Ein donnerndes Ochi
DAS Referendum über den Annan-Plan sollte die Teilung Zyperns noch vor dem EU-Beitritt am 1. Mai 2004 überwinden. Das Ergebnis hat nicht nur in Brüssel enttäuscht: 76 Prozent der griechischen Zyprioten stimmten mit Nein. Bei den türkischen Zyprioten dagegen gab es, rechnet man die Stimmen der türkischen Siedler aus dem Votum heraus, 75 Prozent Jastimmen. Darin drückt sich die Hoffnung auf eine Zukunft aus, die durch das „Ochi“ der Inselgriechen auf absehbare Zeit blockiert wird. Deren Nein resultiert dagegen aus einer Unsicherheit, die von der Regierung Papadopoulos systematisch verstärkt und ausgenutzt wurde.
Von NIELS KADRITZKE
Der Präsident sprach mit flehender Stimme: „Mein griechischzypriotisches Volk, ich bitte dich, den Annan-Plan abzulehnen. Ich bitte dich, am 24. April ein starkes Nein auszusprechen. Ich bitte dich, dein Recht, deine Würde und deine Geschichte zu verteidigen.“ Nur ein „vrondero Ochi“, ein donnerndes Nein, könne die Republik Zypern vor der Auflösung bewahren. Dann nahm der Präsident seine Brille ab, damit das Volk seine Tränen blinken sah, und wünschte frohe Ostern.
Der melodramatische Appell, mit dem Tassos Papadopoulos am 7. April den griechischen Zyprioten suggerierte, dass der von der EU abgesegnete Annan-Plan eine tödliche Falle sei, war eine wirkungsvolle Medieninszenierung. Der Präsident sprach 55 Minuten lang über die negativen Punkte; für die Vorteile, die der UN-Plan den griechischen Zyprioten bringt, hatte er keine fünf Sekunden übrig. Anschließend zeigte der staatliche TV-Sender RYK eine lärmende Menge, die vor dem Präsidentenpalast ihrem Helden zujubelte: „Tassos, kämpfe, wir werden unser Blut geben.“
Die politischen Hooligans blieben auf dem halben Bildschirm eingeblendet, während auf der anderen Hälfte Vertreter der Parteien das Pro und Contra des Annan-Plans diskutierten. Zugleich wurden die Zuschauer aufgefordert, telefonisch mit Nein oder Ja abzustimmen. Am Ende hatten 90 Prozent der RYK-Zuschauer ihr „donnerndes Ochi“ abgeliefert.1
Die Stimmung, die an diesem Abend erzeugt wurde, ließ sich in den 17 Tagen bis zum Referendum nicht mehr kippen. Am 24. April stimmten 76 Prozent der griechischen Zyprioten gegen den Annan-Plan. Doch mit PR-Tricks allein lässt sich dieses massive Votum nicht erklären.2 Papadopoulos und seine Medienberater bedienten sich zwar einer Sprache und Symbolik, die an den Kampf gegen die britische Kolonialmacht in den 1950er-Jahren und an das Trauma der türkischen Invasion von 1974 erinnerten. Aber damit lieferten sie nur die patriotische Ideologie für eine Abwehrhaltung, die sich aus drei höchst gegenwärtigen Motiven speist: einem fundamentalen Sicherheitsbedürfnis, der Scheu vor jedem politischen Risiko und einer Haltung der Besitzstandswahrung, die türkische Zyprioten als Konkurrenten sieht, nicht als Teilhaber an einem künftigen „gemeinsamen Haus“ Zypern.
Dies machte die Mehrheit der griechischen Zyprioten unfähig, die drei großen Vorzüge des Annan-Plans zu erkennen. Der erste ist die Win-win-Situation für beide zypriotischen Volksgruppen: Den türkischen Zyprioten bietet er einen anerkannten Bundesstaat im Rahmen einer Föderation, also ein Gemeinwesen ohne die Kontrolle und Bevormundung durch Ankara, und die Mitgliedschaft in der EU und damit eine ökonomische Entwicklungsperspektive; den griechischen Zyprioten sichert er die Rückgabe von Territorium, auf das zwei Drittel der Flüchtlinge von 1974 zurückkehren können, und die Möglichkeit, den verlorenen Besitz im Norden zu einem Drittel zurückzubekommen und eingeschränkt zu nutzen oder eine Entschädigung zu beziehen.
Der zweite Vorzug des Plans liegt darin, dass die „Vereinigte Republik Zypern“ in den EU-Kontext eingebettet wäre. Damit würde garantiert, dass auch die temporären Abweichungen vom acquis communitaire allmählich abgebaut werden. Die EU-Vertreter haben bei den Verhandlungen bereits dafür gesorgt, dass keine permanenten Abweichungen von den EU-Prinzipien festgeschrieben wurden.
