14.05.2004

Ausgewiesene Identität

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Ausgewiesene Identität

WER schon einmal im fremdsprachigen Ausland seinen Personalausweis oder Pass verloren hat, der weiß, wie schwierig es ist, die Kontrolle über die eigene Identität zurückzuerobern. Manchmal kann es dann unerhört hilfreich sein, auf jenes kleine rechteckige Stück Plastik zurückgreifen zu können, das im Alltag in den USA und in Teilen Westeuropas den Personalausweis de facto zu ersetzen begonnen hat: die Kreditkarte. Kein Zufall, dass sich die Ausweisdokumente seit dem Ende des 20. Jahrhunderts in ihrer technischen Machart wie in ihrer äußeren Form immer stärker der Kreditkarte angleichen; denn mit der Frage der Identität von Personen steht immer – das war schon im europäischen Mittelalter so und gilt heute für die „sans papiers“ in der EU – deren legaler Status auf dem Spiel.

Von VALENTIN GRÖBNER *

Wer über Pässe redet, spricht immer über mehrere Dinge gleichzeitig: über Staatsbürgerschaft und Kontrolle, über Migration und Kriminalität. Jeder Reisepass, mit seinen glitzernden Hightech-Sicherheitsmerkmalen, dem verlegenen Foto und den ehrwürdigen Stempeln und Staatswappen – „gültig für alle Staaten der Welt“! – ist ein Bündel von Geschichten aus der Geschichte des Identifizierens.

Zurzeit verfilmt der amerikanische Regisseur Steven Spielberg die (wahre) Geschichte des Mannes, der seit fünfzehn Jahren im Terminal eins des Flughafens Paris-Charles de Gaulle lebt, weil er keine gültigen Papiere mehr hat und weder nach Frankreich ein- noch irgendwohin ausreisen kann.

In den Jahren 2002 und 2003 bezog ein deutscher Geschäftsmann von der Bundesdruckerei mit offizieller Erlaubnis mehr als 100 000 Reiseschutzpässe, die zur legalen Einreise in die EU-Staaten berechtigen, und verkaufte sie via Internet in Polen, Weißrussland und Russland weiter: Die Ermittlungsbehörden stellten später fest, dass kriminelle Organisationen mit diesen befristeten Papieren zehntausende Schwarzarbeiter und Zwangsprostituierte nach Europa geschleust haben.1 Schon 1999 sprach eine offizielle Schätzung von einer halben Million gefälschten Ausweisdokumenten, die allein in der Europäischen Gemeinschaft in Umlauf seien.2

Wie modern ist die Moderne, wenn es um die machtvollen Identitätspapiere und Bescheinigungen der Person geht? Und was bescheinigen sie eigentlich genau? Kontrolliert wird am Grenzübergang ja nicht, ob die Person echt ist – jede Person ist echt. Sondern ob ihr Ausweis bestimmte Figuren der Echtheit trägt: und diese Figuren des Echten haben eine spezifische Geschichte.

Trotz Magnetstreifen, Foto und aufwändig produzierten Sicherheitselementen beruht jeder moderne Reisepass auf drei mittelalterlichen Erfindungen. Anfang des 13. Jahrhunderts wurde in Italien die bürokratische Technik entwickelt, die bis heute grundlegend für die Genese des behördlichen Identifizierens ist: das Register. Dessen kanzleiinterne Aufzeichnungen verzeichneten alle ausgestellten behördlichen Dokumente – auch Bescheinigungen zur Identität. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts – als die Register auf dem neuen Schreibmaterial Papier die Verwaltung revolutionierten – wurden in den Kanzleien der italienischen Städte auch erste Listen von gesuchten Verbrechern, Verbannten und Geächteten angelegt. Die Inquisitoren des Dominikanerordens benutzten die gleiche Technik, um die Namenslisten bekannter und gesuchter Ketzer zusammenzustellen, zu vervielfältigen, zu archivieren und weiterzuleiten. Auch die verbündeten Städte nördlich der Alpen begannen im 14. Jahrhundert, einander die Listen von Gesuchten und Geächteten als „gesteckhete brieve“ zuzuschicken. Damit waren die beigefügten Personenbeschreibungen gemeint – Steckbriefe, ein mittelalterliches Wort.

