Gut verkauft, schlecht gemeint
INNERHALB von sechs Jahren sind in Peru mehr als 330 000 Frauen und 25 000 Männer sterilisiert worden, viele gegen ihren Willen, ohne ausreichende Beratung oder medizinische Versorgung. Diese Bevölkerungspolitik des damaligen Präsidenten Fujimori war rassistisch, weil sie vor allem auf die indianischen Einwohner zielte. Dabei hatte sie anfangs die Unterstützung vieler Frauenorganisationen. Gestoppt wurden die Menschenrechtsverstöße von Feministinnen, Katholiken und „Lebensschützern“ aus den Vereinigten Staaten. Nun drohen die Opfer vergessen zu werden.
Von FRANÇOISE BARTHÉLÉMY *
Hayllacocha. Ein indianisches Dorf im Andenhochland, fünfzig Kilometer westlich der alten Inka-Hauptstadt Cuzco. Karger Boden, den die Bauern mit einem von Ochsen gezogenen Pflug bewirtschaften. In einem der strohgedeckten, baufälligen Häuser treffen wir Hilaria Supa Huamán. Sie ist gerade von ihrer chacra zurückgekommen, einer der kleinen Parzellen, auf denen Getreide, Mais und Kartoffeln angebaut werden.
Hilaria ist eine beherzte Person mit von Arthritis verkrümmten Händen. 1991 gehörte sie zu den Gründerinnen des Verbands der Landarbeiterinnen von Anta, einer Provinz mit 80 000 meist bäuerlich lebenden Einwohnern. Drei Jahre später wurde sie dessen Generalsekretärin und nahm in dieser Eigenschaft 1995 an der Frauenkonferenz in Peking teil. Bei dieser Gelegenheit sprach sie mit dem damaligen Staatspräsidenten Alberto Fujimori. „Er fing an, mir von einem medizinischen Programm zur Familienplanung zu erzählen, das er auf den Weg bringen wollte. Ich sagte: ‚Einverstanden, unter der Bedingung, dass beide Ehepartner gemeinsam entscheiden.‘ – ‚Selbstverständlich‘, hat er geantwortet.“
Ein paar Monate später unterzog sich Hilaria – auf Drängen der Dorfkrankenschwester und ohne genauere Information über den Eingriff zu erhalten – einer Unterleibsoperation, von der sie sich nur schwer erholte. „Sie beleidigen dich, sagen dir: ‚Willst du Junge werfen wie ein Schwein? Dein Mann wird wütend werden, wenn du nichts tust!‘ Danach versichern sie dir, dass du bald wieder auf den Beinen bist. Das stimmt nicht. Äußerlich heilt die Wunde schnell, aber innerlich nicht, denn wir machen eine sehr anstrengende Arbeit.“ Auch eine Freundin litt schwer unter den Nachwirkungen. An ihr war ebenfalls eine Tubenligatur vorgenommen worden, mit der die Eileiter unterbrochen werden.
Zu dieser Zeit kamen aus mehreren Dörfern – Mollepata, Limatambo, Ancahuasi – beunruhigende Nachrichten. Frauen, die ihre Kinder zur Vorsorgeuntersuchung in die Ambulanz brachten, fanden sich plötzlich eingeschlossen, manchmal mit zehn oder zwanzig anderen. Unter dem Vorwand einer Impfung führte man sie in einen Operationssaal. Sie erhielten eine Vollnarkose. Eine nach der anderen verließ benommen die Krankenstation. Viel später erst wurde ihnen zu ihrem Schrecken klar, dass man sie sterilisiert hatte, dass sie nie wieder würden Kinder bekommen können.
Zusammen mit anderen beschloss Hilaria Supa, diese Fälle öffentlich zu machen. Deswegen wurden sie aus dem Vorstand des Landarbeiterinnenverbands ausgeschlossen. Hinter diesen Repressalien steckt, wie sie sagen, der Gynäkologe Washington Ortiz – er ist bis heute in seiner Position tätig –, der die operierten Frauen unter Druck setzte, ihre Klagen zurückzunehmen.
