14.05.2004

Der amerikanische Traum von Europa

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Der amerikanische Traum von Europa

Seit dem 1. Mai zählt die Europäische Union 25 Mitglieder. Im bisher größten Erweiterungsschub wurden die baltischen Staaten, Ungarn, Polen, Tschechien, die Slowakei, Slowenien, Zypern und Malta aufgenommen. Dieser 1. Mai 2004 ist nicht nur für Europa ein historisches Datum, sondern auch für die USA. Denn Washington erhofft sich von den Beitrittsländern eine Stärkung des US-amerikanischen Einflusses auf die europäischen Angelegenheiten. Doch der Machtwechsel in Spanien und die Krise in Polen haben diese Erwartungen bereits geschmälert. Und die Krise im Irak wird nicht nur viele Bürger, sondern auch etliche Regierungen in den neuen EU-Ländern auf die Idee bringen, dass sie im alten Europa gut aufgehoben sind. Zumal auch Geld ein Stück Identität stiftet, und das kommt letzten Endes aus Brüssel.

Von THOMAS SCHREIBER *

DIE Falken im Pentagon sind der festen Meinung, dass die USA ihre Vorstellungen aggressiv gegen das „alte Europa“ verteidigen müssen. Hauptvertreter dieser These ist Donald Rumsfelds langjähriger Berater Richard Perle, der am 18. Februar dieses Jahres von seinem Amt zurücktrat, „um die Wahlkampagne von Präsident Bush nicht zu behindern“.

Laut Perle müssen die Vereinigten Staaten die Osterweiterung der Europäischen Union nutzen, um eine Mehrheit innerhalb der EU für die eigenen Zwecke einzuspannen. Nur so sei zu verhindern, dass sich das erweiterte Europa zum Antipoden zu den USA entwickelt.1 Zbigniew Brzezinski, ein anderer „Guru“ der US-Außenpolitik, formulierte das aktuelle Paradoxon so: „Machtpolitisch stehen die Vereinigten Staaten im Zenit, doch weltpolitisch stehen sie im Nadir.“2 Daher versucht Washington, seine Position insbesondere im Osten des Kontinents auszubauen. Zumal die Region, entgegen anders lautenden Analysen, auch nach dem Ende der totalitären Regime von hoher strategischer Bedeutung ist. Wir erleben derzeit also den Beginn eines neuen Kapitels in der langfristigen Osteuropastrategie der USA.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verfolgen die Vereinigten Staaten in Osteuropa im Grunde stets dasselbe strategische Interesse, egal ob im Weißen Haus ein Demokrat oder ein Republikaner die Amtsgeschäfte führt, wobei gleichwohl jede neue Regierung ihre eigenen Akzente setzt.

Wenn man die US-Jahresberichte zur nationalen Sicherheitsstrategie seit 1947 aufmerksam studiert, kann man sich problemlos ein Bild machen, welche Außenpolitik gegenüber der kommunistischen Welt verfolgt wurde und wie weit dabei Propaganda und Wirklichkeit auseinander klafften. Zwar hat Washington die unilaterale Interpretation des Jalta-Abkommens durch Moskau in der Öffentlichkeit vehement angeprangert, tatsächlich jedoch hat man sich mit dem sowjetischen Herrschaftsanspruch in Osteuropa sehr rasch arrangiert.

Das macht bereits der Wandel deutlich, der in der Terminologie der Berichte zu verzeichnen ist. Während 1947 noch von „Eindämmungspolitik“ (containment) die Rede war, versuchte man zu Beginn der 1950er-Jahre, den Kommunismus durch die Finanzierung regimefeindlicher Emigrantenorganisationen in den USA und durch psychologische Kriegsführung, vor allem via Radio Free Europe, zurückzudrängen (rollback). Aus den Memoiren führender amerikanischer Politiker wissen wir jedoch, dass die USA weder beim Einmarsch der Sowjetunion in Ungarn 1956 noch bei der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 noch bei der Verhängung des Ausnahmezustands in Polen 1981 die Absicht hatten, mehr zu tun, als förmlich zu protestieren. Seit 1956 ist denn auch die US-Diplomatie eher durch Begriffe wie peaceful engagement und bridgebuilding zwischen Ost und West geprägt.3

In den 1960er-Jahren ging Washington noch einen Schritt weiter. Jetzt wirkte man mäßigend auf allzu „aggressive“ antikommunistische Organisationen ein. Niemand redete mehr von einer „Befreiung der versklavten Länder“, stattdessen kommt das Schlagwort von der „differenzierten“ Betrachtung der kommunistischen Staaten in Mode. Entsprechend aufmerksam verfolgt man de Gaulles Politik der „Entspannung, Verständigung und Zusammenarbeit“ und vor allem die neue Ostpolitik von Willy Brandt.