Ein mittelalterliches Wort ist auch „passeport“, das zum ersten Mal in der Mitte des 15. Jahrhunderts gebraucht wurde. Offizielle Geleitbriefe und personalisierte Empfehlungsschreiben hatte es schon sehr viel früher gegeben. Sie waren aber kostspielige Privilegien und wurden nur an sehr wenige Personen ausgegeben. Dagegen erschienen um 1460 die ersten obligatorischen Ausweispapiere, das heißt solche, die Personen besitzen mussten, um ihren eigenen legalen Status nachweisen und Eingangskontrollen passieren zu können (das französische passeport bedeutet wörtlich: „Geh durch die Tür“).

Die frühesten solcher pass brief oder bassporten wurden in Frankreich, Norditalien und der Eidgenossenschaft für Soldaten ausgestellt, die aus dem Krieg zurückkehrten, um Deserteure von regulär Beurlaubten unterscheiden zu können. Ebenso mussten Pilger zunehmend von ihrem lokalen Bischof ausgestellte Dokumente vorweisen, auf denen stand, wer sie waren und wohin sie wollten.

Damit wurde Reisen zur Frage der richtigen Papiere. Obrigkeitliche Gesundheitszeugnisse, Entlassungsscheine, Urkunden über die eigene Person wurden für immer größere Gruppen Vorschrift: für wandernde Handwerksgesellen und Kaufleute, in den häufigen Pestzeiten sogar für alle Reisenden. Was zu Beginn des 15. Jahrhunderts noch ein Privileg gewesen war, wurde am Ende des 16. Jahrhunderts Pflicht, und das Fehlen eines persönlichen Ausweises wurde mit Geld- und Haftstrafen geahndet. Damit war, zumindest laut Verordnungen, Reisen zu einer Frage der richtigen Papiere geworden – und zu einer Frage des nötigen Kleingelds, denn für alle diese Passier- und Erlaubnisscheine wurden Gebühren erhoben.

Aber wie konnten die frühneuzeitlichen Behörden sicher sein, dass der Name, der auf dem Papier stand, tatsächlich denjenigen bezeichnete, der das Papier mit den Zeichen seiner Echtheit vorzeigen konnte? Für alle Formen von Personaldokumenten galt ja, dass das Echte an ihnen Produkt von Vervielfältigungstechniken war: Stempel, Siegel und gedruckte Formulare. Im Zeitalter der Vervielfältigung, das mit dem Buchdruck angebrochen war, musste man realistischerweise damit rechnen, dass gerade die Zeichen für Echtheit ebenfalls vervielfältigt wurden, auf Kleidern und Waren ebenso wie auf geschriebenen Dokumenten.

Eine ganze Literaturgattung widmete sich der Figur des betrügerischen Bettlers, von dem es bald hieß, er könne auch sein eigenes Äußeres durch simulierte Krankheiten, täuschende Kleider, verwandelte Geschlechtszugehörigkeit und künstliche Brüste manipulieren. Eine 1528 mit einem Vorwort von Martin Luther gedruckte deutsche Fassung des „Liber Vagatorum“, (Buch der Vagabunden) klagte beredt, diese betrügerischen Supersubjekte seien im Stande, sämtliche Urkunden, Zeichen und Siegel zu fälschen – und damit auch die obrigkeitlichen Ausweise, Aufenthalts- und Bettelbescheinigungen, die zunehmend strikt vorgeschrieben wurden. Bürgermeister und Rat der Stadt Zürich etwa sahen sich genötigt, in einem Rundschreiben benachbarte Obrigkeiten vor Betrügern zu warnen, die mit falschen Zürcher Bettelbescheinigungen unterwegs seien.

Überhaupt ist die Geschichte der Pässe eng verbunden mit der Geschichte der Armenpolitik. Seit dem 16. Jahrhundert wiederholten die Verordnungen aller europäischen Territorialstaaten, dass alle Bettler, armen Fremden und Nichtsesshaften – und vor allem die Zigeuner – das Land zu verlassen hätten, mit Ausnahme derjenigen, die ein Papier über einen bescheinigten Ausnahmestatus vorweisen konnten. Die Absicht dahinter brachte eine Passage aus der Reichspolizeiordnung von 1551 auf den Punkt: Alle Pässe und Schutzbriefe der Zigeuner, so ordneten die kaiserlichen Justizbeamten an, seien sofort zu beschlagnahmen und zu vernichten, weil es sich dabei um nichts anderes als um gefälschte Dokumente handeln könne.