Der dritte und wichtigste Vorzug des UN-Plans ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Es handelt sich um eine äußerst flexible Konstruktion, die für künftige Entwicklungen offen ist. Selbst Einschränkungen, die heute etwa für das Recht auf Rückkehr der Flüchtlinge (auf beiden Seiten) gelten, können gemildert oder beseitigt werden, wenn sich dafür im Norden wie im Süden eine Mehrheit findet.3 Die Zukunft der Föderation hängt also von den Zyprioten selbst, von ihrer Bereitschaft zu einem friedlichen Miteinander ab.
Für ein solches Miteinander würden die Verfassungsgrundsätze, die der Plan vorgibt, zahlreiche Anreize und Hilfen bieten. Das lässt sich an der Exekutive des Föderativstaates zeigen: Der „Präsidentschaftsrat“ besteht aus sechs griechischen und drei türkischen Mitgliedern. Die werden von den beiden föderativen Parlamentskammern auf eine Weise bestimmt, die dafür sorgt, dass jedes Mitglied auf Stimmen auch der „anderen Seite“ angewiesen ist. Nationalistische Politiker, die bei der anderen Volksgruppe Persona non grata sind, hätten also keine Chance auf einen Sitz in dem Rat, aus dem das rotierende Präsidentenamt besetzt wird.
Kein Wunder, dass Denktasch und Papadopoulos dem Annan-Plan nichts abgewinnen konnten. Kein Wunder auch, dass der europäische Kontext aus dem Blickfeld der beiden alten Männer ausgeblendet ist. Für Denktasch ist die Europäische Union ohnehin ein Komplott gegen die türkische Nation. Aber auch Papadopoulos hat in seiner Rede gegen den Annan-Plan die Bedeutung des EU-Rahmens mit keinem Wort gewürdigt.4 Ein zypriotischer Journalist hat die historische Frage, die sich im Referendum für beide zypriotischen Volksgruppen stellte, so formuliert: „Wir stehen nicht vor der Alternative Ja oder Nein. Die Wahl lautet vielmehr: Wollen wir das Morgen oder das Gestern.“
Tassos Papadopoulos repräsentiert – wie sein Pendant Rauf Denktasch – das ewige Gestern des Zypernkonflikts. Er ist der letzte Politiker der Generation, die in den 1950er-Jahren den Kampf gegen die britische Kolonialmacht organisiert hatte, mit dem der Anschluss an Griechenland (griechisch: enosis) durchgesetzt werden sollte. Diese griechischen Nationalisten, die 1960 eine unabhängige Republik nur mit der Faust in der Tasche akzeptierten, haben den jungen Staat schon drei Jahre nach seiner Gründung zerstört. Nach dem geheimen „Akritas-Plan“ bereiteten sie einen Bürgerkrieg vor, um sich am Ende doch noch den nationalen Traum der enosis zu erfüllen. Zu den Verschwörern gehörte Tassos Papadopoulos. Der fungierte offiziell als Arbeitsminister der zypriotischen Regierung, während er inoffiziell die Waffenimporte aus Griechenland organisierte. Sein Kontaktmann in Athen war ein gewisser Giorgos Papadopoulos, Verbindungsmann zwischen dem griechischen Geheimdienst KYP und der CIA . Es war derselbe Oberst, der am 21. April 1967 in Athen den Putsch anführte, der die Militärjunta an die Macht brachte.5
Der Akritas-Plan war Hochverrat an der Republik Zypern, deren Verfassung die enosis untersagte. Aber die Verschwörer hatten auch auf der anderen Seite Brüder im Geiste. Die Führung der türkischen Zyprioten, seit 1958 unter dem Kommando von Rauf Denktasch, erstrebte die Teilung der Insel (türkisch: taksim), was nach der Verfassung ebenfalls ausgeschlossen war. Denktasch und seinen Befehlshabern in Ankara kam der Bürgerkrieg 1963 wie gerufen. Nach den ersten Attacken auf türkische Wohnviertel trieben sie eine interne Umsiedlung voran. Seit Frühjahr 1964 lebten 60 Prozent der Inseltürken in Enklaven, die von türkischen Offizieren kontrolliert wurden.