Trotzdem nehmen die Proteste zu. „Wir haben die Praxis der Zwangssterilisation beim Namen genannt“, sagt der Bürgermeister von Anta, Rosas Beltrán, zugleich Vorsitzender des Netzwerks der Landgemeinden Perus1 . „Zusammen mit dem Ombudsmann2 in Cuzco haben wir den Widerstand und Hilfe für die Opfer organisiert.“
Am 8. September 2001, knapp ein Jahr, nachdem der vom Parlament abgesetzte Expräsident Fujimori nach Japan geflohen war, bildete Gesundheitsminister Luis Solari eine Sonderkommission, die die Aktivitäten der Freiwilligen Chirurgischen Empfängnisverhütung (AQV)3 untersuchen sollte. Ihr gehörten vier Mitglieder an: Doktor Juan Súccar als Vorsitzender, Doktor Maita García Trovato, Vorsitzender des Verbands katholischer Ärzte Perus, die Anthropologin Esperanza Reyes und – Hilaria Supa Huamán.
Ebenfalls im September setzte der Kongress einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ein, der die „Unregelmäßigkeiten“ im Rahmen des AQV-Programms während des Fujimori-Regimes zu klären hatte. An der Spitze der Kommission stand Héctor Chávez Chuchón, Abgeordneter der konservativen Unidad Popular (UP) und Vorsitzender des Ärzteverbands in der Andenregion Ayacucho-Andahuaylas-Huancavelica.
Im Juli 2002 legte die vom Gesundheitsministerium ernannte Kommission der Öffentlichkeit einen 137 Seiten starken Abschlussbericht vor, aus dem hervorging, dass in den Jahren 1995 bis 2000 insgesamt 331 600 Frauen sterilisiert und 25 590 Männer einer Vasektomie unterzogen wurden. „Man hat die Einwilligung dieser Personen“, heißt es in dem Bericht ausdrücklich, „durch Druckmittel, Erpressung und Drohungen oder durch Nahrungsmittelgeschenke erhalten, ohne sie in solcher Weise zu informieren, dass sie ihre Entscheidung in echter Kenntnis der Sache hätten treffen können.“
All dies war im Namen eines Volksgesundheitsplans in die Tat umgesetzt worden, dessen eigentliches Ziel darin bestand, die Geburtenrate unter den ärmsten Peruanern zu senken. Die ärmsten Bevölkerungsteile sind die indianischen Bewohner der sierra, des Hochgebirges der Anden, und der selva, des Waldlands im Amazonasgebiet, ferner die Bewohner der riesigen Slums rund um die Hauptstadt Lima. Obwohl viele offizielle Dokumente vernichtet worden sein dürften, blieben 56 Akten erhalten, die diese Fakten belegen und die Verantwortlichen beim Namen nennen: zuvörderst Präsident Fujimori, der Monat für Monat über die Zahl der Eingriffe informiert wurde. Berichterstatter waren Dienststellen der drei damaligen Gesundheitsminister Yong Motta, Costa Bauer und Aguinaga4.
Kaum war der Bericht der Kommission erschienen, brach schon der Streit los über die angestrebten Ziele und über die Zahlen: „Abwegig“ nach Ansicht derer, die höchstens 200 bis 300 Fälle einräumen, bei denen „nicht alles einwandfrei gelaufen“ sei. Exgesundheitsminister Aguinaga etwa verteidigte vehement einen Plan, der seiner Meinung nach hunderttausenden Paaren die Möglichkeit gegeben habe, ungewollte Schwangerschaften oder Abtreibungen zu vermeiden, und der die Mütter- und Säuglingssterblichkeit – zwangsläufig! – merklich verringert hat.
In der Zeitung La República vom 25. Juli 2002 schrieb Aguinagas Vorgänger Costa Bauer unter Verweis auf eine Untersuchung, die ein US-amerikanisches Institut zwischen 1996 und 2000 durchgeführt hatte, dass „90 Prozent der Frauen im zeugungsfähigen Alter mit den angebotenen Methoden der Familienplanung, von denen sie Gebrauch gemacht haben, völlig zufrieden sind“. Auf derselben Zeitungsseite aber findet sich die Aussage einer betroffenen Mutter, Ligia Ríos, die schildert, wie sie von Angehörigen der Sozialversicherungsanstalt5 so lange bedrängt wurde, bis sie in eine Sterilisation einwilligte. Seither leide sie an Fieber, Blutungen und Unterleibsschmerzen, weshalb sie nicht mehr arbeiten könne.
