Kuba und das Belagerungssyndrom
Von GIANNI MINA *
IN einem Artikel in der Los Angeles Times hat Wayne Smith, ehemals Chef der Abteilung für die Belange der Vereinigten Staaten in Kuba1 , am 16. Juni 2002 die Entscheidung Washingtons kritisiert, die Karibikinsel unter „die Länder, die den Terrorismus unterstützen“, einzustufen. Smith war 1962, als John F. Kennedy das nie wieder aufgehobene Embargo erließ, Diplomat in Havanna. Er leitete Ende der Siebzigerjahre im Auftrag des Präsidenten James Carter den einzigen echten Versuch einer Annäherung zwischen Washington und Havanna: „Wir standen kurz vor einem historischen Abkommen“, berichtet Smith, „als Ronald Reagan mit Hilfe von George Bush sen. Carter bei den Wahlen besiegte. Alles war hin. Schade, wir hätten fünfundzwanzig Jahre neuer Spannungen vermeiden können.“
Smith nimmt kein Blatt vor den Mund. Er legt dar, wie George W. Bush die Öffentlichkeit auf eine Invasion der Insel vorbereitet: „Die Kubapolitik der Bush-Administration stützt sich auf die Behauptung, das Land Fidel Castros sei ein uns feindlich gesinnter ‚Terroristenstaat‘. Aber warum sollen wir mit Kuba nicht ähnliche Beziehungen unterhalten wie mit China, Vietnam oder anderen nichtdemokratischen Staaten? […] Bush will keinen Dialog mit Kuba, obwohl das Land unbestreitbar den Terrorismus stets bekämpft hat. Ein Dialog könnte den Exilkubanern in Florida missfallen, die eine harte Linie gegen Havanna unterstützen, und das könnte den Bruder des Präsidenten bei seiner Wiederwahl zum Gouverneur von Florida Stimmen kosten […] Die Behauptung, Kuba sei ein ‚Terroristenstaat‘, untergräbt unsere Glaubwürdigkeit dort, wo wir sie am dringendsten brauchen: im Kampf gegen die wahren Terroristen.“
In Sachen Terrorismus gibt es einen Vorfall, der in diesen Zeiten eines neuen Kalten Krieges gegen Kuba nur schwer die Aufmerksamkeit der europäischen Medien findet. Als Anfang April 2003 die Welt von den inakzeptablen Strafen erfuhr, die in Havanna gegen nicht gewalttätige Oppositionelle verhängt worden waren, wurden gleichzeitig in den USA erheblich schwerere Urteile gegen fünf der „Verschwörung“ angeklagte Kubaner bestätigt. Einer von ihnen, der Karikaturist Gerardo Hernandez, wurde zu einer Gefängnisstrafe in Lompok, Kalifornien, verurteilt. Dauer: zweimal lebenslänglich plus 15 Jahre. Die fünf Kubaner hatten 33 Monate auf das Urteil gewartet, davon verbrachten sie siebzehn Monate in Isolationshaft und einen Monat im hueco (Loch). Sie durften erst wieder in eine gewöhnliche Zelle, nachdem einige amerikanische Linke eine Kampagne lanciert hatten. Der hueco ist ein fensterloser Kerker von zwei mal zwei Metern, in dem der Häftling ohne Schuhe, nur in Hemd und Unterhose sitzt. Grelles Licht blendet ihn rund um die Uhr. Jeder menschliche Kontakt, selbst mit den Wärtern, ist untersagt. In diesem Loch muss er das dauernde Geschrei der anderen Eingemauerten ertragen, die durchgedreht sind, weil sie das Eingeschlossensein nicht mehr ertragen.
Dabei hatten sich Gerardo Hernandez und seine Gefährten bei ihrem Prozess in Miami Ende 2001 lediglich geweigert, mit dem Gericht „zusammenzuarbeiten“. Alle hatten vor Beginn des Prozesses gestanden, Agenten des kubanischen Nachrichtendienstes zu sein und jahrelang in Florida nach den Urhebern terroristischer Aktionen gegen ihr Land gesucht zu haben. Doch das FBI wollte sie zwingen, Erklärungen gegen Kuba abzugeben. Sie sollten behaupten, ihr Land stelle „eine Gefahr für die Vereinigten Staaten“ dar und sie hätten sich eingeschlichen, um „Informationen über den amerikanischen Geheimdienst zu erlangen“.
Gerardo Hernandez, Antonio Guerrero, René Gonzales, Fernando Gonzales und Joaquin Méndez unterwanderten in den 1990er-Jahren paramilitärische Organisationen von Castro-Gegnern in Miami. Die Paramilitärs organisieren von Florida aus Attentate gegen Kuba, um dem Tourismus, dem Motor des wirtschaftlichen Neuaufschwungs der Insel, den Garaus zu machen. Die USA dulden also auf ihrem eigenen Territorium Kriminelle, die Anschläge gegen Kuba planen, das von den Falken in Washington als „Schurkenstaat“, sprich „Komplize des Terrorismus“, bezeichnet wird. Eines dieser Attentate2 kostete am 4. September 1997 im Hotel Copacabana in Havanna einen jungen Italiener das Leben. Den Sprengsatz legte ein Salvadorianer im Auftrag von Luis Posada Carriles.3 Carriles ist ein alter Kämpe des „schmutzigen Kriegs“ gegen Kuba und arbeitet, wie sein Freund Orlando Bosch, für die Cubano-American Foundation in Miami.
Carriles und Bosch waren auch schon an der Vorbereitung der Sprengung eines kubanischen Linienflugzeuges während des Flugs 1976 (73 Tote) sowie am Attentat auf den chilenischen Außenminister Orlando Letelier in Washington beteiligt, ohne dass irgendein amerikanischer Richter sie jemals belästigt hätte. Kuba, das seit vierzig Jahren unter dem Wirtschaftsembargo4 zu leiden hat, hätte sich umgekehrt derartige Aktionen gegen die USA niemals erlauben können.
