Die Feuerwehr als Brandstifter
ANTISEMITISMUS ist immer noch gegenwärtig, aber oft trägt er ein neues Gesicht. Darum ging es bei der OSZE-Konferenz, auf der Ende April eine europaweite Erfassung antisemitischer Straftaten beschlossen wurde. In Frankreich richtet sich die Aufmerksamkeit auch auf muslimische Jugendliche, die vielfach ohne Arbeit und ohne Perspektive in den Vorstadtvierteln leben und sich als „Ausgeschlossene“ mit den Palästinensern identifizieren. Wie reagiert in Frankreich die Gesellschaft, und welche politischen Prinzipien stehen zur Diskussion?
Von DOMINIQUE VIDAL
Anders als in Amerika, wo der Begriff Jewish lobby als Bezeichnung für eine der vielen Interessengruppen allgemein anerkannt ist und auch von Juden ohne weiteres im Munde geführt wird, war der Terminus lobby juif in Frankreich bislang den Rechtsextremisten vorbehalten. Diese beiden Worten schließen all die antisemitischen Phantasmen ein – die jüdische Finanzwelt, die jüdischen Medien, die jüdische Macht –, sie sind kurz gesagt: eine moderne Variante der „Protokolle der Weisen von Zion“1 . Doch vor kurzem hat erstmals auch in Frankreich eine jüdische Persönlichkeit das Wort „jüdische Lobby“ im positiven Sinne benutzt.
Elisabeth Schemla ist die Gründerin der Homepage „proche-orient.info“, war Chefredakteurin des Nouvel Observateur und arbeitet danach für die EU-Kommissarin Edith Cresson. Die von ihr gegründete Webseite praktizierte stets einen politischen Spagat: Einerseits predigte man die kompromisslose Trennung von Staat und Religion, andererseits setzte man sich ausdrücklich für die Belange bestimmter Einzelgruppen (communities) ein.
Am 25. Februar 2004 beendete die Herausgeberin Elisabeth Schemla diesen Spagat und schlug sich in ihrem Leitartikel auf die Seite, zu der sie ohnehin tendiert. Sie begrüßte zunächst diverse Entscheidungen der jüngsten Zeit: die (voreilige) Ankündigung, Mel Gibsons Film „Die Passion Christi“ in Frankreich zu verbieten, die beruflichen Sanktionen gegen den für seine antisemitischen Äußerungen umstrittenen Komiker Dieudonné2 und ein Auftrittsverbot für Leila Shahid, „Botschafterin“ der Palästinensischen Autonomiebehörde, im „arabischen Viertel“ von Nizza.
Dies seien, kommentierte Schemla, nur einige der vielen Siege, die französisch-jüdische Organisationen jüngst im „unermüdlichen Kampf zur Verteidigung der Republik“ an verschiedenen Fronten gewonnen hätten. Heute seien es nicht mehr prominente, als allmächtig geltende Persönlichkeiten, sondern engagierte Bürger, Vereinigungen und Institutionen, die sich bei den staatlichen Stellen immer stärker Gehör verschafften. Diese glühende Verteidigung der Zensur stand unter dem Titel: „In Frankreich formiert sich eine jüdische Lobby im besten Sinne des Wortes.“
Elisabeth Schemla steht bei weitem nicht allein. So hat Sylvain Attal, ein Mitarbeiter ihrer Internetredaktion, in seinem jüngst erschienenen Buch konstatiert3 , die Vertreter der jüdischen Gemeinschaften hätten ihre frühere Befürchtungen aufgegeben, eine ausdrücklich von Gruppeninteressen geleitete Politik könnte den Antisemitismus fördern oder zumindest den Vorwurf des Lobbyismus auf sich ziehen. Dabei beruft sich Attal auf die Erfolge besagter Lobby in Frankreich wie auf der Ebene der EU. Als Beispiel wird ein pro-israelischen Lobbyist aus dem Bereich der Wirtschaft genannt, dessen Einfluss dazu beigetragen habe, das Außenministerium an der Nominierung eines als proarabisch eingeschätzten Diplomaten für die Position des Botschafters in Tel Aviv zu hindern. In dessen Augen sei es besonders problematisch gewesen, dass dieser Diplomat „mit einer Muslimin algerischer Abstammung verheiratet ist“.4