Nachdem der Abschlussbericht des Gesundheitsministeriums am 23. Juli 2002 dem Kongress vorgelegt worden war, beschlossen die Abgeordneten, Fujimori und seinen drei Gesundheitsministern wegen Genozids und Verbrechen gegen die Menschlichkeit den Prozess zu machen. Auf den Tag genau ein Jahr später wiederholte der Menschenrechtsausschuss des Kongresses die Hauptanklagepunkte und forderte eine Ermittlung durch den Generalstaatsanwalt. Dieses Verfahren lehnte wiederum der Ständige Gesetzgebende Ausschuss ab. Und so wandert die Sache von Ausschuss zu Ausschuss.
Derweil meldete sich der Hauptangeklagte aus Tokio zu Wort, wo er wohnt, seit ihm die japanische Staatsbürgerschaft bewilligt wurde, um ihn vor einer Auslieferung zu schützen: Nein, er habe keine Zwangssterilisationen betrieben. Im Gegenteil, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes hätten die Peruanerinnen die Möglichkeit bekommen, sich für eine selbstverantwortliche Mutterschaft zu entscheiden.
Indessen haben sich etliche, für ihre seriöse Arbeit bekannte peruanische und internationale Wissenschaftler jahrelang bemüht, die Wahrheit herauszufinden.6 Die Anwältin und Soziologin Giulia Tamayo sammelte im Auftrag des Komitees zum Schutz der Rechte der Frauen (Cladem-Perú)7 Aussagen von rund hundert Frauen aus Lima, Cuzco, Loreto, Piura und San Martín. Ihre Ergebnisse, die sie am 22. Juni 1998 in El Comercio, der wichtigsten Tageszeitung der Hauptstadt, veröffentlichte, dokumentieren illegale Praktiken, Eingriffe ohne vorheriges Einverständnis, postoperative Komplikationen und diverse Kompetenzüberschreitungen; außerdem Todesfälle aufgrund von Nachlässigkeit, fehlender Hygiene, Inkompetenz des medizinischen Personals und infolge des schlechten Gesundheitszustands der Betroffenen, die an Tuberkulose und Unterernährung litten. In einem Fall lag sogar eine nicht erkannte Schwangerschaft vor.
Ein Jahr später wurden diese Zeugnisse in einem Buch veröffentlicht: „Nada personal“ („Nichts Persönliches“). Zugleich erschien eine Videodokumentation, die für Furore sorgte. Die erschütternde Enthüllung: Was seitens der Regierung zunächst als „anzustrebende Ziele“ bei der Sterilisierung gehandelt wurde, verwandelte sich bald in feste Quoten, die von allen medizinischen Einrichtungen und den Beschäftigten im Gesundheitswesen erfüllt werden mussten. „Nada personal“ belegt, dass es sich hier um eine kaltblütig verfolgte Politik durch den Staat handelte. Der Autorin trug ihre Dokumentation Drohungen und Einschüchterungen ein.
Die zu dieser Zeit Verantwortlichen in Peru haben nie zugegeben, dass Quoten festgelegt wurden. Nicht zu leugnen aber ist die Anzahl und vor allem die Schwindel erregende Zunahme der chirurgischen Eingriffe. 1996 wurden 81 762 Tubenligaturen vorgenommen, 1997 waren es bereits 109 689. Das war die höchste Zahl; im Folgejahr fiel die Zahl der Operationen auf 25 995. Und zu alledem schwiegen die offiziellen Stellen. Das aufsässige Arequipa, die auf 2 300 Meter Höhe in den westlichen Anden erbaute „Weiße Stadt“ mit einer langen Tradition sozialer Konflikte, war eine Bastion des Widerstands gegen den Fujimorismus. Bis 2003 hatte der frühere Rektor der Universität, Juan Manuel Guillén, den Posten des Bürgermeisters inne. Er unterstützte die Protestbewegung der Arequipeños, die den derzeitigen Präsidenten Alejandro Toledo zum Verzicht auf die Privatisierung zweier