Vollendet wurde die Trennung der Volksgruppen im Sommer 1974, als Ankara den von der Athener Junta inszenierten Putsch gegen die zypriotische Regierung Makarios als Anlass zu einer militärischen Invasion nutzte. Damals trieb die türkische Armee die im Norden lebenden griechischen Zyprioten nach Süden; die türkischen Zyprioten des Südens wurden binnen eines Jahres nach Norden umgesiedelt.
Doch was die meisten griechischen Zyprioten vergessen oder leugnen: die „demografische Flurbereinigung“, die 1974 die Trennung in zwei Zonen ermöglichte, hatte schon 1963/64 begonnen. Die beiden Figuren, die für diese Tragödie maßgebliche Verantwortung tragen, kämpfen vierzig Jahre später mit fast identischen Argumenten gegen einen Plan, der die Umkehr des Trennungsprozesses einleiten würde. Und den die UN und die EU, die USA und die Regierungen der Türkei und Griechenlands als akzeptable Lösung des Zypernproblems befürworten. Während Denktasch vom Annan-Plan behauptet, er bedeute die „Auslöschung“ der türkischen Zyprioten, sieht Papadopoulos die Existenz der griechisch dominierten Republik Zypern gefährdet.
Was erklärt die politische Haltbarkeit solcher gespenstischen Figuren aus vergangenen Zeiten? Bei Rauf Denktasch ist die Antwort einfach: Er konnte sich so lange halten, wie die türkische Armee in Nordzypern das uneingeschränkte Sagen hatte. Bei Tassos Papadopoulos liegt die Sache komplizierter. Er verdankt seine heutige Macht der bizarrsten Koalition, dies es in der bizarren Geschichte zypriotischer Parteienbündnisse je gegeben hat.
Der Vorsitzende der Diko (mit 15 Prozent Wähleranhang nur drittstärkste Partei) ist Präsident nur dank der linken Volkspartei Akel. Die „Befreiungspartei des arbeitenden Volkes“, die sich bis heute als kommunistisch ausgibt, ist mit 35 Prozent stärkste politische Kraft. Sie sorgte im Februar 2003 für den Sieg des Kandidaten Papadopoulos über dessen Vorgänger, den liberalen Konservativen Glavkos Klerides.
Die Akel-Führung hat damals ihren Anhängern versichert, Papadopoulos werde ernsthaft versuchen, ein vereintes Zypern in die EU zu führen. Die Chance dazu bot der Plan, den UN-Generalsekretär Kofi Annan Anfang November 2002 vorgelegt hatte. Dessen Erfolgsaussichten wurden durch vier Entwicklungen begünstigt.
Erstens gab es in der EU einen Konsens, die Lösung des Zypernproblems als politische Voraussetzung für eine EU-Beitrittsperspektive der Türkei zu sehen.
Zweitens drängten auch die Vereinigten Staaten auf eine Lösung. Sie unterstützen den EU-Kurs der Türkei vor allem deshalb, weil sie darin ein Modell für die Vereinbarkeit von islamisch geprägter Gesellschaft und politischer Demokratie sehen. Das erhöht den Stellenwert, den Washington der Türkei im Rahmen der höchst umstrittenen „Greater Middle East“-Strategie beimisst.
Drittens zeigte in der Türkei die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) des islamischen Politikers Recep Tayyip Erdogan nach ihrem klaren Wahlsieg vom 3. November 2002 in der Zypernfrage weit mehr Bereitschaft, sich über die Bedenken der türkischen Armee und der kemalistischen Eliten hinwegzusetzen.
Viertens erodierte im Norden Zyperns die Autorität des „Präsidenten“ Rauf Denktasch. Dessen politische Lebenslüge, die Zypernfrage sei mit der Teilung von 1974 gelöst, widersprach allen Alltagserfahrungen der türkischen Zyprioten. Die Opposition im Norden sah den Ausweg aus der Isolierung und der sozialen Misere nur noch im EU-Beitritt an der Seite der griechischen Zyprioten.6 Damit bot sich den UN und der EU, vor allem aber der Regierung Erdogan in Ankara, ein neuer Partner an Stelle des anachronistischen Denktasch an.
Mr. No und Mr. Never in voller Harmonie
Mit ihrem Wahlsieg vom Dezember 2003 schafften die Oppositionsparteien zwar noch nicht die parlamentarische Mehrheit und auch nicht ihr erklärtes Wahlziel, Denktasch als Verhandlungsführer über den Annan-Plan abzulösen. Mehmet Ali Talat als Chef der stärksten Oppositionspartei CTP musste sich zunächst auf eine Koalition mit der Partei von Serdar Denktasch, dem Sohn des Präsidenten, einlassen. Doch die Macht der Obstruktionskräfte konnte jetzt mit Hilfe der AKP-Regierung eingedämmt werden. Zumal sich in der öffentlichen Meinung der Türkei die Erkenntnis durchsetzte, dass die Denktasch-Lobby in Ankara, die in der Armeeführung, bei den strammen Kemalisten in den staatlichen Bürokratien und in der Oppositionspartei CHP konzentriert ist, die EU-Perspektive der Türkei abzuwürgen drohte.
