Dialektik des Widerstands
In Paris kämpfen Aktivisten verschiedenster Couleur gegen die Überhandnahme von Werbung im öffentlichen Raum. Allerdings hat auch die Werbebranche selbst ein wohl begründetes Interesse an derartigen Aktionen.
Von FRANÇOIS BRUNE *
ENDE letzten Jahres fiel den Leuten in den französischen Fernseh- und Zeitungsredaktionen plötzlich auf, dass es Werbung in der Metro gibt – als Gruppen von Jugendlichen voller Wut auf Reklameflächen losgingen und sie mit Freiheitsparolen besprühten und die Pariser Metro-Gesellschaft RATP von ungefähr 60 Sprayern Schadensersatz in Höhe von einer Million Euro forderte. Zeitungen und Zeitschriften stürzten sich auf das Thema und brachten – unter der Rubrik „Tendenzen“ und auf die Gefahr hin, ihre Inserenten vor den Kopf zu stoßen – zahlreiche Reportagen. Woher kamen diese subversiven Graffitikommandos, die die öffentliche Ordnung nicht respektieren? Und: Weshalb wollen die Medien mit einem Mal ausgerechnet an dem Ast sägen, auf dem sie selbst sitzen?
Am 17. Oktober 2003 stiegen rund 300 Sprayer in Pariser Metrostationen hinunter und verzierten mehrere hundert Werbeplakate mit Tags, schwarzen Kreuzen und Sprüchen von der Sorte: „Au lieu de dé-penser: pensez!“ („Hört auf zu kaufen, fangt an zu denken.“) Sie folgten damit einem Internet-Aufruf von Stopub (Stop Werbung), einem Zusammenschluss von Studenten, Lehrern, Arbeitslosen und intermittants du spectacle (das sind die befristet beschäftigten Schauspieler, Bühnenarbeiter, Filmtechniker und andere Kulturschaffende, die seit längerem gegen ihre unsichere Arbeitssituation protestieren). Sie alle wenden sich gegen die Kommerzialisierung unserer Welt und unserer Köpfe, deren sichtbarstes Zeichen eben die Werbung ist. Sie traten alle unter dem Namen Robert Johnson auf.
Von der für den 28. November geplanten Aktion hatte die RATP Wind bekommen – die Polizei war alarmiert und mit großem Aufgebot zur Stelle. Fast dreihundert Aktivisten wurden festgenommen, bevor sie zur Tat schreiten konnten. Gleichzeitig musste der Webhoster www.ouvaton.coop der Justiz den Namen des ihm bekannten Verantwortlichen der Webseite stopub.ouvaton nennen. Es war ein junger Informatiker, der die inkriminierte Seite gratis programmiert hatte.
Erst jetzt wurde man in den Medien auf das Thema aufmerksam. Daraufhin machten in einigen französischen Städten die Antiwerbungsaktivisten mobil und organisierten eine nächtliche Graffitiaktion am 19. Dezember. RATP und Métrobus beschlossen daraufhin, 62 der vorübergehend festgenommenen Aktivisten vor den Kadi zu zerren – ihre Schadensersatzforderung: eine Million Euro.
Nun ging der Medienrummel richtig los. Einige Aktivisten nutzten den Wirbel, um das Verfahren gegen ihre Mitstreiter ins Rampenlicht zu rücken. Radio und Fernsehen waren voll dabei. Am 10. März schließlich hob die Tageszeitung Libération die Sache auf die Titelseite: „Gegenwerbung: Den Sponti-Aktivisten wird der Prozess gemacht“1 . Dabei sind die Aktionen der Reklamekritiker so spontan nicht. Vielmehr stehen sie im Zusammenhang mit Lehrerstreiks, Aktionen der intermittants und den Protesten gegen die französische Forschungspolitik: alle stehen im Zeichen der Kritik an der Kommerzialisierung der Kultur und der Köpfe.