Stromkonzerne zwang. „Meiner Ansicht nach gibt es einen Zusammenhang zwischen der neoliberalen Politik, die Peru vom Internationalem Währungsfonds und von der Weltbank aufgezwungen wurde, und dem von Fujimori lancierten Programm zur Familienplanung“, behauptet er. „Als Gegenleistung für Kredite und eine Neuverhandlung der Schulden forderte der IWF wie üblich Privatisierungen – auch im Gesundheitswesen – und Öffnung für ausländisches Kapital, aber auch eine schärfere Geburtenkontrolle. Ziel waren die ärmsten, potenziell gefährlichen Bevölkerungsschichten. Dabei wurden Persönlichkeitsrechte, die Rechte der Familien und ganz allgemein ethische Prinzipien verletzt, die für jede Gesellschaft verbindlich sein sollten.“
Das berühmte Programm für reproduktive Gesundheit und Familienplanung stammt aus dem Jahr 1995. Es wurde klug präsentiert: Der Staat gebe Familien mit niedrigem Einkommen und niedrigem Bildungsstand die Möglichkeit, verschiedene Methoden der Familienplanung in Anspruch zu nehmen, die bislang wohlhabenderen Schichten vorbehalten waren, erklärte damals vor allem Fujimori. Er schloss die kühne Behauptung an: „Wir waren und sind auch in Zukunft eine pragmatische Regierung ohne Denkverbote oder ‚heilige Kühe‘. Die peruanischen Frauen müssen über ihr Schicksal selbst entscheiden können.“
Wer sollte das Projekt finanzieren? Jedenfalls nicht allein der Staatshaushalt. Der Löwenanteil der technischen und finanziellen Unterstützung kam von der United States Agency for International Development (USAID), die mit 36 Millionen Dollar siebenmal mehr beisteuerte als der zweitgrößte Geldgeber, der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA). Dass USAID vom republikanisch dominierten Kongress grünes Licht erhielt, obwohl dieser den Programmen zur Geburtenkontrolle traditionell feindlich gegenübersteht, lag wohl daran, dass es damals andere Prioritäten gab und innenpolitische Fragen wie der Kampf der Republikaner gegen die Politik von Präsident Clinton im Vordergrund standen. Ein weiterer Beitrag, rund 2 Millionen Dollar, stammte von der Nippon Zaidan, der Japan-Stiftung, deren Präsidentin Ayako Sono die derzeit wichtigste Fürsprecherin Fujimoris in Tokio ist.
Mehrere Nichtregierungsorganisationen (NGOs) erhielten daraufhin finanzielle Unterstützung, darunter die US-amerikanischen Pfadfinder oder eine Organisation peruanischer Feministinnen, die Bewegung Manuela Ramos8 . Letztere, die zusammen mit den Aktivistinnen von Flora Tristan9 seit den Siebzigerjahren für die Sache der Frauen kämpfen, machten keinen Hehl aus ihrer Begeisterung über die lang ersehnte Gelegenheit, die „rückschrittlichen“ Positionen der katholischen Kirche zu durchbrechen, deren Vertreter in einigen Fällen mit dem reaktionären Orden Opus Dei liiert sind.
Tatsächlich lief die Kirchenführung sofort Sturm gegen die staatliche Entscheidung, Geburtenkontrolle auf „künstlichem“ Wege zu propagieren und in den Schulen Sexualkundeunterricht einzuführen. Später, als die feministischen NGOs von den Zwangssterilisationen erfuhren, sahen sie vor allem eine Gefahr: Die Konservativen könnten daraus Kapital schlagen und das Familienplanungsprogramm zu Fall bringen. Sie mussten also die von großen internationalen Organisationen geförderte Strategie der Regierung unterstützen, obwohl einige „Fehler“ in Einzelfällen verurteilt wurden: Zwiespalt und innerer Widerspruch einer Bewegung.