Die entscheidende Wende vollzog die AKP-Regierung am 26. Januar 2004, als sie erklärte: Die Verhandlungen über den UN-Plan müssen weitergehen; wenn sich die zypriotischen Parteien nicht einigen könnten, müsse Annan selbst eine letzte Fassung vorlegen, über die im Norden und Süden Zyperns abgestimmt werden solle.
Damit war nicht nur Denktasch schachmatt gesetzt, sondern auch der Verhandlungsführer der griechischen Zyprioten. Denn Präsident Papadopoulos hatte seine Haltung zum Annan-Plan nie offen legen müssen, solange Denktasch gemauert hatte. Deshalb konnte er sich die ganze Zeit den Luxus gestatten, die UN-Vorlage als „Verhandlungsbasis“ zu akzeptieren.7
Nach der Kehrtwende in Ankara war die Zeit des Bluffens vorbei. Papadopoulos versuchte sein Heil zwar noch einmal im Filibustern über formelle Fragen und fand dabei in Denktasch den idealen Bundesgenossen. Doch Mr. No und Mr. Never – wie der türkischzypriotische Oppositionspolitiker Mustafa Akinci die beiden nannte – konnten den Gang der Dinge nicht mehr aufhalten. Als Denktasch sich sogar weigerte, zu den abschließenden Verhandlungen in die Schweiz zu fahren, musste Papadopoulos in Bürgenstock endlich Farbe bekennen. Denn auch der Regierungswechsel in Griechenland hatte ihm nicht die erhoffte Rettung gebracht. Die konservative Regierung von Kostas Karamanlis, die nach dem Wahlsieg der Nea Dimokratia vom 7. März die Regierung Simitis-Papandreou abgelöst hatte, drängte Papadopoulos ebenfalls zum Kompromiss.
Doch der zypriotische Präsident war fest entschlossen, das Rendezvous mit der Geschichte platzen zu lassen. Seine Weigerung, substanziell zu verhandeln, erweckte bei den UN-Vertretern den Eindruck, er wolle nicht das beste, sondern das am besten abzulehnende Resultat erzielen.8 Als auch die Einschaltung von Erdogan und Karamanlis keinen Durchbruch brachte, legte der UN-Generalsekretär wie verabredet eine letzte Fassung vor. Diesem Plan Annan V stimmten sowohl Erdogan als auch Mehmet Ali Talat zu, der an Stelle von Denktasch die türkischen Zyprioten repräsentierte. Dagegen verweigerte Papadopoulos die Unterschrift. Angesichts dessen wollte sich der griechische Regierungs–chef Karamanlis nicht exponieren, obwohl er und seine Zypern-Berater die letzte Fassung des Plans als akzeptabel ansahen. Doch Karamanlis scheute das Risiko, vom nationalistischen Flügel seiner eigenen Partei des nationalen Verrats bezichtigt zu werden. Dabei spielte sicher die Erinnerung daran mit, dass sein Onkel Konstantin Karamanlis als griechischer Ministerpräsident 1959 starken Druck auf Makarios ausgeübt hatte, die Gründungsurkunde der ersten Republik Zypern zu unterzeichnen. Diese Rolle wollte der Neffe nicht wieder auf sich nehmen.
Entscheidend für den weiteren Gang der Dinge war aber nicht die verweigerte griechische Unterschrift, sondern wie die griechischen Zyprioten auf den Plan Annan V reagierten. Noch ehe das Dokument einer gründlichen Analyse unterzogen war, ließ Papadopoulos seinen Sprecher erklären, der Plan erfülle fast alle türkischen und nur ganz wenige griechische Forderungen. Die EU-Vertreter, die in Annan V noch wesentliche Zugeständnisse an die griechische Seite durchgedrückt hatten, fielen aus allen Wolken. Damit hatte der zypriotische Präsident eine Position bezogen, die für das Referendum vom 24. April nichts Gutes verhieß. Denn er malte das Ergebnis von Bürgenstock in so schwarzen Farben, dass die Befürworter einer Lösung es schwer haben würden, diese erste düstere Wahrnehmung des letzten Annan-Plans zu korrigieren.