Unter US-Präsident Richard Nixon (1969–1974) und der „Regentschaft“ Henry Kissingers forcierte Washington die „Entspannungspolitik“ mit dem Osten. In den 1970er-Jahren unterzeichneten die USA mit der Sowjetunion die Salt-Abkommen zur Begrenzung strategischer Waffen und verbesserten ihre bilateralen Beziehungen zu mehreren Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts. Washington beschäftigte sich jetzt viel stärker mit dem Verhältnis zu Moskau, aber auch mit der Innenpolitik ihrer künftigen Partner, insbesondere was die Achtung der Menschen- und Bürgerrechte anbelangte.

Wie de Gaulle interessierte sich auch Nixon ganz besonders für die Entwicklung in Rumänien, wo Staatschef Ceaușescu außenpolitische Unabhängigkeit demonstrierte. In der Tat war die Regierung in Bukarest auf deutliche Distanz zu Moskau gegangen: Sie hatte die Bundesrepublik Deutschland (BRD) anerkannt, im chinesisch-sowjetischen Konflikt Neutralität gewahrt, nach dem Sechstagekrieg von 1967 die diplomatischen Beziehungen zu Israel aufrechterhalten und 1968 die Beteiligung am Einmarsch in die Tschechoslowakei verweigert. So durfte ab 1972 eines der repressivsten Regime innerhalb der kommunistischen Welt dank US-amerikanischer Fürsprache als erster der Warschauer-Pakt-Staaten beim Internationalen Währungsfonds und der Weltbank mitmachen und ab 1975 von der Meistbegünstigungsklausel profitieren.

Ganz anders Polen und Ungarn. Innenpolitisch häuften sich die Anzeichen einer Liberalisierung, doch außenpolitisch blieben beide Länder auf der sowjetischen Linie. Studenten und Wissenschaftler durften im Rahmen von Ford- und Fulbright-Programmen in die USA reisen; sie verfügten sogar über einen Reisepass, im Unterschied zu den Bürgern der übrigen Staaten Osteuropas – einschließlich der rumänischen Staatsbürger.

Im August 1975 fand in Helsinki ein „Gipfeltreffen“ statt, an dem außer Albanien sämtliche europäischen Länder sowie Kanada und die USA teilnahmen. Nachdem Nixon im Gefolge der Watergate-Affäre zurückgetreten war, führte Gerald Ford in Washington die Amtsgeschäfte. Doch Ford war mit den internationalen Problemen sichtlich wenig vertraut. Während die Europäer den kommunistischen Ländern gegenüber humanitäre Fragen in den Mittelpunkt rückten, begnügte sich die neue US-Regierung mit dem Status quo, und im Wahlkampf 1976 bezeichnete Ford Rumänien und Polen sogar als „souveräne unabhängige“ Staaten.

Fords Nachfolger Jimmy Carter schlug zwischen 1977 und 1981 auf Anraten seines aus Polen stammenden Chefberaters Zbigniew Brzezinski eine andere Politik ein. Brzezinski ging zwar nicht so weit, eine Destabilisierung der kommunistischen Regime zu empfehlen, riet jedoch zu einer „dynamischeren“ Politik und zur Unterstützung der Regimegegner in den Ostblockländern. Zahlreiche Dissidenten erhielten Einladungen in die USA, und Organisationen wie Helsinki Watch und amnesty international erfuhren größere Unterstützung. Nichtregierungsorganisationen, die weitgehend von der amerikanischen Regierung finanziert wurden, hatten fortan ein wachsames Auge auf die Einhaltung der Menschenrechte in Osteuropa.

Auch Radio Free Europe erhielt Anweisung, im Sinne der „neuen“ US-Politik zu wirken: Sie sollten nicht den Niedergang der kommunistischen Regime, sondern einen friedlichen Übergang betreiben. Niemand glaubte damals an einen baldigen Zusammenbruch des Ostens; selbst die optimistischen Experten träumten allenfalls von einer Art „Finnlandisierung“ mit umgekehrtem Vorzeichen, einer schrittweise zu realisierenden Neutralität der Mitglieder des Warschauer Pakts innerhalb der kommunistischen Welt.