Gleichzeitig wurde im Lauf des 16. Jahrhunderts in Europa die große administrative Utopie formuliert, die von nun an das Reden über die Identifikation von Individuen bestimmen sollte: alles aufschreiben. Als Kontrollorgane fungierten dabei nicht nur königliche Beamte, Inquisitoren und Grenzwächter, sondern auch andere Instanzen. Von der Mitte des 16. Jahrhunderts an schrieben städtische Verordnungen beispielsweise den Herbergswirten vor, sie hätten den Behörden jeden Abend ein Verzeichnis der neu angekommenen Fremden abzuliefern. In Leipzig und in anderen deutschen Städten wurden ärmere Mieter in den Vorstädten als „Zettelbürger“ bezeichnet, weil sie auf Aufenthaltsbescheinigungen mit einer Bürgschaft ihres Vermieters angewiesen waren.

In die frühneuzeitlichen Ausweise, die zunächst bloße gesiegelte Bescheinigungen für eine namentlich genannte Person gewesen waren, wurden deshalb zunehmend detaillierte Personenbeschreibungen eingefügt. Größe, Haar- und Hautfarbe, auffällige Narben oder Muttermale wanderten aus dem älteren Steckbrief in den Pass. Aber das galt nur für die Armen: Wohlhabende und hochgestellte Reisende waren in Europa von Körperbeschreibungen und der Registrierung ihrer „besonderen Kennzeichen“ befreit. Deren Pässe enthielten nur Namen, sie waren sozusagen umso wirkungsvoller, je weniger Angaben zur Person sie enthielten. Nicht zuletzt deshalb tauchte in der Anfangszeit der Identitätsdokumente zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert in Europa auch eine neue Gestalt auf, die sich den magischen Papieren buchstäblich anverwandelte: der Hochstapler.

Ein bisschen tragisch ist das schon. Zwei Jahrhunderte lang wurden Verordnungen und Gesetze erlassen und immer neue Formulare ausgefertigt – und heraus kam die immer wieder neu evozierte Heldenfigur des Berufsbetrügers und Verwandlungskünstlers, samt seinem offiziell dazu autorisierten Gegenstück, dem Diplomaten und Spion mit echten falschen Papieren.

Zwei Jahrhunderte stets wiederholter Aufschreibetätigkeit und Kontrollaufmerksamkeit. Und ihr Ergebnis waren Berge von Papier voller falscher Angaben; und Aufzeichnungen von Reisenden, die mit Herablassung oder Genugtuung davon berichten, wie leicht sie lästige Ausweis- und Registrierungspflichten mit Trinkgeldern umgehen konnten.

Die Ausweise der Vormoderne waren viel eher ein Versprechen auf Kontrolle und umfassende Registrierung als deren funktionierende Instrumente und wurden vor allem als Mittel benutzt, ebendiese Kontrollen zu unterlaufen. Ein Pass, so formulierte Casanova im 18. Jahrhundert in seinen Memoiren, sei dazu da, einem Respekt zu verschaffen.

Dieses Durcheinander und die Standesunterschiede in der Praxis des Identifizierens sollte Johann Gottlieb Fichte in seiner „Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre“ 1796 dann energisch attackieren. „Jeder Bürger muss allenthalben, wo es nöthig ist, sogleich erkannt werden können, als diese oder jene bestimmte Person“, forderte er. „Keiner muss dem Polizeibeamten unbekannt bleiben können. Dies ist nur auf folgende Weise zu erreichen. Jeder muss immerfort einen Pass bei sich führen, aus gestellt von seiner nächsten Obrigkeit, in welchem seine Person genau beschrieben sey; und dies ohne Unterschied des Standes.“ Und weil „die bloss wörtlichen Beschreibungen einer Person immer zweitdeutig bleiben“, solle man „bei wichtigen Personen, die es sonach auch bezahlen können, statt der Beschreibung ein wohlgetroffenes Portrait“ in ihre Pässe einfügen.3

Das blieb erst einmal Utopie. Allen noch so strikten Bestimmungen auf dem Papier und allen wirklichen Schikanen an den Grenzen zum Trotz blieb die Durchsetzung der Passgesetzgebung auch im 19. Jahrhundert lückenhaft. So sehr die Polizeihandbücher auch die Überprüfung der Pässe und neu eingeführter Dokumente wie der livrets d’ouvrier (Arbeitsbücher) und der Wanderbücher propagierten, um die Wege und Etappen der Reisenden genau zu verfolgen und kriminelle Elemente von der Straße wegzubekommen – die tatsächliche Wirksamkeit dieser Kontrollen war begrenzt. Ein beträchtlicher Teil der Millionenheere von Migranten, die in der Zeit der industriellen Revolution die Landkarte Europas veränderten, war ohne gültige Papiere und offizielle Erlaubnis unterwegs.