In jedem Fall hätte es dazu einer raschen Gegenaufklärung bedurft. Dass es nicht dazu kam, ist das große Versagen der Partei, die Papadopoulos an die Macht gebracht hatte. Obwohl die Führung der Akel zu einem Ja tendierte, verschob sie ihre endgültige Entscheidung auf einen Parteitag, der am 14. April, also erst zehn Tage vor dem Referendum stattfinden sollte. Damit hatte Papadopoulos zwei Wochen Zeit, mit seiner Ochi-Kampagne die öffentliche Meinung – und auch die Wählerbasis der Akel – zu bearbeiten. Seine erste Fernsehrede war nur der Auftakt zu einem Duell, in dem die Befürworter von Annan V keine Chance auf Waffengleichheit hatten. In den Medien, v. a. im staatlichen Fernsehsender RYK, in den der Präsidentenpalast schamlos hineinregierte, wurden die Ochi-Stimmen deutlich bevorzugt. Das letzte Wort in der öffentlichen Debatte monopolisierte der Präsident, indem er alle vier Fernsehkanäle in Beschlag nahm, die ein zweistündiges Interview mit dem Anführer des Ochi-Feldzugs ausstrahlten.9
Dagegen wurde sowohl UN-Unterhändler Alvaro de Soto als auch dem zuständigen EU-Kommissar Günter Verheugen die Möglichkeit verwehrt, in Interviews ihre Sicht der Dinge darzustellen. Und zwar mit der offiziellen Begründung, die Zyprioten sollten vor dem Referendum nicht „von ausländischen Faktoren“ beeinflusst werden. Damit waren die internationalen Vermittler, deren Engagement die griechischen Zyprioten seit 30 Jahren immer wieder einfordern, zu Störenfrieden gestempelt. Dass sich der EU-Erweiterungskommissar durch solche Töne verhöhnt fühlte, war sehr verständlich. Doch seine scharfe Kritik an Papadopoulos bestärkte viele griechische Zyprioten noch in der Meinung, der UN-Plan werde ihnen durch „äußere Mächte“ aufgezwungen.
Umso wirkungsvoller konnten sich die „inneren Kräfte“ des Papadopoulos-Regimes entfalten. Den Beamten und öffentlichen Angestellten wurde suggeriert, in der „Vereinigten Republik Zypern“ seien ihre Positionen und Pensionen nicht gesichert. Offiziere der Nationalgarde, die nach dem Annan-Plan aufgelöst werden soll, agitierten offen gegen eine Perspektive, die ihre berufliche Zukunft bedrohte. Die Lehrer mussten auf Anweisung des Erziehungsministers ihren Schülern klar machen, das Volk solle sich „vereint der Führung seines Präsidenten anvertrauen“ und dessen „Vorschläge für die bestmögliche Zukunft Zyperns befolgen“.
Auch die orthodoxe Kirche waltete ihres Hirtenamts, indem sie ihrer Herde in den Ostergottesdiensten mit der Botschaft drohte: Der Annan-Plan bedeute eine „nationale Demütigung“, einen neuen „Golgathaweg“, auf dem das „zypriotische Griechentum“ im Dienste „ausländischer Interessen“ in die „geistige Sklaverei“ geführt werde.10
Das massive Auftreten der staatlich-kirchlichen Ablehnungsfront machte die Nein-Stimmung fast irreversibel. Noch vor Ostern mussten die beiden Parteien, von denen die Anhänger des Annan-Plans einen Umschwung erwarteten, den Umfragen entnehmen, dass fast die Hälfte ihrer Wähler zu einem Nein tendierten. Die Folge war, dass im Akel-Zentralkomitee keine Mehrheit für eine Ja-Kampagne zustande kam. Die härtesten Gegner des Annan-Plans drohten sogar offen mit der Spaltung. Diese Fraktion war auch durch ganz handfeste Interessen motiviert, wie der Tourismusminister Giorgos Lillikas. Dessen Frau ist die Betreiberin der Werbeagentur, die die konzertierte Nein-Kampagne gegen den Annan-Plan organisierte.
Daraufhin forderte Parteichef Dimitris Christofias eine Verschiebung des Referendums, andernfalls müsse die Akel ihre Anhänger zu einem „Ochi“ auffordern. Mit anderen Worten: Um der Gefahr einer Parteispaltung zu entgehen, stellte man das Bemühen ein, die Spaltung des Landes zu überwinden. Denn in der Tat wäre die Akel die einzige Kraft gewesen, die mit einer klaren Ja-Kampagne einen Stimmungswandel hätte herbeiführen können.