Dass die bedingungslosen Israel-Unterstützer neuerdings radikalere Töne anschlagen, ist allerdings eher ein Zeichen von Schwäche. Die Kampagne, die sie seit mehr als drei Jahren führen, ist im Grunde gescheitert. Offen ist aber nach wie vor die Frage, welches Ziel sie im Auge hatten, als sie auf den erpresserischen Vorwurf des Antisemitismus zurückgriffen. Gewiss wollten sie damit diejenigen Stimmen, die unter den französischen Juden eine abweichende Meinung vertreten, zum Schweigen bringen, mehr Einfluss in den Medien und damit auf die Öffentlichkeit erlangen, vielleicht sogar auf politische Entscheidungen in Frankreich einwirken.4
Um dies zu erreichen, diffamierten sie Journalisten und Wissenschaftler, die für den Charme von Ministerpräsident Ariel Scharon unempfänglich waren, veranstalteten aggressive Demonstrationen vor den Büros als „feindlich“ definierter Medien und strengten immer mehr Prozesse gegen Intellektuelle an, die des „Antisemitismus“ bezichtigt wurden. Und Organisationen wie Betar und die Jüdische Verteidigungsliga (LDJ) schreckten auch nicht vor Gewalttaten zurück.
Diese Gewalttäter aus dem Kreis der jüdischen Rechtsextremen scheuen auch nicht vor faschistoiden Praktiken zurück: Ein maskiertes, mit Eisenstangen und Schlagringen bewaffnetes Kommando attackierte und verletzte am 30. Dezember 2003 mehrere Mitglieder der Allgemeinen Studentenvereinigung von Nanterre (Agen), die im Verwaltungsgericht zu einer Gerichtsverhandlung geladen waren. Die gleichen Schläger versuchten es am 21. Januar 2004 nach einer Gegenüberstellung bei der Kriminalpolizei erneut. Dass die meisten straffrei ausgehen, ist doppelt problematisch: zum einen für die Polizei und für die Justiz, weil die Straftäter selten verhaftet und noch seltener verurteilt werden; zum anderen für die Politik, da man diese beiden Gruppen, deren Tätigkeit sich im Wesentlichen auf Gewalttaten beschränkt, nach französischem Gesetz längst hätte auflösen müssen.
Auch gezielte Verunglimpfungen kommen immer häufiger vor. So bezeichnete der Philosoph Alain Finkielkraut in dem Sender „Radio de la communauté juive“ den israelischen Filmemacher Eyal Sivan vor kurzem als „jüdischen Antisemiten“ und unterstellte ihm, seine Glaubensbrüder „töten“ und „liquidieren“ zu wollen.5 Allerdings schaffen es diese selbst ernannten Inquisitoren nicht, die französischen Juden auf Kurs zu bringen, denn die „anderen jüdischen Stimmen“6 melden sich immer häufiger zu Wort.
Das gilt auch für den CRIF, das Vertretungsorgan aller jüdischen Institutionen in Frankreich. Auch die Medien lassen sich nicht unter Druck setzen. Zwar gibt es immer wieder Tendenzen, den israelisch-palästinensischen Konflikt auf die Selbstmordattentate zu reduzieren, doch grundsätzlich ist die Ausrichtung im Wesentlichen unverändert ausgewogen.
Man kann heute feststellen, dass die geschilderte Kampagne die öffentliche Meinung nicht wirklich aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Seit dem Ausbruch der zweiten Intifada kann man vielmehr eine entgegengesetzte Entwicklung beobachten, wie es – im Gefolge zahlreicher französischer Umfragen – auch die Ergebnisse einer europäischen Untersuchung zeigen. Die sorgten im November 2003 für großes Aufsehen: 59 Prozent der befragten EU-Bürger betrachteten Israel als „ein Land, das den Weltfrieden besonders stark bedroht“.