Unter dem Einfluss des Liberalismus schafften die meisten Länder West- und Mitteleuropas im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den Zwang zum Pass für Auslandsreisen ab – das später häufig nostalgisch evozierte goldene Zeitalter, in dem man ohne Visa und Ausweis quer durch Europa reisen konnte. Im Jahr 1888 warben englische und französische Eisenbahngesellschaften für die luxuriöse Reise im Orientexpress von London nach Konstantinopel, auf der man weder umsteigen musste noch einen Pass benötigte. Dabei wird leicht vergessen, dass vor allem die Wohlhabenden – sozusagen die Passagiere der 1. Klasse – von Passzwang und Kontrollen ausgenommen waren. Ärmere Reisende mussten sich weiterhin durch Papiere identifizieren, um nicht wegen Vagabuntentum oder Bettelei eingesperrt zu werden.4

Fichte formulierte aber noch etwas anderes: die Ur-Erzählung von der administrativen Identifikation von Personen durch Ausweise mit Bild. Die neue Technik Fotografie wurde schon 1843/44 in Brüssel zur Identifikation von Bettlern, Heimatlosen und Verdächtigen verwendet. Mit der Einführung der standardisierten Polizeifotos in den 1870er-Jahren und den umfangreichen Bildersammlungen der Polizeiarchive an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert begann der Siegeszug dieses besonderen technischen Bildbeweises.

Aber wie tauglich war er zur Identifikation? „Von der allgemeinen Einführung der Fotografie wurde viel erwartet“, resümierte der Trierer Landgerichtsdirektor Barre 1891, „allein, die Hoffnungen haben sich nicht erfüllt.“ Bilder waren unzuverlässig, wie die Verfechter des Systems Bertillon, der exakten Vermessung der Körper, in den 1880er-Jahren zu wiederholen nicht müde wurden. Derselben Ansicht waren die Befürworter der neuen Technologie Fingerabdruck an der Wende zum 20. Jahrhundert. Bei der Fotografie seien Fälle von Doppelgängern und zufälligen Ähnlichkeiten nie ganz auszuschließen, Manipulationen des Aussehens durch veränderte Bärte oder Frisuren zu einfach. Ein und dieselbe Person, so die Spezialisten, sehe auf verschiedenen Bildern und unter verschiedenen Umständen fotografiert zu unterschiedlich aus.

Trotzdem war es die fehleranfällige Identifikationstechnik Fotografie, die bei der Wiedereinführung der Reisepässe bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs die feste Koppelung von Person und Papier sicherstellen sollte, und nicht der Fingerabdruck. Die Daktyloskopie war 1914 als exaktes Beweismittel anerkannt und juristisch abgesichert, aber kein einziges europäisches Land integrierte am Beginn des Ersten Weltkriegs Fingerabdrücke in die wieder eingeführten obligatorischen Pässe. Die Assoziation des Fingerabdrucks zum Verbrechen war offensichtlich zu machtvoll; die Tradition des bürgerlichen Porträts erlaubte dagegen die problemlose Integration des Fotos auch in die Ausweise Bessergestellter.

Und noch etwas war neu: Die feste Verbindung von Pass und Staatsangehörigkeit. Im 17., 18. und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein waren viele Reisende mit Pässen unterwegs gewesen, die von ihrem Ziel- und nicht ihrem Herkunftsland ausgestellt worden waren: Jedes obrigkeitliche Papier konnte als Identitätsnachweis dienen. 1914 wurden dagegen Pass und Staatsbürgerschaft fest und endgültig miteinander verkoppelt.5 Der Pass wurde damit nicht nur Identitäts-, sondern gleichzeitig Zugehörigkeitsbescheinigung. Und die Zeichen des kriminalistischen Identifizierens – kündete nicht jeder Fingerabdruck von Verbrechen und deren Spuren? – erwiesen sich als schlecht vereinbar mit den heraldischen Zeichen der Nation, die aus dem bescheinigten Individuum erst eine Rechtsperson machten und ihm den Zugang zu den Privilegien eines Staatsbürgers garantierten. Das mag der Grund dafür sein, dass der Pass bis weit ins 20. Jahrhundert die repräsentative gesiegelte Urkunde blieb, als die er im Mittelalter entstanden ist, trotz Heftform, neuer Sicherheitsmerkmale und eingeklebtem Foto.