Einer der fünf in Miami verurteilten Kubaner, René Gonzales, ist in den USA geboren. 1961 kehrte er mit seinen Eltern nach Kuba zurück und wurde Pilot. Eines Tages verließ René zur Überraschung aller Frau und Tochter, entführte ein Flugzeug und floh in die USA, wo er als Held empfangen wurde. In Miami begann für ihn ein neues Leben, wie für die anderen vier auf anderen Wegen nach Florida gekommenen Kubaner auch. Sie unterwandern anticastristische Organisationen, vor allem die Hermanos al rescate (Rettungsbrüder), eine Organisation, die sich offiziell für die Rettung der balseros5 einsetzt. Der Chef dieser Organisation, José Basurto, brüstet sich öffentlich mit seinen Provokationen, wie zum Beispiel der regelmäßigen Verletzung des kubanischen Luftraums mit kleinen Touristenflugzeugen, aus denen Flugblätter abgeworfen werden, die zur Dissidenz aufrufen. Durch die Informationen von Gonzales und seiner Gruppe alarmiert, schickten die kubanischen Behörden 23 diplomatische Noten an die US-Regierung und betonten den gefährlichen Charakter dieser Provokationsflüge. Washington rührte sich nicht. Bis am 24. Februar 1996 zwei Flugzeuge von Hermanos al rescate von der kubanischen Flugabwehr abgeschossen wurden. Die Flugzeuge von Hermanos al rescate hatten nicht nur den kubanischen Luftraum verletzt, sondern auch begonnen, die Funkfrequenzen der Kontrolltürme der Flughäfen von Havanna und Varadero zu stören.
Nach sechs Jahren in Miami war es Gonzales gelungen, seine Familie nachkommen zu lassen. Zu der Zeit hatten Castro und Clinton diplomatische Gespräche für einen gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus aufgenommen. Im Juni 1998 händigte Havanna dem FBI sogar die von der Gruppe aus Florida erhaltenen Informationen aus. Und genau diese Unterlagen führten zur Verhaftung der fünf kubanischen Antiterroragenten!
Der erste Prozess fand Ende 2001 in Miami statt. Aus Furcht vor Repressalien verzichteten 17 vom Gericht ausgewählte Anwälte. „Schon aus diesem Grund“, betont Paul McKenna, Pflichtverteidiger von Gerardo Hernandez, „hätte das Urteil nach unseren Gesetzen nicht in Miami gesprochen werden dürfen.“ Im Lauf der Verhandlungen räumte der Staatsanwalt ein, dass die fünf Kubaner zu keinerlei Informationen Zugang hatten, die die innere Sicherheit der USA betreffen. Er klagte sie auch nicht der Spionage an, sondern der „Konspiration mit dem Ziel, Spionage zu üben“, und beschuldigte sie, „die Absicht gehabt zu haben, ein Verbrechen zu begehen“. Trotz dieser juristischen Absonderlichkeit verurteilten die Geschworenen sie zu schweren Strafen – als „Auftraggeber“ für den Abschuss der beiden Flugzeuge von Hermanos al rescate, den die kubanische Regierung als Reaktion auf Provokationen beschlossen hatte.
Diese Politik und das Syndrom der „belagerten Insel“ haben zu den bekannten brutalen Reaktionen der kubanischen Regierung geführt, die mehr als fragwürdig sind: Vom 3. bis 7. April 2003 wurden in Havanna Dutzende nicht gewalttätiger Oppositioneller in Schnellverfahren „wegen Verstoßes gegen das Gesetz zum Schutz der nationalen Unabhängigkeit und der Wirtschaft Kubas“ schuldig gesprochen. Am 11. April wurden drei Männer, die eine Fähre entführt und mit der Hinrichtung der Passagiere gedroht hatten, rasch abgeurteilt und hingerichtet.
Die Strategie der Bush-Administration zeigte sich in der Entsendung von James Cason nach Kuba als Chef der Abteilung für amerikanische Belange. Cason gilt als „Falke“ mit Beziehungen zur Gruppe der extremen Rechten, die innerhalb der Administration die Beziehungen Washingtons mit Lateinamerika steuert und zu der auch Otto Reich6 , Elliot Abrams und John Negroponte gehören. Cason traf in Kuba mit einem Budget von rund zwei Millionen Dollar ein und mit der erklärten Absicht, das „Regime zu stürzen“ und eine Konfrontation herbeizuführen.
George W. Bush verdankt seine Präsidentschaft nicht zuletzt dem massiven Votum der amerikanischen Kubaner und heftigen Castro-Gegner in Florida. Zum Dank dafür hat Bush versprochen, Kuba in die Zange zu nehmen, den Tourismus zu sabotieren, das Embargo zu verschärfen und das Regime zu stürzen.
Wer von Havanna mehr Demokratie verlangt, sollte nicht vergessen, dass die Menschenrechte auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte einschließen, die in Kuba besser gewahrt werden als in manch anderem Land. Im Übrigen sollte der Fall Kuba nicht blind machen für andere grausame Realitäten, wie den Skandal des US-Gefängnisses auf Guantánamo oder die systematischen Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien, Guatemala, Peru, Bolivien und Mexiko; Länder, in die angeblich die Demokratie zurückgekehrt ist, nur weil man dort alle vier oder fünf Jahre wählt.
deutsch von Sigrid Vagt
* Italienischer Journalist und Schriftsteller, Herausgeber der Zeitschrift Latinoamerica, Rom, und Verfasser von „Un Mondo migliore è possibile“, Mailand (Sperling & Kupfer) 2002.