Schoah und Algerienkrieg
Von BENOÎT FALAIZE *
WIE plant man seinen Unterricht, wenn es sich um besonders sensible Themen aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts handelt? Wie verknüpft man die historische Sachanalyse mit dem Anspruch, Gedenken zu vermitteln? Diese Frage beschäftigt die Lehrer in Frankreich vor allem hinsichtlich zweier Themen: der Ermordung der europäischen Juden und des Algerienkriegs. Im Auftrag des Nationalen Instituts für pädagogische Forschung (INRP) wurde daher vor vier Jahren ein Forschungsprojekt1 initiiert.
Beide Themen stellen eine vergleichbare pädagogische Herausforderung dar: Wie sensibilisiert man die Schüler, ohne den Unterricht auf eine Übung in Betroffenheit zu reduzieren? Wie kann man die Einzigartigkeit des historischen Ereignisses würdigen und es gleichzeitig in die europäische Geschichte einordnen, ohne es zu banalisieren? Und wie verhindert man zum anderen eine Sakralisierung, die politische und historische Fragen ausblenden würde? Welche pädagogischen Ansätze eignen sich?2
Solche Fragen stellen sich heute in einer sehr angespannten Lage. Dass in den Zeitraum des Forschungsprojekts der Ausbruch der zweiten Intifada, die Attentate vom 11. September 2001 und der Irakkrieg fielen und es zudem in den letzten Jahren eine heftige Debatten über die Grausamkeiten der Franzosen während des Algerienkriegs gegeben hatte, spiegelt sich in den aktuellen Ergebnissen der Untersuchung wider. Für den Geschichtsunterricht über das 20. Jahrhundert gilt, dass alle Sachfragen große pädagogische Herausforderungen stellen. Besonders gilt das für Inhalte wie die Schoah und den Algerienkrieg, so dass sich der Lehrer bei der Vorbereitung den Spannungsbogen der Stunde und die didaktischen Methoden besonders gründlich überlegen muss.
Zu welchen Ergebnissen führte nun die genannte Untersuchung? Wird im Unterricht die Ermordung der europäischen Juden behandelt – ein Paradigma für extremes menschliches Leid –, so ist allgegenwärtig, dass hier das Recht des Menschen, Mensch zu sein, außer Kraft gesetzt wurde. Vom Grauen der Lager und vom nie wieder Gutzumachenden zu berichten ist eine moralische und pädagogische Pflicht.
Man antizipiert die Reaktionen der Schüler bei der Planung des Unterrichts und fürchtet sie zugleich. Beim Unterrichtsgespräch über die Vernichtung der Juden möchte man man vor allem ein emotionales Lernziel erreichen: die Betroffenheit der Schüler – dies gilt für alle Fächer und für sämtliche Schulstufen. Wenn der Unterricht kaum Reaktionen provoziert oder wenn die Schüler das Ausmaß und den einmaligen Charakter der Schoah nicht erfassen, haben die Lehrer das Gefühl, ihr Ziel nicht erreicht zu haben.