Trotz seines „Staatsstreichs von oben“ vom 5. April 1992, als er den Kongress auflöste und die Justiz gleichschaltete, und des „Fujischocks“ – eines Pakets neoliberaler Wirtschaftsreformen – wurde Fujimori, den Sieg über die Guerillaorganisation Sendero Luminoso am Revers, 1995 mit 64 Prozent der Stimmen wieder gewählt. „Damals traf er im Hinblick auf das Tabuthema Geburtenkontrolle die ersten radikalen Entscheidungen“, berichtet Raúl Wiener, Politologe und Koordinator der Oppositionsbewegung gegen die amerikanische Freihandelszone. „Als guter Mathematiker hat Fujimori ein Faible für Zahlen. Die Zahl der Geburten pro Frau zu senken, um die Armut zu verringern, ist pure Mathematik. Die Rechnung musste stimmen, auch wenn die Methode brutal war.“
Am 9. September 1995 unterbreitete Fujimori dem Parlament einen Gesetzentwurf, der das Allgemeine Bevölkerungsgesetz so abänderte, dass der Weg für die Sterilisation frei wurde.10 Noch im selben Monat billigte der Kongress eine Vorlage, die ihre Anwendung für rechtens erklärte und sie mit anderen empfängnisverhütenden Mitteln wie Pille, Injektionen oder Kondomen gleichstellte. Wichtig dabei: Die Sterilisation sollte gratis erfolgen. Eifrig machten sich die Experten ans Werk, unter Beteiligung der Streitkräfte und der Polizei sowie sämtlicher Ministerien, allen voran des neu geschaffenen Ministeriums zur Förderung der Frauen und für menschliche Entwicklung.
Die neu eingestellten Ärzte erhielten Zeitverträge über drei Monate mit einer Option auf Verlängerung. Sie waren nicht mehr befugt, eine Sterilisation aus Gewissensgründen zu verweigern. Auf dem Land und in den Elendsvierteln wurden „Tubenligatur-Festivals“ organisiert: einen Tag lang Unterhaltung, Tanz, Theater, Konzerte, Puppenspiel, Feuerwerk, Sport, Essen für alle und kostenloser Besuch bei Zahnarzt und Friseur. Bunte Plakate zeigten eine „moderne“ Familie mit wenigen Kindern und ihre „rückständige“ Entsprechung mit einem Haufen Bälgern. Fett bedruckte Transparente verkündeten in spanischer Sprache: „Tubenligatur und Vasektomie kostenlos“. Am Ende eines solchen Tages hatten die Ärzte aus der Stadt ihr Soll erfüllt. Aber was von den Informationen, die sie den Leuten gaben, oder von den „Einverständniserklärungen“, die sie sich unterschreiben ließen, konnten die Quechua sprechenden Bauern und die zumeist analphabetischen Frauen überhaupt verstehen?
„Die Ärztinnen, Krankenschwestern und Pflegerinnen in den örtlichen Krankenstationen plauderten mit den Bäuerinnen und gewannen mit kleinen Geschenken von Öl, Getreide, Zucker und Reis ihre Sympathie“, erzählt D. W., ein fünfunddreißigjähriger Touristenführer aus der Gegend von Machu Picchu, der an der Universität San Antonio Abad in Cuzco studiert hat. „Gleichzeitig brachte der Staat Nahrungsmittelhilfsprogramme und Infrastrukturmaßnahmen bis in die abgelegensten Winkel des Landes. Zur Einweihung seiner Projekte kam Fujimori persönlich und ließ sich mit einem Poncho bekleidet beim Aussteigen aus einem Hubschrauber von Fernsehteams filmen. Er wurde umjubelt und verehrt. Man nannte ihn den ‚Chino Bueno‘“ – den „guten Chinesen“.
Ein solches Drumherum erklärt die Zurückhaltung, die sich seriöse Tageszeitungen wie La República oder El Comercio auferlegten. Dagegen wurde im Ausland die Weltgesundheitsorganisation nicht müde, die „Erfolge“ zu loben, die Peru auf dem Gebiet der Familienplanung erziele.11 Die Vorwürfe wegen angeblichen „Missbrauchs“ in Peru selbst kamen natürlich von Seiten der katholischen Kirche.
In der zweiten Jahreshälfte 1996 begann sich jedoch eine Journalistin des Comercio, Julia María Urrunaga, für die Ereignisse in den hintersten Winkeln des Landes zu interessieren. Sie hatte von einer traurigen Geschichte Wind bekommen, die in Tocache, einem kleinen Ort im Amazonasgebiet, vorgefallen war. Sie fuhr hin, um die Gründe für den Tod einer jungen Mutter zu erfahren. Diese war in einem Krankenhaus operiert und gleich anschließend mit dem Motorradtaxi nach Hause gebracht worden. Die Erschütterungen der zwanzigminütigen Fahrt über unbefestigte, holprige Pisten führten zu einer Infektion, an der sie starb.