Israelische Zeitungen sprachen von Antisemitismus, in Frankreich tat man es ihnen sofort nach. Wen aber meinte man? Die Organisatoren der Umfrage oder die Befragten? Die Fragen oder die Antworten? Yediot Aharonot hatte den Mut, ihre Leser auch über die Ergebnisse einer anderen Umfrage zu informieren, nach der 85 Prozent der Franzosen (10 Prozent mehr als 1998) ihre „Sympathie“ für die Juden bekundeten.7 Das zeigt eindeutig: Eine Mehrheit der Befragten lehnt die Politik des Staates Israel zwar ab, doch gegenüber Juden herrscht keinerlei Ablehnung – ganz im Gegenteil.
Die Kampagnen sind also gescheitert. Doch beruhigen kann uns die Entwicklung nicht, denn die versuchte Erpressung mit dem Antisemitismus banalisiert zuallererst den Antisemitismus, dessen neue Formen uns beunruhigen müssen. Es ist, als brenne der Wald, und plötzlich erkennt man, dass einige der Feuerwehrleute Pyromanen sind.
Voreilige Interpretationen
WENN man die Berichte der Nationalen Beratenden Kommission für Menschenrechte (CNCDH) von 2002 und 2003 studiert, erfährt man detailliert einiges über die Entwicklung des Antisemitismus in Frankreich. Als politische Strömung ist der Antisemitismus eine marginale Erscheinung.8 Noch für das Jahr 2000 wurde die Tendenz konstatiert, dass die politische Situation im Nahen Osten antisemitische Aussagen fördern und sich „negativ auf das Bild aller Juden auswirken“ könnte. Dieser Trend habe sich aber zwischen 2000 und 2002 umgekehrt, heißt es in dem jüngsten CNCDH-Bericht, insofern „die wiederholten Gewaltakte gegen die jüdische Gemeinschaft den Antisemitismus keineswegs verharmlost oder banalisiert, sondern im Gegenteil seine Gefährlichkeit bewusst gemacht“ hätten.
Aus einer Meinungsuntersuchung, die der Verband der jüdischen Studenten in seinem „Weißbuch“ 2002 veröffentlichte, erfuhr man, dass auch unter den aus dem Maghreb stammenden Jugendlichen der Antisemitismus kein verbreitetes Phänomen ist. Die Zahlen des Innenministeriums sind gleichwohl erschreckend: von 2001 bis 2002 hat sich die Zahl „rassistischer Vorfälle“ mehr als vervierfacht und die Zahl „antisemitischer Vorfälle“ versechsfacht. 20039 folgte glücklicherweise ein Rückgang von 40 Prozent respektive 35,9 Prozent.
Gleichzeitig stieg jedoch der Anteil antisemitischer Übergriffe innerhalb der rassistischen Vorfälle von 60 Prozent auf 72 Prozent, weshalb der Bericht konstatiert, dass sich die Gewalt gegen Juden verschlimmert habe. Von einer Verdoppelung der antisemitischen Vorfälle, wie sie jüngst von dem israelischen Diasporaminister Nathan Scharanski zu hören war, kann aber nicht die Rede sein. Diese Äußerung lässt eher erkennen, wie enttäuscht man in Israel über die mageren Ergebnisse der Auswanderungskampagne (Alyia) ist: 2003 sind nur 2 000 der 600 000 bis 700 000 französischen Juden emigriert, während es 2002 noch 2 400 waren.
Hinzu kommt, dass unter der Kategorie „antisemitische Gewaltakte“ auch Gewalttaten hinzugezählt werden, bei denen kein antisemitisches Motiv nachweisbar ist. So ist zwar die offizielle Untersuchung der Ursache des Brandes vom 15. November 2003 in der jüdischen Schule von Gagny noch nicht abgeschlossen, doch das Feuer wurde sogleich zum antisemitischen Anschlag erklärt.
Auch andere der in den Medien unter Antisemitismus subsumierten Vorfälle an Gymnasien erwiesen sich bei genauerer Betrachtung als aufgebauscht oder sogar falsch. Das gilt für das Lycée Montaigne ebenso wie für das Lycée Turgot oder die jüdischen und staatlichen Gymnasien von Montreuil: Die Probleme die es zwischen Jugendlichen verschiedener Herkunft gibt, haben nichts zu tun mit religiösem Krieg oder Rassenhass.