Bei der Behandlung des Algerienkriegs hingegen fürchtet man sich zum Teil gerade vor den Emotionen: „Ich habe den Eindruck, dass einige Schüler, vor allem aus den Maghreb-Ländern, Frankreich gegenüber feindlich gesinnt sind und auf keinen Fall als Franzosen gelten wollen. Also versuche ich, meinen Unterricht so zu gestalten, dass ihre Feindschaft gegenüber Frankreich nicht noch verstärkt wird. Bei manchen Dokumenten stelle ich mir die Frage, ob ich sie einsetzen soll oder nicht. Vor allem bei Dokumenten über die Folter in Algerien. Ich fürchte mich vor Meinungen oder Gefühlsausbrüchen.“3
Oft erklären die Lehrer ihre Furcht, ein bestimmtes Thema zu behandeln, mit einem Verweis auf die „Öffentlichkeit“: „Es gibt unheimlich viele Personen ausländischer Herkunft oder muslimischer Konfession, die dazu neigen, diese Frage (die Judenvernichtung) mit aktuellen politischen Problemen zu verbinden und die nicht unbedingt ihren universellen Charakter verstehen.“ Manche Lehrer sprechen es deutlich aus: „Es gibt einen Widerstand der Schüler, weil sie eine Beziehung zwischen der Schoah und der aktuellen Situation im Nahen Osten herstellen. Bei diesen Schülern, die zumeist maghrebinischer Herkunft sind, haben wir ein Problem, weil wir ihrer Meinung nach zu viel von den Juden und nicht genug von den Muslimen sprechen.“
Die Reaktionen der Schüler werden aufmerksam beobachtet: „Aus dem Augenwinkel prüfe ich die Reaktionen meiner Schüler, um zu sehen, ob die Tatsache, dass die Juden die Hauptopfer der Schoah waren […] dazu führt, dass die Schüler dann eine besondere Anteilnahme haben, wenn wir über Palästina reden. […] Eigentlich nicht, nein.“ Manchmal wird ein Schüler durch seine bloße Anwesenheit zum Objekt bestimmter Erwartungen, ohne dass man genau sagen kann, ob diese berechtigt sind oder nicht: „Ich habe einen Schüler marokkanischer Herkunft, dessen Haltung gegenüber den Juden an Rassismus grenzt. Es ist nie etwas passiert, aber ich erkenne es manchmal an seinem Blick, an seinem Verhalten, einem kleinen Lächeln; wenn ich über diese Sache rede, von den Juden, dann spüre ich, dass es einen latenten Rassismus gibt.“ Diese Selbst- und Fremdwahrnehmung hat nicht unbedingt mit dem zu tun, was der Lehrer tatsächlich erlebt hat: „Ich hatte dieses Jahr viele Juden in meiner Klasse, da habe ich viel mehr darauf geachtet, wie man etwas sagt.“ – „Wenn sie durch ihre Herkunft persönlich betroffen sind, reagieren sie ziemlich gut, ich meine, sie reagieren sichtbar, wahrnehmbar.“
Besondere Aufmerksamkeit gilt jenen Schülern, die man nur unklar umschreiben kann: „Immigranten“, „Maghrebiner“‚ „arabische Schüler“, „muslimische Schüler“, „Schüler arabischer Herkunft“, „Schüler maghrebinischer Herkunft“, „Kinder der zweiten Generation“ – die Unbestimmtheit und Vielzahl der Bezeichnungen, manchmal in ein und demselben Gespräch, sind wohl nicht nur lexikalischer, sondern auch semantischer Natur. Sie offenbaren die Schwierigkeiten der meisten Lehrer, über diese Kinder – die mehrheitlich französische Staatsbürger sind4 – zu reden.
Beim Thema Algerienkrieg scheinen Identitäts- und Generationenfragen aufeinander zu treffen. Während die Lehrer eher dort, wo es um den Genozid an den Juden geht, starke Emotionen äußern, so sind die Schüler eher hellhörig, wenn im Unterricht der Algerienkrieg behandelt wird. „Nein, bei der Schoah, das sind keine normalen Stunden, das ist nicht möglich. Ich bin viel eher, wie soll ich sagen … leidenschaftslos, wenn es um den Algerienkrieg geht. Da werde ich dann mit einer sehr starken Leidenschaft von Seiten der Schüler konfrontiert. Während bei der Schoah, da ist bei mir die Leidenschaft von selbst da.“
Bei diesen Themen existiert offensichtlich ein gegenseitiges Misstrauen. Dem Lehrer ist das Thema Judenvernichtung wichtiger, den Schülern Algerien und der Unabhängigkeitskrieg. „In unserem Collège stammt ein Drittel der Schüler aus dem Maghreb. Wenn wir die Unabhängigkeitskämpfe behandeln, interessieren sie sich zunächst nicht besonders für das Thema. Aber wenn dann der Algerienkrieg dran ist, werden sie auf einmal sehr aufmerksam. Sie identifizieren sich sogar dann damit, wenn ihre Eltern Marokkaner oder Tunesier sind, sie identifizieren sich auch mit den Kämpfern der Nationalen Befreiungsfront (FLN).“ – „Das ist für sie ein heldenhaftes Kapitel ihrer Geschichte“, fügt ein anderer Lehrer hinzu.