„Ich ging zu ihr nach Hause“, erzählt Julia, „und traf ihre völlig verängstigten Nachbarinnen. Sie hatten die gleiche Operation über sich ergehen lassen und damit den Zorn ihrer Ehemänner auf sich gezogen, die nur eine einzige Beleidigung im Munde führten: ‚putas‘ (Huren)! Und dann sah ich die beiden Kinder der gestorbenen Frau. Das Bild der beiden Kleinen kam auf die Titelseite, und die Reportage hatte großen Einfluss auf die anschließenden Enthüllungen.“ Gewerkschaften, Frauengruppen, Parlamentarierinnen der Opposition wie Beatriz Merino und auch die Katholiken wurden aktiv. Aber die überwiegend städtisch geprägte Gesellschaft zeigte kaum Reaktionen. „Erst recht nicht bei den heutigen sozialen Problemen und der Krise, mit der die Peruaner zu kämpfen haben. Hier ist sich jeder selbst der Nächste, außerdem sitzt die Desillusionierung gegenüber der politischen Führung tief.“
In Cuzco, dem auf über 3 400 Meter in die Andenkordilleren geschmiegten „lebenden Museum“ der Inka-Kultur, arbeitete Doktor Ramón Figueroa 1995 als salubrista, Chirurg im öffentlichen Gesundheitssystem. Für einige Monate war er zudem Leiter des Bezirkskrankenhauses. Im Ärzteverband kritisierte er zusammen mit Kollegen ab 1996 die Sterilisierungskampagnen und ihren rassistischen Hintergrund. „Die Stimmung war angespannt. Die direkte Konfrontation mit einer autoritären, repressiven Regierung und dem Netz der Korruption, das sie unterhielt, brachte uns in ernste Schwierigkeiten“, erklärt der linksgerichtete Arzt, der heute der sozialdemokratischen Partei PDD12 angehört. „Wir wurden als ,Agenten der Subversion‘ bezeichnet. Schließlich nahm die Regierung nach und nach Abstand von dieser inhumanen Politik, aber ohne die geringste Selbstkritik.“
Fernando Robles Callomanay, 43 Jahre alt, gehört zum indigenen Volk der Aymara und ist seit zwei Jahren Bürgermeister von Ilave, der zweitgrößten Stadt der Provinz Puno. „Die damalige Regierung hat eine regelrechte ethnische Säuberung gestartet, die sich gegen Indios, nicht aber gegen Weiße und Kreolen richtete. Das hatte vor allem Auswirkungen auf das demografische Gefüge.“ Die Geburtenrate ist stark rückläufig. Grund- und Oberschulen leeren sich, einige Schulen müssen zusammengelegt werden, andere wegen Schülermangels ganz schließen. Außerdem leiden die meisten Bäuerinnen, die sich dieser Operation unterzogen haben, unter Krankheiten und Depressionen. „Sie werden von ihrer Umgebung verachtet. Was die wenigen Männer betrifft, die eine Vasektomie haben vornehmen lassen: die nennt man ‚Kastraten‘.“
In den USA mehrten sich – verspätet – verärgerte Reaktionen, insbesondere nachdem das konservative, gegen Abtreibung und jede Bevölkerungsplanung kämpfende Population Research Institute13 seinen Vertreter David Morrison in Begleitung eines Kamerateams nach Peru geschickt hatte. Ihr Ende 1998 entstandener Bericht stieß beim US-Kongress auf so starke Resonanz, dass Anhörungen stattfanden, bei denen Betroffene zu Wort kamen. Gleichzeitig befasste sich der Ombudsmann in Lima mit einer wachsenden Anzahl von Beschwerden und Klagen.