Damit haben die zypriotischen „Kommunisten“, die verbal noch immer auf Lenin schwören, die positive Seite ihrer Geschichte verraten. Als Arbeiterpartei hatten sie stets an dem Anspruch festgehalten, für die Verständigung zwischen griechischen und türkischen Zyprioten einzutreten. Deshalb hatten die linken türkischzypriotischen Parteien mit Wut und Entsetzen reagiert, als ihr Wunschpartner Akel einen Mann wie Papadopoulos zum Präsidenten machte.
Die Abstimmung über Annan V bot die letzte Chance, den verhängnisvollen Fehler zu korrigieren. Aber die Führung und besonders Parteichef Dimitris Christofias wagten nicht, sich rechtzeitig zu einem Ja zu bekennen. So überließ man Papadopoulos die Initiative. Und merkte alsbald, dass keine Zeit mehr blieb, um den Annan-Plan den eigenen Leuten nahe zu bringen. Die Konsequenz war ein feiges Nein zu einer Ja-Kampagne.
Veto aus Moskau auf Bestellung
ALLERDINGS hätten die Befürworter von Annan V alle Energie und Überzeugungskraft mobilisieren müssen, um die griechischen Zyprioten zu überzeugen. Das liegt vor allem an dem Schwachpunkt des Plans, der zum Hauptargument der Ochi-Kräfte wurde. Die Frage, wer die Umsetzung der komplizierten Vereinbarungen garantiert, ist in dem Dokument nicht präzise beantwortet. Was wird zum Beispiel geschehen, fragen sich viele Menschen im Süden, wenn die türkische Armee sich nicht zum festgesetzten Termin aus dem Territorium zurückzieht, das nach Annan V dem südlichen Teilstaat zufallen würde, in den – theoretisch – 100 000 griechischen Flüchtlinge zurückkehren könnten? Wird Ankara seine Verpflichtung auch dann erfüllen, wenn zum Beispiel die EU im Dezember 2004 den ersehnten Termin für den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht beschließt?
Um solche Bedenken zu beschwichtigen, unternahm die Akel wenige Tage vor dem Referendum eine letzte Initiative: Der UN-Sicherheitsrat in New York sollte in einer Resolution bekräftigen, dass die Vereinten Nationen die Umsetzung des Annan-Plans beaufsichtigen und garantieren. Unter dieser Voraussetzung könne die Partei doch noch für ein Ja eintreten. Doch die angestrebte Resolution kam nicht zustande. Gegen den in London und Washington formulierten Entwurf legte Russland im Sicherheitsrat ein Veto ein. Dieses Veto hatte Papadopoulos in Auftrag gegeben, der dazu eigens seinen Außenminister nach Moskau entsandte.11
Dieses Manöver macht vollends deutlich, dass der zypriotische Präsident entschlossen war, bis zum letzten Augenblick um jede Ochi-Stimme zu kämpfen. Denn erst das Veto aus Moskau legte die Akel auf die Ablehnung des Annan-Plans fest. Damit war ein „donnerndes Nein“ von 76 Prozent der griechischen Zyprioten gesichert. Und zugleich die von der Akel erwogene Chance, innerhalb weniger Monate das Referendum über Annan V zu wiederholen, schon im Keim erstickt.
Die Idee eines zweiten Referendums beruht auf der Hoffnung, dass die griechischen Zyprioten nach gründlicher Aufklärung über die Vorteile des Annan-Plans doch noch zustimmen könnten. Schon vor dem ersten Referendum zirkulierte in EU-Kreisen die These, wenn im Süden mindestens jeder Dritte mit Ja stimmen würden, könnte man nach einigen Monaten einen neuen Anlauf wagen. Dass es am 24. April nicht einmal jeder Vierte war, lässt diese Rechnung utopisch erscheinen. Im Übrigen müsste die Initiative zu einem zweiten Referendum von Papadopoulos ausgehen, und warum sollte der seinen Erfolg wieder aufs Spiel setzen?
Die Chancen eines zweiten Referendums hängen im Übrigen von der Antwort auf die Frage ab, was die Neinstimmen im Einzelnen ausdrücken. Aus qualitativen Umfragen ergibt sich ein komplexes Bild. Ein Drittel der griechischen Zyprioten scheint beratungsresistent. Ihr Ochi bedeutet, dass sie eine endgültige Teilung befürworten und nichts mehr mit türkischen Zyprioten zu tun haben wollen. Die übrigen Neinstimmen sind nicht als Absage an eine bizonale Föderation schlechthin zu werten. Sie orientieren sich entweder an der Haltung der Akel – könnten also bei einer anderen Entscheidung der Parteiführung zum Ja werden –, oder sie lehnen nur die vorliegende Fassung des Annan-Plans ab. Wobei unklar ist, wie viele dieser Zweifler durch kleinere Änderungen oder auch durch bessere Umsetzungsgarantien zu einem Ja zu bekehren wären.