Erst unter Ronald Reagan wurde die psychologische Kriegsführung intensiviert. Zwei Jahre nach dessen Amtsantritt 1981 reiste Vizepräsident George Bush nach Jugoslawien, Rumänien und Ungarn. Im Dezember 1983 verkündete Washington die Gründung des National Endowment for Democracy (Nationalstiftung für Demokratie), einer überparteilichen Initiative von Demokraten und Republikanern. Diese Stiftung, an der auch das Außenministerium und die CIA beteiligt waren, unterstützte in Osteuropa Parteien, Gewerkschaften, Zeitungen, Verlage und Gruppen, die sich für „demokratische Ideen“ einsetzten. Gesponsert wurde in diesem Rahmen auch die polnische Solidarność und die ungarischen Samisdat-Verlage.

Keines der Regime protestierte und versuchte solche „Einmischungen“ zu unterbinden. Der Verfallsprozess hatte bereits begonnen und erfuhr nach 1989 noch eine Beschleunigung. In den USA verfolgte man die Entwicklung in Osteuropa mit großer Aufmerksamkeit. Im Juli 1989 reiste George Bush, der gerade US-Präsident geworden war, nach Polen und Ungarn. „Die Sowjets“, erklärte er später, „hatten die Befürchtung, die Reise könnte – möglicherweise auch unbeabsichtigt – die Loslösung dieser Staaten unterstützen. Aber es war eher das Gegenteil der Fall, denn ich teilte einige ihrer Sorgen durchaus.“4 Nach Ansicht von Sicherheitsberater Brent Scowcroft spielte Washington „in einem bestimmten Moment eine Art Geburtshelfer beim friedlichen, aber schwierigen Übergang Osteuropas von der Autokratie zum Pluralismus“5 .

Auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs, das zum 200. Jahrestag der Revolution in Paris stattfand, war für US-Präsident Bush das zentrale Thema, wie es in Osteuropa weitergehen soll. Er befürwortete ein umfangreiches Hilfsprogramm für die beiden Länder, die er gerade besucht hatte. Doch wollte er auch auf keinen Fall Moskau brüskieren, wo Michail Gorbatschow unter starkem Druck der sowjetischen Hardliner stand, die der Liberalisierung in Polen und in Ungarn ablehnend gegenüberstanden.

Zu seinen politischen Entscheidungen wurde Bush allem Anschein nach auch von US-Bürgern polnischer und ungarischer Herkunft gedrängt, von denen einige wichtige Positionen in der Regierung und in der Wirtschaft bekleideten. Nicht zuletzt unter dem Einfluss der Polen- und der Ungarnlobby beschloss der Senatsausschuss am 20. September, Warschau und Budapest über drei Jahre Finanzhilfen in Höhe von 1,2 Milliarden Dollar zu gewähren. Beide Länder wurden damit zu den wichtigsten Partnern der USA in der Region – und das, obwohl sie nach wie vor kommunistisch regiert wurden.

Die baltische Lobby war über die vorsichtige Politik Washingtons recht ungehalten. Sie wollte die schrittweise Liberalisierung der kommunistischen Regime nicht abwarten und forderte für Litauen, Lettland und Estland stattdessen die sofortige Unabhängigkeit. Dabei muss daran erinnert werden, dass die USA die Annexion der baltischen Republiken durch die Sowjetunion im Jahr 1939 nie anerkannt und auch die diplomatischen Beziehungen zu den drei Ländern formell niemals abgebrochen hatte. Nun drängten die politischen Führungen Estlands, Lettlands und Litauens bei den 34 Signatarstaaten des Helsinki-Abkommens darauf, sie als unabhängige Staaten anzuerkennen und zum Pariser Gipfeltreffen im November 1990 einzuladen, das die Beendigung des Kalten Kriegs markieren sollte. Doch dieses Ansinnen konnte sich gegen die unnachgiebige Haltung von Paris und die Bedenken Washingtons nicht durchsetzen – die Auflösung der Sowjetunion stand noch nicht auf der Tagesordnung. Und die internationale Aufmerksamkeit war im Herbst 1990 auf die Golfregion gerichtet, wo die Vorbereitungen zur Befreiung Kuwaits anliefen, das seit August von der irakischen Armee besetzt war.