In den letzten vier Jahren ist der Druck der Werbung auf den öffentlichen Raum enorm gewachsen. Busse und Straßenbahnen präsentieren sich im Ganzkörperdesign als Werbeträger, auf Bahnhöfen wird Parfüm versprüht, in den Übergängen der Metro herrscht Dauerberieselung mit Werbespots. Selbst in den französischen Schulen hält die Reklame mit Plakatwänden Einzug: Markenfirmen übernehmen die Patenschaft für Schulhöfe und setzen ihre Logos überall drauf. Der Sexismus wird immer drastischer; Porno wird salonfähig, viele Fernsehsendungen zielen im Verein mit den zugehörigen Werbeblöcken von vornherein unter die Gürtellinie.
Während es für die unteren Gesellschaftsschichten immer schwieriger wird, über die Runden zu kommen, stellt sich auf den Plakatwänden der Mythos der Überflussgesellschaft mit immer größerer Schamlosigkeit aus. Und viele, die sich dem Konsum verschreiben, finden darin nichts als Frustration.
Angefangen von Naomi Kleins Bestseller „No logo“ über Zeitschriften wie Casseurs de Pub (Reklamezerstörer), bis hin zu Paul Ariès’ 2003 erschienenem Buch „Putain de ta marque“ (was so viel heißt wie „Ich pfeif auf dein Markenzeug“) nahm die Kritik an der Werbung immer schärfere Züge an. Und diese Kritik inspiriert die gegenwärtige Bewegung der Reklamegegner zu ihren Aktionen.
Vor diesem Hintergrund ist es nahe liegend, dass sich der Protest nicht mehr auf die reine Ablehnung der Werbeflut beschränkt, sondern auch andere Bewusstseinsprozesse einbezieht. Auch die Kartellisierung der „Welt als Ware“, die von der Konsumgesellschaft verursachten ökologischen Schäden und die undemokratischen Folgewirkungen des Wachstumsfetischismus stehen in der Kritik. Die reflektiertesten Aktivisten bescheiden sich nicht mit Sprüchen und Tags auf Werbeplakaten, sondern versuchen den Zusammenhang zwischen Globalem und Lokalem, zwischen Marktimperialismus und Konsumideologie aufzuzeigen.
Eine der Initiativen verkündet: „Unser öffentlicher Raum ist zur Beute einer Hand voll international agierender Konzerne geworden, die an der Spitze der Markenökonomie stehen und für die weltweiten Missstände verantwortlich sind: Standortverlagerung, schamlose Ausbeutung der Dritten Welt, Kommerzialisierung der natürlichen Ressourcen, der Kultur und schließlich auch der Menschen.“
Das aufwändig auf Hochglanz dargebotene Interesse der Medien an den reklamekritischen Kreuzfahrern erscheint auf den ersten Blick denn auch erstaunlich – auch wenn die mit bunten Bildchen aufgepeppten Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge auf den Leser so beruhigend wirken. In ihrer Machart stehen sie in der Tradition medialer Vereinnahmung, deren Verfahren wohlbekannt sind.
Zunächst wird der Leser geimpft. Man räumt ein, dass die Werbung ihre Macht in der Tat manchmal missbrauche, redet von einem Zuviel an Werbung, von Sexismus und Verdummung. Und dann tun unsere Journalisten so, als stünden sie Seite an Seite mit den Werbekritikern, und berauschen sich – mit leichter Herablassung – an dem Hauch von Achtundsechzig, den die Graffittisprayer im Underground verbreiten.
Das verschafft Erleichterung, zumal den subtileren Verfechtern der Werbung. Denn die Freiheit, gegen vereinzelte Fehlentwicklungen der Werbewirtschaft zu Felde zu ziehen, beweist in ihren Augen, dass man sich mit dem System arrangieren kann. So schrieb der Leitartikler von Libération ohne Umschweife: „Da zu viel Werbung die Werbung zerstört, kann Protest dagegen nicht schaden. Vor allem wenn er hilft, das Genre zu erneuern.“2
Sodann – dies ist das zweite Verfahren der Vereinnahmung – wird alles in einen Topf geworfen. So ähnlich wie die Globalisierungskritiker vor Jahren als Globalisierungsgegner kategorisiert wurden, taugt auch das Wort Reklamegegner als Etikett und enthebt der Notwendigkeit, die politische Stoßrichtung dieser Bewegung zu erkennen. Man gibt vor, die Wirklichkeit zu begreifen, konstruiert sie aber bloß als „gesellschaftliches Phänomen“, das sich vernünftigem Begreifen entziehe.