Das Profil der Neinstimmen hat auch eine aufschlussreiche geografische Dimension. Am auffälligsten ist dabei die 84-prozentige Ablehnung in der Provinz Paphos, ganz im Westen der Insel. Diese Region lebt sehr stark vom Tourismus, der seit zwei Jahren deutliche Krisensymptome zeigt. Hier wurden die Ängste, der landschaftlich attraktivere Norden Zyperns könnte dem Süden langfristig die Touristen abspenstig machen, am deutlichsten artikuliert. Hier hat auch die Kirche einen gewaltigen Einfluss, die mit ihrem Immobilienbesitz und ihren lukrativen Investitionen in den Tourismussektor ein wichtiger ökonomischer Faktor ist. Und hier gibt es sehr viele von türkischen Zyprioten verlassene Dörfer in reizvoller Lage, die der Erschließung durch die Immobilienbranche harren. Den „Developern“ des Südens kann Annan V überhaupt nicht gefallen, denn der gibt jedem türkischen Zyprioten das Recht, mindestens ein Drittel seines alten Besitzes als Wochenendhaus zu nutzen.
Schließlich korreliert die Abneigung gegen den Annan-Plan, die in Paphos besonders ausgeprägt ist, mit dem Desinteresse am Norden überhaupt. Von den Inselgriechen aus dem äußersten Westen ist seit der Öffnung der innerzypriotischen Grenze vor einem Jahr nur jeder Fünfte im Norden gewesen. Bei die Gesamtheit der Bevölkerung des Südens liegt der Anteil über 50 Prozent. Von den Einwohnern Nikosias sind dagegen weit über 60 Prozent schon im Norden gewesen, und tausende nutzen die Chance zum Kontakt mit türkischen Zyprioten mindestens einmal die Woche. Das erklärt den leicht erhöhten Anteil von Jastimmen in der Hauptstadt.
Während man aus diesem Befund eine Chance für die Zukunft herauslesen kann, ergibt sich aus einem anderen Aspekt eine ganz andere Botschaft. Analysiert man die Neinstimmen nach Altersgruppen, zeigt sich eindeutig, dass die junge Generation im Süden für eine gemeinsamen Perspektive zwischen beiden Volksgruppen kaum mehr zu haben ist. Während in der Gesamtbevölkerung 37 Prozent aller Befragten glauben, ein friedliches Zusammenleben mit den türkischen Zyprioten sei eher „schwierig“, teilen diese Einschätzung in der Altersgruppe von 18 bis 30 Jahren 86 Prozent der Befragten.12
Dieses deprimierende Bild war bereits vor dem Referendum auf den Straßen zu besichtigen: In allen Städten des Südens blieben zwei Tage hintereinander tausende Schüler dem Unterricht fern, um unter griechischen Fahnen gegen den „Ausverkauf an die Türkei“ zu protestieren und jeden Passanten, der sein Ja zum Annan-Plan zu erkennen gab, als „Verräter“ zu beschimpfen. Die Szenen erinnerten ältere Zyprioten an die Krisenzeit von 1963, die damals in den Bürgerkrieg mündete.
Der lärmende Psychoterror, den diese Gymnasiasten im April 2004 auf die Straßen trugen, ist das Ergebnis von 30 Jahren Geschichtsunterricht, der mit Gehirnwäsche unzureichend beschrieben ist, denn das würde bei den Schulbuchautoren einen klaren Verstand voraussetzen. Wenn diese Schülergeneration mit derselben geistigen Verfassung ins wahlfähige Alter kommt, wird man sich um die Demokratie in Zypern ernsthafte Sorgen machen müssen. Das heißt aber auch, dass der Plan Annan V oder folgende in wenigen Jahren ohnehin keine Chance mehr haben dürften. Denn diese Generation von Neinsagern ist kaum mehr durch das wichtigste Argument zu erreichen, das für eine rasche Lösung des Zypernproblems spricht: dass ohne eine föderative Lösung im EU-Rahmen noch mehr türkische Zyprioten auswandern werden, die durch noch mehr Siedler aus der Türkei ersetzt werden.