Die historische Recherche lehrt über Funktionen eines Reisepasses, dass er zwei recht unterschiedliche Modi zur Identifikation einer Person enthält. Zum einen die mimetische Abbildung: die immer genauere Beschreibung des körperlichen Aussehens, Größe, Alter, Haarfarbe, besondere Kennzeichen, mit dem Passfoto als visueller Ergänzung. Der zweite Modus wurde ebenfalls in den großen mittelalterlichen Aufschreibesystemen entwickelt, nämlich die Erfassung durch eine Registernummer. Sie verweist nicht auf die Person selbst, sondern auf eine zentrale Aufschreibeinstitution, bei der Angaben über Gültigkeitsdauer, ausstellende Behörde usw. gespeichert sind. Jede dieser Darstellungsformen – unmittelbare „naturtreue“ Abbildung im ersten Fall und numerische Erfassung im zweiten – verlangt auch die andere. Denn nur mit Hilfe eines Zahlen-Buchstaben-Systems kann man Abbildungen von Personen, die ja lauter Unikate sind, ordnen, um eine bestimmte Person darin wiederzufinden.

Angesichts der häufigen Namenswechsel und der vielen Fotografien Unbekannter in ihren explosionsartig wachsenden Fotosammlungen erkannten schon die Polizeibeamten am Ende des 19. Jahrhunderts, dass der Abgleich von Fotos von Verdächtigen mit bereits in ihren Archiven befindlichen Bildern immer schwieriger wurde. Auch Fingerabdruckmuster wurden zu ihrer Registrierung und möglichst raschen Wiederauffindbarkeit in den rasant wachsenden Karteien in Zahlen umgewandelt. Der erste Fingerabdruck wurde übrigens schon 1922, beinahe sechzig Jahre vor der Existenz des Fax, als digital codierte Zahlenfolge über den Atlantik geschickt.

Aber wie die bloße Beschreibung die Zahl verlangt, verlangt die Zahl das Bild des Körpers. Angesichts exponentiell steigender Fälle von identity theft (Identitätsdiebstahl) durch entwendete Kreditkarten- und Sozialversicherungsnummern bieten amerikanische Kreditkartenfirmen ihren Kunden heute schon an, die Karte mit ihrer Nummer durch ein ganz besonders authentisches, weil persönliches Sicherheitsmerkmal zu ergänzen – durch Passfoto, digitalen Fingerabdruck, Iris-Scan. Die Einzigartigkeit des Kunden soll dabei Schutz vor Diebstahl bieten und die Sicherheit der Kreditkarte herausstellen. „Wir denken, dass Sie etwas ganz Besonderes sind. Niemand ist wie Sie“, verkündete eine ganzseitige farbige Anzeige der US-Kreditkartenfirma Citi im New Yorker. „Das ist keine Schmeichelei. Das ist Schutz vor Betrug.“ Die Techniken der Erfassung und Aufbereitung biometrischer Merkmale, mit denen seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA und in Europa Pässe und Personalausweise „fälschungssicher“ gemacht werden sollen, wurden zuvor von Kreditkartenfirmen entwickelt.

Im Pass stoßen aber noch zwei weitere Erfassungslogiken aufeinander. Denn identiziert wird eine Person zum einen als Einzelperson im polizeilichen Sinn, zum anderen als Rechtssubjekt, das durch kollektiv zugeteilte Zugangs- oder Ausschlusskriterien definiert ist. Beide Identifikationsweisen überschneiden und konkretisieren sich in dem machtvollen Stück Papier mit Passfoto und Stempel. Die Geschichte der Identifikationspraktiken in Europa lässt sich deshalb eben nicht als eine Geschichte der zunehmenden schriftlichen Erfassung und immer lückenloseren bürokratischen Kontrolle schreiben. Die Regel war (und ist) nämlich nicht die allmächtige Zentralverwaltung, die alles über alle wissen will, sondern ein gleichgültiges Informationsregime, das kein Interesse hat an den Personendaten all derer, die es für unerwünscht erklärt. Um erfolgreich Rechte beanspruchen zu können – auf medizinische Versorgung, auf Essen, auf Behandlung nach rechtsstaatlichen Grundsätzen – muss ein Mensch als Einzelperson erfasst sein. Um diese administrative Anerkennung spielen sich die Kämpfe an Grenzen und Schaltern ab. Identifizierung war und ist von der stets präsenten Möglichkeit definiert, dass das Identitätsdokument nachträglich für ungültig erklärt werden kann. Und dass die kontrollierende Obrigkeit sich weigert, ihre eigenen Zeichen in jenen Papieren wiederzuerkennen, die einer Person bescheinigt, wer sie sei.