Wer sind die Täter bei den Angriffen auf jüdische Religions- und Bildungsstätten oder den Überfällen auf einzelne Personen? Der CNCDH-Bericht für 2002 stützt sich auf offizielle Statistiken. Dass nach dem Ausbruch der zweiten Intifada viele Jugendliche nicht zuletzt wegen der harten Maßnahmen der Israelis ihre Identifikation mit den palästinensischen Kämpfern demonstrieren wollten, dürfte laut CNDCH aber noch andere Gründe haben: Die Palästinenser sind für die Jugendlichen zum Symbol der eigene Ausgrenzung geworden.
Viele der festgenommenen „Jugendlichen oder jungen Erwachsenen“, so der Bericht weiter, „stammen aus Problemvierteln, ihre Eltern sind oft aus Nordafrika eingewandert“. Zumeist hätten die Verantwortlichen der muslimischen Gemeinden in Frankreich die Gewalttaten scharf verurteilt, doch die Botschaft dürfte ungehört verhallt sein, denn diese Jugendlichen seien für Ideologien empfänglich und nähmen die Situation im Nahen Osten zum Vorwand, „um ihrer Gewalttätigkeit freien Lauf zu lassen“.
Die Reden der radikalen Islamisten mögen zwar wenig Publikum finden, doch sie sind nicht ungefährlich, da sie manchem als Legitimierung für Gewalttaten dienen. Schon Ende 2001 forderte deshalb der muslimische Philosoph Tariq Ramadan seine Glaubensbrüder auf, „ehrlich zu sein und das Phänomen grundlegend zu analysieren: Wie überall in der islamischen Welt gibt es auch in Frankreich eine antisemitische Strömung, die sich aus bestimmten Texten der islamischen Tradition legitimiert und durch die Situation einen gewissen Aufwind bekommt. Intellektuelle oder Imame, die hinter jedem Widerstand, hinter jeder politischen Niederlage die manipulierende Hand der ‚jüdischen Lobby‘ zu erkennen vermeinen, verstärken derartige antisemitische Tendenzen. Um ihres Gewissens und ihres Glaubens willen müssen die Muslime klar und entschlossen sagen, dass der Antisemitismus inakzeptabel und nicht zu rechtfertigen ist.“10
Die Lage ist ernst. Aber von einem „Kristalljahr“, das Alain Finkielkraut sieht, kann nicht die Rede sein, und auch nicht von einer „neuen Judäophobie“, die der Wissenschaftler Pierre-André Targuieff sieht. Nicht zu leugnen ist dagegen das Anwachsen sozialer Gewalt, insbesondere in den von Arbeitslosigkeit und Elend geprägten Ghettos, wo ein Teil der Jugend, vor allem die Nachkommen der Immigranten, ohne die geringste Zukunftshoffnung in den Tag hineinleben. Natürlich muss man dort, wie überall in der Gesellschaft, jede Form des Rassismus und Antisemitismus bekämpfen. Aber um das Übel an der Wurzel zu packen, bedarf es neuer gemeinsamer Anstrengungen aller demokratischen Kräfte.
Der Kampf gegen den antijüdischen wie gegen den antiarabischen Rassismus muss simultan weiterentwickelt werden. Ist es etwa hinzunehmen, wenn Juden, die eine Kippa tragen, am Rand einer Demonstration gegen den Irakkrieg angegriffen werden? Oder wenn die Medien im Zuge der Kopftuchdebatte eine ganze Religion und ihre Anhänger stigmatisieren, sie mit Terrorismus, Intoleranz und Unterdrückung der Frauen gleichsetzen? Oder wenn der Davidstern mit dem Hakenkreuz verglichen wird – als ließe sich die unerträgliche Unterdrückung der Palästinenser mit der unvorstellbaren Vernichtung von Millionen Juden, Zigeunern, Geisteskranken und slawischen „überflüssigen Essern“ vergleichen?
Rassismus ist unteilbar, und der Kampf dagegen ist es auch.
deutsch von Claudia Steinitz