Manche Schüler empfinden das besondere Engagement der Lehrer beim Thema Judenvernichtung vielleicht als Ungerechtigkeit. Meistens reagieren sie jedoch eher mit Unverständnis und äußern dies offen. „Als wir im letzten Jahr über den 11. September sprachen, sagte mir eine Schülerin, sie sei wirklich gespalten, weil sie zwar verstehe, was wir im Unterricht beispielsweise über Primo Levi sagten, sich also von dem, was sie lerne, einerseits echt berührt und getroffen fühle. Andererseits verfolge sie aber die Nachrichten auf al-Dschasira, und so könne sie auch nachvollziehen, was die Palästinenser sagten, und nun fühle sich geradezu zerrissen. Sie wisse wirklich nicht mehr, was sie denken solle.“
Natürlich wirft die Behandlung des Völkermords im Unterricht immer auch das Problem eines wieder auftauchenden Antisemitismus auf, doch dessen reales Ausmaß ist noch nicht erforscht. Zuallererst aber sind diese Debatten ein willkommener Anlass, die üblichen Unterrichtsmethoden zu überdenken. Manchmal werden Anliegen und Engagement der Lehrer so missverstanden, dass die Schüler auf das Thema ablehnend reagieren, da sie womöglich eine gewisse Übersättigung empfinden. Vor dieser Gefahr warnten schon Annette Wiewiorka5 in den 1980er-Jahren und in jüngster Zeit auch Rony Braumann6 – wegen der in den Medien, der Öffentlichkeit und den Schulen häufigen Darstellung des jüdischen Volkes als Opfer.
„Die Schüler sind sensibilisiert. Sie wissen genau – na ja, es ist vielleicht ein bisschen komisch, was ich jetzt sagen werde, aber so habe ich es erlebt und so sehe ich es in den Klassenarbeiten –, sie wissen zum Beispiel genau, dass der Genozid nicht infrage gestellt werden darf und dass die Lehrer sagen, dass der Genozid DER Schrecken ist […], das ist das, was man sagen muss. Ich sage nicht, dass es nicht ehrlich ist, aber man spürt genau, dass die Schüler wissen, was man auf jeden Fall liefern muss.“ Hier wird also befürchtet, dass gerade die erwartete Zustimmung den gesamten Unterricht seiner Substanz beraubt. Viele Gespräche drehen sich im Übrigen um den Überdruss der Schüler an dem – aus ihrer Sicht – sich ständig wiederholenden Thema Judenvernichtung. Es zeigt sich also, dass anscheinend genau das Gegenteil von dem erreicht wurde, was man gewollt hat.
Natürlich gibt es angespannte Momente und Schwierigkeiten, doch die Untersuchung zeigt vor allem, dass ein wirkungsvoller Unterricht über das Thema „Vernichtung der europäischen Juden“ im Rahmen des Bildungsauftrags auch an Schulen in sozialen Brennpunkten möglich ist. Dieser Bildungsauftrag wird umso erfolgreicher erfüllt, wenn auch die französische Kolonialgeschichte nicht vernachlässigt wird und es einen Raum gibt für die Erinnerungen daran. Dies darf aber nicht als konkurrierendes Gedenken vermittelt werden. Schließlich soll im Verlauf eines ganzen Schuljahres den Schülern deutlich gemacht werden, dass es jedes Thema verdient hat, als lebendiges Kapitel der eigenen Geschichte im 20. Jahrhundert wahrgenommen zu werden.
Natürlich ist die Kolonialzeit eine Vergangenheit, die nicht vergeht. Sie ist im Unterbewusstsein der Klasse präsent, in den Gesprächen ebenso wie in der Art und Weise, mit der Schüler und Lehrer einander – auch unbewusst – wahrnehmen und begegnen. Unterrichtet der Lehrer Themen wie die Kolonialgeschichte und die Einwanderung, muss er das Verhalten und die Reaktionen der Schüler besonders aufmerksam beobachten und darauf vorbereitet sein, jeglichem Anzeichen antisemitischen Verhaltens entschieden entgegenzutreten. Bleibt man wach und aufmerksam, ist man auch in der Lage aktuelle Entwicklungen einzuordnen. Denn schließlich geht es darum, den Schülern einen kritischen Blick auf die Vergangenheit und die eigene Gegenwart zu vermitteln – indem man Vereinfachungen vermeidet und sensibel für die eigene Sprache bleibt.
deutsch von Claudia Steinitz
* Professor für Geschichte am Institut universitaire de formation des maîtres (IUFM) in Versailles.