Die Art und Weise, wie heute ein Reisepass funktioniert, beruht also nur teilweise darauf, das seine Trägerin oder sein Träger durch ihn besser identifiziert werden kann. Mindestens genauso wichtig ist, dass kein Ausweis, so präzise die Person darauf auch abgebildet sein mag und so überzeugend die bescheinigten Garantien der Echtheit auch sein mögen, seinem Träger vollständige Bewegungsfreiheit garantieren kann. Personen werden durch Dokumente identifiziert, deren Inhalt und Gebrauch sie selbst nicht bestimmen können. Ob es uns passt oder nicht, wir sind die Nachkommen der Armen der frühen Neuzeit. Die Kriterien, nach denen ein Ausweis gültig oder ungültig war und ist, lagen und liegen immer außerhalb der Reichweite seines Besitzers.

Genau darauf zielten bereits die Passgesetze des 17., 18. und frühen 19. Jahrhunderts ab. Sie dienten nicht der lückenlosen Überwachung und Erfassung, sondern dazu, den oder die Reisenden dem Zwang zur Kontrolle zu unterwerfen. Aus der Sicht der kontrollierenden Obrigkeit ist der perfekte Ausweis deshalb derjenige, der ein kleines Fehlverhalten seines Besitzers oder seiner Besitzerin dokumentiert. Ein fehlender Stempel, eine ungültige Gebührenmarke, eine versäumte Frist zur Verlängerung der Gültigkeitsdauer – eine kleine, aber signifikante Verletzung der Regeln. Der Beamte kann entweder großzügig über sie hinwegsehen oder sie ernst nehmen und sanktionieren. Identifikation als Kontrolle heißt, den Kontrollierten in einen Zustand zu bringen, in dem er bereits einen Fehler gemacht hat und ihn daraufhin dauernd verdecken, verbergen und sich dafür entschuldigen muss.

Und hier zieht sich eine eher beklemmende Kontinuität von den Absichten der frühmodernen Obrigkeiten zu den sowjetrussischen Passgesetzen, die schon für kleine Bewegungen im Landesinneren eine Vielzahl von Zugangs-, Passier- und Erlaubnisscheinen vorschrieben, und zu den südafrikanischen des späteren 20. Jahrhunderts, die gegen die Farbigen und Schwarzen gerichtet waren und Millionen von Gesetzesübertretungen produzierten. Und zu unserer eigenen Gegenwart. Denn dasselbe Prinzip lässt sich auch in einigen Aspekten des Umgangs europäischer Länder mit illegalen Einwanderern wiederfinden – von ihren Pässen, so echt die auch sein mögen, haben sie wenig. Sie werden identifiziert, damit sie als Illegale wieder ausgewiesen werden können.

Angesichts immer besserer Vervielfältigungstechniken boomt der Markt für gefälschte Identitätsdokumente. Aber das ist keine Niederlage, sondern – auch wenn die zuständigen Polizeibehörden das wahrscheinlich anders sehen – ein Triumph des Reisepasses.

Die wahre Herausforderung liegt dagegen im Phänomen der Illegalität, dem Status der „sans papiers“. Niemand weiß, wie viele es von ihnen gibt, unregistrierte Menschen ohne jeden Pass oder Personalausweis, die plötzlich da sind, im Flughafen, am Bahnhof, im Inneren unserer Länder. Wir dagegen haben ja einen Ausweis, wir können beweisen, das wir hierher gehören!

