, obwohl für sämtliche juristischen Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Transaktion die die staatliche Verwaltung zuständig war.
Hat der Widerstand der Paraguayer Aussicht auf Erfolg? In Asunción gab es nach der Freilassung von Arrom und Martí zwar nicht gerade Massenproteste, aber doch immerhin einige Solidaritätskundgebungen. Informationen sind nur schwer zu bekommen, und die Angst vor Polizei und Militär ist nach wie vor groß. Das erklärt auch, warum die Paraguayer gern behaupten, in ihrem Land herrsche „Ruhe“ und es gebe bei ihnen eben keine so spektakulären Tumulte wie in den Nachbarländern.
Mittlerweile sind die Privatisierungsverfahren suspendiert worden, der Entführungsfall Arrom und Martí beschäftigt weiter die Gemüter, und der Senat hat am 11. Februar ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Macchi abgeschmettert.6 In den Cafés der Hauptstadt verstummt das Gespräch, sobald sich ein Polizist am Eingang zeigt. Unter solchen Bedingungen kann es nicht verwundern, dass bei den Präsidentenwahlen am 27. April dieses Jahres ein gewisser Nicanor Duarte gewonnen hat. Er ist Vorsitzender der Colorado-Partei, die seit 57 Jahren ohne Unterbrechung an der Regierung ist.
deutsch von Herwig Engelmann
* Journalistin