All das veranlasste den US-Kongress zu einer Revision der für die Familienplanungsprogramme bestimmten Gelder. Am 22. Oktober 1998 wird das Tiahrt-Gesetz14 verabschiedet, in dem die Verwendung der USAID-Gelder für Peru und andere Ländern neu geregelt wird: Entweder halten sich die Empfänger an strikte Bedingungen oder sie erhalten keine Hilfen mehr – gewiss eine löbliche Warnung mit Blick auf die Menschenrechte. Im Anschluss an eine weitere Reise im Dezember 1999 in die Verwaltungsbezirke Ayacucho und Huánuco konnte Morrison jedoch nachweisen, dass sich an den Zwangsmaßnahmen, den mangelnden Informationen, den Einschüchterungen und Mauscheleien nichts geändert hatte. Er stellte fest: „Dennoch hat USAID die peruanische Regierung weiterhin mit Geld versorgt. Eine mittlerweile illegale Finanzierung.“15
Seither wurden die Voraussetzungen und Regeln für Sterilisationen genau überprüft und dann geändert, wie übrigens auch die Politik der Geburtenkontrolle in Peru insgesamt. Innerhalb der Kirche haben reaktionäre Strömungen Oberwasser bekommen und nehmen Einfluss auf das politische Leben. Der zur Zeit zweite Mann in der Partei Perú Posible von Präsident Toledo, der Abgeordnete Luis Solari, ist ein Mediziner, der an der Universität San Marcos studiert hat. Solari ist Mitglied des Referats zum Schutz des Lebens in der peruanischen Episkopalversammlung und bezeichnet sich als gläubigen Menschen. Als er 2001 zum Gesundheitsminister ernannt wurde, ergriff er die Initiative zur Einsetzung einer Sonderkommission, die ein Jahr später den spektakulären Abschlussbericht über die Zwangssterilisationen veröffentlichen sollte.
„Damit gelang es ihm, die früheren Untersuchungen abzuschmettern – vor allem jene, die die Entscheidungsfreiheit der Frau in den Mittelpunkt gestellt hatten –, und den Weg für seine konservativen Vorstellungen freizumachen“, meint Roxana Vásquez, Anwältin von Cladem-Perú und Leiterin der Frauenorganisation Demus16 . „Denn was ist unsere Hauptsorge? Dass die Rechte der Frau gewährleistet sind! Nehmen wir als Beispiel die Abtreibung, die verboten und strafrechtlich relevant ist. Eine Frau aus der Mittelschicht kann sie ohne Risiko vornehmen lassen. Es sind die Armen, die sterben, weil sie sich mit Stricknadeln behelfen. Luis Solari und sein Nachfolger im Gesundheitsministerium, Fernando Carbone, haben sich bis heute dem Gebrauch empfängnisverhütender Mittel widersetzt.“ Zwar scheint der derzeitige Amtsträger Álvaro Vidal aufgeschlossener, aber sicher ist das nicht.
Die erwarteten Reformen kommen nicht in Gang, befindet die Kommission für Wahrheit und Versöhnung (CVR), die die Gründe für die Welle politisch motivierter Gewalt in den letzten zwanzig Jahren zu erfassen und zu analysieren versucht. Laut ihrem Abschlussbericht vom 28. August 2003 offenbarten die Konflikte vor allem zwischen Staat und der Guerillaorganisation Sendero Luminoso „enorme soziale Gräben innerhalb der peruanischen Gesellschaft, die bis heute fortbestehen“, sowie eine „direkte Verbindung zwischen Armut, Ausgrenzung und der Wahrscheinlichkeit, Opfer von Gewalt zu werden“. Die Opfer sind in der Regel Quechua sprechende Bauern, die in bitterarmen Regionen leben, einfache Menschen, deren Schicksal den Rest des Landes nicht interessiert.
„Diese gesellschaftliche Tragödie deckt sich in vielen Punkten mit der der zwangssterilisierten Frauen“, resümiert Salomón Lerner Febres, Rektor der katholischen Universität von Peru und Präsident der CVR. „Dennoch spricht niemand mehr von ihnen. Meiner Ansicht nach haben ideologische Positionen in dieser schrecklichen Angelegenheit alles noch schlimmer gemacht – die Starrsinnigkeit der Feministinnen, der glühende Eifer, mit dem sich das Opus Dei auf die Sache gestürzt hat, und die Schamlosigkeit der Verantwortlichen, die von Unwissenheit und der allgemeinen Gleichgültigkeit profitieren. An meiner Universität werden wir ein Institut für Menschenrechte und Demokratie gründen. Und wir werden das Thema der massenhaften Zwangssterilisationen wieder zur Sprache bringen.“
„Man versucht, die Angelegenheit zu vertuschen“, meint auch Hilaria Supa aus Hayllacocha noch, bevor sie wieder zur Feldarbeit aufbricht. „Aber damit geben wir uns nicht zufrieden. Denn zu vielen Frauen geht es schlecht. Zu viele Leute sind betrogen worden.“
deutsch von Christian Hansen
* Journalistin