Was im Norden passiert, scheint eine wachsende Zahl griechischer Zyprioten nicht mehr zu berühren. Ihre türkischen Landsleute sind ihnen herzlich egal. Und die Trennung von dreißig, vierzig Jahren haben sie längst verinnerlicht. Viele von ihnen geben heute offen zu: Was man hat, das hat man, und was wird, ist ungewiss. Am ehrlichsten artikulieren es die Menschen in Paphos. Hier haben manche „Patrioten“ keine Scheu, sich ganz offen für die erneute Schließung der innerzypriotischen Grenze auszusprechen.
Mit ihrem Nein zu Annan V hat eine große Mehrheit der griechischen Zyprioten die so oft – und so billig – beschworene Solidarität mit den türkischen Zyprioten aufgekündigt. Für die aber war der Annan-Plan ein historischer Rettungsanker. Das erklärt die 65 Prozent Jastimmen im Norden, in denen sich – rechnet man die Stimmen der türkischen Siedler heraus – eine 75-prozentige Mehrheit der türkischen Zyprioten verbirgt. Und das, obwohl Annan V wegen seiner territorialen Bestimmungen bedeutet hätte, dass zehntausende Bewohner die an den Süden fallenden Dörfer verlassen müssten.
Die türkischen Zyprioten, die mit „Evet“ stimmten, haben damit ihr existenzielles Interesse an einer föderativen Lösung im Rahmen der EU ausgedrückt. Dafür haben sie seit Jahren viel riskiert, als sie gegen Denktasch und für Europa demonstrierten, überwacht und bedrängt von einem Geheimdienst, der zum so genannten tiefen Staat (dem militärisch-geheimdienstlichen Komplex) in Ankara gehört. Und beaufsichtigt von einer Polizei, die nicht der eigenen Regierung untersteht, sondern auf das Kommando des türkischen Militär-Oberbefehlshabers in Nordzypern hört.
Diese Menschen haben für ihre Zukunft gekämpft. Für sie bedeutet das gespaltene Ergebnis des zypriotischen Referendums eine doppelt bittere Lektion. Denn mit ihrem Ja zur Vereinigung Zyperns hofften sie auch, endlich den Nationalisten Denktasch loszuwerden. Der hatte vor dem 24. April seinen Rücktritt zugesagt, falls das Volk seinem Rat nicht folgen sollte. Für seinen Feldzug gegen den Annan-Plan musste er die Parteiprominenz der extremistischen MHP aus der Türkei importieren, die ihre Stoßtrupps von „Grauen Wölfen“ mitbrachte. Doch nach seiner Niederlage im Referendum konnte der Präsident seine Rücktrittsdrohung wieder zurückziehen. Er tat dies mit ausdrücklichem Dank an die griechischen Zyprioten: Mit ihrem Nein sei die tödliche Gefahr für den Norden Zyperns abgewendet, jetzt könne er beruhigt weitermachen.
Papadopoulos hat also Denktasch gerettet und umgekehrt. Doch was wie eine böse Ironie aussieht, ist das Grundmuster des Zypernproblems, das sich seit über 50 Jahren wiederholt. Erst wenn die Mehrheit der Menschen auf beiden Seiten dem Zusammenspiel der nationalistischen Kräfte ein Ende bereitet, wird eine Wiedervereinigung der Insel kein Risiko mehr sein. Die Europäische Union, die jetzt das Zypernproblem im eigenen Hause hat, muss alles tun, um eine solche Entwicklung zu ermutigen und zu fördern.
Das kann sie höchst wirksam tun, ohne den Norden als eigenen Staat anzuerkennen, was die heutige Regierung der türkischen Zyprioten ohnehin nicht mehr fordert. Denn ein selbstständiger Staat im Norden hätte auf absehbare Zeit keine Chance, in die EU aufgenommen zu werden. Nur im föderativen Verbund mit dem Süden kann der Norden in die EU integriert werden. Das weiß auch Ministerpräsident Mehmet Ali Talat, der in Brüssel einige höchst plausible Forderungen anmeldet: Erstens soll die Finanzhilfe an den unterentwickelten Norden Zyperns nicht über die Regierung Papadopoulos fließen. Zweitens sollen die Produkte der türkischen Zyprioten in den EU-Bereich exportiert werden können. Und drittens sollten Wege gefunden werden, das von EU-Gerichten verhängte Verkehrsembargo aufzuheben, das bislang direkte Charterflüge nach Nordzypern verhindert hat.
Mit einem solchen Programm könnte man der Wirtschaft des Nordens auf die Beine helfen. Das wiederum könnte entscheidend dazu beitragen, den jungen türkischen Zyprioten eine Perspektive zu geben. Nur wenn diese wahrhaft europäische Generation nicht resigniert und auswandert, bleibt die Hoffnung auf eine Lösung des Zypernproblems erhalten.