14.05.2004

Big Brother lässt grüßen

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Big Brother lässt grüßen

Von STÉPHANE HAEFLIGER *

EINST erwarteten die Unternehmen von ihren Beschäftigten schlicht Anwesenheit. Heute verlangen sie völlige Offenheit.

Das Management sucht durch netzartige Betriebsorganisation und virtuelle Büros die „Gesamteffizienz“ zu steigern. „Team“, „Task Force“, „Anreiz“, „Fringe Benefit“1 sind die neuen Schlagworte. Diesem Management-Modell entspricht ein Mitarbeitermutant, eine Art Superman, dessen persönliche Qualitäten für sein berufliches Fortkommen ebenso ausschlaggebend sind wie sein Fachwissen. Die Leiter „Human Resources“ von heute legen großen Wert auf das „Persönlichkeitsprofil“ des potenziellen Mitarbeiters, auf seine „sozialen Kompetenzen“, seine „emotionale Intelligenz“ (EQ), Belastbarkeit und Kommunikationskompetenz, seine Fähigkeit zur Teamarbeit, Arbeitsgruppenkoordination und Konfliktbewältigung.

So nehmen sich die Unternehmen bei Einstellungs-, Evaluierungs-, Abmahn- und Entlassungsgespräche inzwischen heraus, was vormals verboten war: Pseudowissenschaftlich erkundigen sie sich nach den persönlichen Werten des Mitarbeiters („Sind Sie dominant oder Mitläufer“?), nach seiner psychischen Grundverfassung („Sind Sie als Mensch emotional oder rational“?), seinem Privatleben („Brauchen Sie Bestätigung? Warum haben Sie sich scheiden lassen?“), seinen persönlichen Eigenschaften („Zählen Sie drei Ihrer Stärken auf“), seinem Glauben („Welche Werte sind Ihnen am wichtigsten?“), seinem sozialen Umfeld (Beruf des Vaters und des Lebensgefährten, Mitgliedschaft im Rotary-, Lions- oder Kiwanis-Club).

Das Management im Stil von „Big Brother“ fordert totale Offenheit in allen Bereichen. Der Grund: Man will kostspielige Fehlentscheidungen bei der Einstellung neuer Mitarbeiter vermeiden. Schließlich haben alle Personalmanager das berühmte „Peter-Prinzip“2 gelesen, zumindest eine Zusammenfassung davon. Und um sie ruhig schlafen zu lassen, gibt es kein besseres Mittel als das Gutachten eines unternehmensfremden Beraters, der das Kompetenzprofil des ausgeschriebenen Postens validiert. Je teurer das Gutachten, umso ernster wird es genommen. So werden regelmäßig „Assessment Centers“ veranstaltet, manchmal im Unternehmen selbst, manchmal außerhalb, manchmal sehr professionell und ethischen Normen verpflichtet, manchmal eben nicht.

Diese Veranstaltungen, die mit wissenschaftlichen Begriffen operieren, sollen gewährleisten, dass der Bewerber dem Stellenprofil entspricht, die Werte des Unternehmens teilt, kundenorientiert handelt und Teamgeist zeigt. Man erwartet von ihm, dass er mit Leib und Seele mit „seinem“ Unternehmen verschmilzt. Diese Methoden erlauben es aber auch, still und leise Gewerkschafter auszuschalten und jeden, der auch nur ein bisschen widerspenstig scheint, von vornherein auszuschließen. Mit psychometrischen Tests – der bekannteste ist nach wie vor der Myers-Briggs Type Indicator (MBTI)3 – wollen die Beraterfirmen die Personalentscheidungen ihrer Kunden auf eine gesicherte „wissenschaftliche“ Grundlage stellen. Auch Rollenspiele, strukturierte Bewerbungsgespräche, die Konfrontation mit anderen Bewerbern und Computer-Simulationen werden eingesetzt, um die Persönlichkeit des Kandidaten auszuforschen.