In der Geschichte des Reisepasses sind die Ausgeschlossenen, Nichtidentifizierten immer präsent. Unter wechselnden Etiketten – als betrügerische Arme, als angeblich „kulturell“ oder „rassisch“ Andere – werden ihnen besondere Fähigkeiten zur Verstellung, zur Unerkennbarkeit zugeschrieben. Das sind nicht nur vormoderne Stereotype. Sie sind in der Geschichte der Identifizierungstechniken, in Fotografie, Anthropometrie, Fingerabdruck und DNA-Profiling sehr präsent: Seit dem 19. Jahrhundert erscheint in den Expertendebatten um die jeweils neuste Identifizierungstechnologie immer wieder das Bild von den für weiße Augen ununterscheidbaren Asiaten und Afrikanern, deren betrügerisch manipulierte Körper sich den abbildenden und registrierenden Apparaten und Papieren entzögen. Elemente aus diesen alten Erzählungen kommen im Nichtidentifizieren der vielen hunderttausend illegalen Haushaltshilfen und Prostituierten aus Lateinamerika, Asien und Osteuropa zusammen, die heute in den Vereinigten Staaten und in Westeuropa tätig sind und die eben nicht als Arbeitnehmerinnen und Einzelpersonen mit zugesicherten Rechten auftreten können, weil sie de jure gar nicht da sind. Definiert werden sie durch Ausweise, die sie nicht haben.

Die mittelalterliche Etymologie hatte das Wort für Aussehen und Gesicht, „vultus“, von „volo“, ich will, abgeleitet. Das hat mit der wirklichen Wortgeschichte von „vultus“ nichts zu tun, aber in Bezug aufs Identifizieren und die Geschichte des Reisepasses stimmt es. Denn Identität ist nicht etwas, das man hat, sondern der Versuch, die Definitionen anderer, wer man sei, zu kontrollieren. Identität ist deshalb auch kein beschaulicher kulturwissenschaftlicher Topos, sondern ein Kampffeld. Denn allem flotten Reden von self-fashioning und changierenden postmodernen Identitäten in den Oberseminaren zum Trotz: Nicht jede und jeder ist gleich berechtigt, von der eigenen Verwandlungsfähigkeit zu reden. Identität ist Zugangsberechtigung zu Ressourcen, persönlichem Eigentum oder Chance auf Zuteilung aus kollektiv verwaltetem Besitz, die an einen strikt definierten Rechtsstatus gekoppelt ist. Um die Durchsetzung dieses Rechts auf einen Namen und eine Person drehen sich die Konflikte um Pässe.

Eine letzte Geschichte: Am Weihnachtsabend 1996 kenterte ein mit mehreren hundert illegalen Einwanderern überladenes Boot vor der Südostspitze von Sizilien. 300 Menschen ertranken – die größte zivile Schifffahrtskatastrophe im Mittelmeer im 20. Jahrhundert. Von den italienischen Behörden wurde das jahrelang geleugnet. Ein solches Unglück, hieß es offiziell, habe nie stattgefunden.

Erst als im Netz eines Fischers vor Portopalo ein Exemplar jener erstaunlichen Identitätserfindung des 15. Jahrhunderts auftauchte, ein amtlicher Ausweis, der Wahr-Schein einer Person als Evidenz, die vom Staat Sri Lanka ausgestellte Identitätskarte des ertrunkenen Anpalagan Ganeshu, 17 Jahre alt, erst dann begannen die Ermittlungen.

© Le Monde diplomatique, Berlin

* Professor für Geschichte an der Universität Luzern. Verfasser von „Ungestalten“, München (Hanser) 2003. „Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Mittelalter“ erscheint im September 2004 in München (C. H. Beck).

Fußnoten: 1 Die Zeit, 6. November 2003; Berliner Zeitung, 24. März 2004. 2 Peter Pfefferli, Jonathan Steiner, Carlo Oneta und Hansjörg Gähwiler, „Bekämpfung von Ausweis- und Visumsfälschungen“, Kriminalistik 53 (1999), Heft 12, S. 1–8. 3 Johann Gottlieb Fichte, „Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre“, in: Ders., Werke, Bd. III, Leipzig 1924, S. 295. 4 Martin Lloyd, „The Passport“, London 2003; Jane Caplan und John Torpey (Hg.), „Documenting Individual Identity“, Princeton University Press 2001; Andreas Fahrmeir, „Citizens and Aliens. Foreigners and the Law in Britain and in the German States 1789–1870“, Oxford 2000. 5 Dieter Gosewinkel, „Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland“, Göttingen 2001; Simon Cole, „Suspect Identities. A History of Fingerprinting and Criminal Identification“, Harvard University Press 2001.

Le Monde diplomatique vom 14.05.2004, von VALENTIN GRÖBNER