Bezeichnenderweise kehrt in den Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln über die „Reklamegegner“ ständig charakterisierend das Wort „Mischmasch“ wieder. Über diese Sprachregelung entsteht die Vorstellung eines bunt zusammengewürfelten Haufens, bestehend aus Konsumverweigerern, Radikalökologen, werbefeindlichen Steinzeitmenschen (die Otto Normalleser lieber gar nicht kennen lernen möchte), zufällig dazugestoßenen Studenten und Studentinnen, heimlichen Anarchos, gewaltfreien Free-Stylern und gar islamischen Kopftuch-Fundamentalisten, die sich zusammen in „zivilem Ungehorsam“ vergnügen.
Um sich den Anschein von Informiertheit zu geben, nennt man noch einige (gesetzestreue, von den Ereignissen aber überholte) werbekritische Organisationen und Zeitschriften und verweist auf die Kultbücher von Werbeprofis, die inzwischen öffentlich Abbitte geleistet haben – wie der Bestseller „39,90“ von Frédéric Beigbeder. Kurzum, man filmt ein Phänomen ab, anstatt die Bewegung und ihre Grundlagen zu betrachten. Das Ganze erweckt den Eindruck eines breit gefächerten Angebots, aus dem sich der Leser nach Gusto bedienen kann.
Bei all diesem Gepinsel am schönen bunten Chaos, dessen einzige Klammer in der Antihaltung zu bestehen scheint, ziehen die Artikelschreiber eine scharfe Trennlinie zwischen den Älteren und den Jüngeren, zwischen der denkenden „Arrieregarde“ – den rigiden Reklamekritikern, den institutionellen Werbefeinden und durchstrukturierten Organisationen – auf der einen Seite und der agierenden Avantgarde mit ihrer schnellen Reaktionsfähigkeit, ihrer Internet-Kommunikation und ihrer Spontaneität auf der anderen. An diesen, den Neo-Reklamefeinden, gefällt den postmodernen Reportern vor allem, dass sie angeblich eher triebhaft als reflektiert handeln.
Vor allem aber springen die Medien auf die „Jugend“ der „fanatischen Graffitibomber“ an, auf ihre Hypermobilität, ihr Auftreten als metropolitane Guerilla – weshalb die Zeitschrift Technikart, um richtig angesagt zu wirken, Englisch schreibt: „No pub last night, underground, free style“. Überzeugend sei die Bewegung der Reklamegegner, weil sie „free style-mäßig politisch handeln“.3 Als vorübergehende Modeerscheinung könne die Bewegung also nicht gefährlich werden.
Im Vergleich zur institutionellen Vereinnahmung durch die RATP erscheint das subtile Vorgehen der Medien freilich als lässliche Sünde. Nach der altbewährten Methode von Zuckerbrot und Peitsche kündigte die Pariser Metro-Betreibergesellschaft im März 2004 plötzlich an, sie wolle eine Woche lang 47 Plakatwände – das ist ein Zehntausendstel des jährlichen Gesamtvolumens – zur Verfügung stellen, damit sich Künstler aller Art frei darauf ausdrücken können: Reklameflächen an Reklamegegner.
Wenig später fand die RATP Nachahmer bei „Agir pour l’environment“. Die grüne Umweltschutzorganisation gab freudestrahlend bekannt, sie habe bei Métrobus Werbeflächen gekauft, um die „Umweltverschmutzung durch Werbung“ anzuprangern – womit sie sich prompt eine bissige Stellungnahme seitens „Casseurs de pub“ einhandelte. Denn so schwierig es für die Aktivisten ist, sich der Vereinnahmung zu entziehen, so eitel scheint das Ansinnen, die Vereinnahmer ihrerseits vereinnahmen zu wollen. Die Strategie des kleinen Fischs, der in den Bauch des großen hineinschwimmt, um ihn von innen her aufzufressen, hat bekanntlich noch nie funktioniert.
deutsch von Bodo Schulze
* Autor von „Bonheur conforme“, Paris (Gallimard) 1985 und „De l’idéologie aujourd’hui, Paragon 2004.