Auch wenn man die Berechtigung dieser Praktiken nicht in Frage stellt, so gilt es doch den naiven Anspruch auf „Wissenschaftlichkeit“ zu hinterfragen. Schließlich handelt es sich hierbei um rein empirische Methoden, die am subjektiven Charakter einer Personalentscheidung nichts ändern. Einen oder mehrere Bewerber einen halben Tag lang zu beobachten, um ihre wichtigsten Verhaltensmerkmale herauszufinden und ihre Reaktion auf die Stellenanforderungen und die „Unternehmenskultur“ zu prüfen, bleibt eine sehr komplexe Angelegenheit – ganz abgesehen davon, dass die „Unternehmenskultur“ aus soziologischer Sicht ein merkwürdiges Konzept ist. Abstand vom unmittelbar Gegebenen, wie ihn wissenschaftliches Arbeiten erfordert, sucht man dabei vergebens. Mit Erstaunen stellt man fest, dass Pseudowissenschaften wie die Physiognomik (die Deutung des Charakters eines Menschen aus den Gesichtszügen), die Graphologie und die Numerologie bei diesen „Assessments“ noch immer hoch im Kurs stehen. Das ist doch recht merkwürdig für eine Ökonomie, die sich viel auf ihre Rationalität zugute hält. Ein weiteres Instrument sind so genannte Schulungen. Dass es sich hierbei nicht um fachliche Fortbildung handelt – etwa die Einführung in ein neues Computerprogramm –, braucht wohl nicht eigens betont zu werden. Geschult werden soll vielmehr das Verhalten der Mitarbeiter, ihre Persönlichkeit. So zögern manche Unternehmen nicht, ihre Führungskräfte in Tarnanzüge zu stecken und zum Survivaltraining in den Wald zu schicken, wo sie als „Ranger“ verkleidet eine ganze Woche im Zelt schlafen müssen. Eine Schweizer Großbank lud ihre leitenden Angestellten jüngst ein, eine Woche in einem Krankenhaus zu verbringen, bei Aidspatienten, die nicht mehr lange zu leben haben.

Sehr beliebt sind nach wie vor Outdoor-Abenteuer: Rafting in Wildwasserflüssen, Canyoning, der Sprung am Gummiseil oder noch schicker: unter Anleitung des Motivationsgurus Anthony Robbins4 über glühende Kohlen gehen. Die angebotenen Kurse dienen nicht mehr dem banalen Ziel der Fortbildung, sondern bezwecken die „Transformation“ des Individuums. Sie wollen den „Erfahrungshorizont der Mitarbeiter erweitern“, ihre „Kreativität steigern“.

Die Beschäftigten gehen dieser perversen Strategie natürlich nicht auf den Leim. Sie wissen sehr wohl, dass dahinter nur die Absicht steckt, die „Leute zur Arbeit anzuhalten, sie zu kontrollieren, ihre Bedürfnisse auszunutzen, sie zu manipulieren und in die gewünschte Richtung zu lenken“5 . Die meisten wissen auch, wie man diese Strategie taktisch unterläuft und der geforderten Transparenz und Entblößung des Selbst ein Schnippchen schlägt. Intuitiv fühlen sie, dass die neuen Managementtechniken darauf abzielen, die Distanz zwischen Beschäftigten und Unternehmen aufzuheben und Identifikation mit der so genannten Unternehmenskultur zu erzeugen. Sie wollen weder über glühende Kohlen laufen noch Überlebenstrainings absolvieren noch sich im Selbstmanagement üben oder an ihrem Arbeitsplatz psychoanalysiert werden. Sie wissen nur zu gut, dass das Unternehmen ihnen nicht den nötigen Schutzraum bietet, in dem sie alles sagen, alles zeigen, alles offenbaren und dem Arbeitgeber Einblick in das Wertvollste geben dürfen, das sie haben: ihre Identität als Frau oder als Mann.

deutsch von Bodo Schulze

* Soziologe an der Universität Lausanne.

Fußnoten: 1 „Fringe Benefits“ oder Zusatzgratifikationen gibt es in monetärer Form (zum Beispiel als Prämienzahlung) und in nichtmonetärer Form (zum Beispiel als Fortbildungsangebote). 2 „In einer Hierarchie neigt jeder Beschäftigte dazu, bis zu seiner Stufe der Unfähigkeit aufzusteigen.“ So lautet die Grundthese von Laurence J. Peter und Raymond Hull in „Das Peter-Prinzip oder Die Hierarchie der Unfähigen“, Rowohlt 2001. 3 Als weitere Tests dieser Art seien genannt: der Lifo (Life Orientations), das TMS (Team Management System), der Leonardo 345, das Capp, der D5D, der Alter Ego und der 16 PF-R. 4 Die Persönlichkeitsseminare (und -spektakel) des amerikanischen Motivationsgurus Anthony Robbins ziehen regelmäßig tausende von Interessierten an. 5 Eugène Enriquez, „Remarque terminale“, in: „Les Jeux du pouvoir et du désir dans l’entreprise“, Editions Desclée de Brouwer, 1977, S. 397.

Le Monde diplomatique vom 14.05.2004, von STÉPHANE HAEFLIGER