Erst im Juni 1991, als Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit erklärt hatten und der jugoslawische Bürgerkrieg ausgebrochen war, begann sich Washington für den Balkan zu interessieren. Dabei verfolgte man nicht ohne Genugtuung das Scheitern der französisch-britischen Vermittlungsversuche, bevor man den eigenen militärischen und politischen Auftritt in der Region vorbereitete, und zwar in Person von Clintons Balkanbeauftragtem Richard Holbrooke.6

In dieser Phase erfand Washington das neue Motto „Die Demokratie stärken“, das es zur politischen Leitlinie gegenüber den postkommunistischen Ländern Mittelosteuropas machte. Dabei stützte man sich vor allem auf die Nato, der beizutreten den Ländern in der Region weit mehr am Herzen lag als der Beitritt zur Europäischen Union. Dies erklärt auch das Scheitern des französischen Projekts einer Europäischen Konföderation, das im Juni 1991 in Prag vorgestellt wurde. Die Polen, Ungarn und Tschechen mochten von Europa reden, ihre Träume richteten sich vor allem auf Amerika.

Mit der einseitigen Aufhebung des Waffenembargos für Bosnien und Herzegowina im Juli 1995 gab der US-Senat den Startschuss für das Engagement der USA im Balkankonflikt. Im darauf folgenden Monat begann die von US-„Zivilpersonal“ vorbereitete und bewaffnete Offensive Kroatiens, gefolgt von Luftangriffen der Nato auf die serbischen Positionen im Umland von Sarajevo. Im November 1995 trat auf dem Militärstützpunkt von Dayton, Ohio, die Friedenskonferenz zusammen. Damit ersetzten die USA die europäischen Unterhändler und setzten die Einstellung der Kampfhandlungen durch. Dieser Erfolg markiert den Beginn der US-Präsenz in Mittel- und Südosteuropa.

Die europäische Diplomatie sah dieser „Invasion“7 , die von Zbigniew Brzezinski und Richard Holbrooke und nach ihnen von Außenministerin Madeleine Albright koordiniert wurde, ohnmächtig zu. Die selbst ernannten Spezialisten des „anderen Europas“ waren unablässig dabei, die US-amerikanische Führungsrolle im Osten auszubauen.

In der Tat hatte Washington längst im Alleingang entschieden, dass Polen, Ungarn und Tschechien als erste Länder der Nato beitreten sollten. Ein Grund für diese Auswahl dürfte die starke ungarische und polnische Lobby, im Falle Tschechiens vielleicht auch die Herkunft von US-Außenministerin Albright gewesen sein. Da diese Länder nach ihrer Aufnahme in die Nato im Juli 1997 ihr altmodisches Militärgerät aus sowjetischer Produktion abstoßen mussten, waren sie für die US-Rüstungsindustrie ein äußerst viel versprechender Markt.

Washington strebte aber nicht nur nach Hegemonie in der Nato, wie es sich im Bosnien- und Kosovokrieg gezeigt hatte, sondern auch nach wirtschaftlichem Einfluss in Mittelosteuropa, was die zahlreichen Niederlassungen von US-Unternehmen in diversen Ländern bezeugen. Noch auffälliger war die Präsenz in den drei baltischen Republiken: Seit 1991 kehrten mehrere tausend US-Amerikaner litauischer, lettischer und estnischer Herkunft in ihre „Heimat“ zurück. Die Begabtesten unter ihnen erlangten schon nach kurzer Zeit führende Stellungen in Politik, Armee und Wirtschaft und erwiesen sich alsbald als „bedingungslose Atlantiker“.

Nach dem 11. September 2001 strichen die Vereinigten Staaten ihren globalen Führungsanspruch noch stärker heraus.8 In der am 20. September 2002 veröffentlichten „neuen nationalen Sicherheitsstrategie“ wird dieser Anspruch so formuliert: „Obwohl die Vereinigten Staaten bereit sind, alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft zu gewinnen, werden wir nicht zögern, nötigenfalls allein zu handeln, um unser Recht auf Selbstverteidigung wahrzunehmen und präventiv gegen Terroristen vorzugehen.“ Zwar bezog sich dieser Satz explizit auf die nationale Verteidigung gegen den Terrorismus, doch ist er zweifelsohne auf die Verteidigung sämtlicher strategischer, politischer und wirtschaftlicher Interessen der „Hypermacht“9 anwendbar.

An die Stelle multilateraler Beziehungen traten nun bilaterale Beziehungen zu den Verbündeten. Die Aufnahme eines Landes in das Transatlantische Bündnis Nato diente dazu, die Beziehungen noch enger zu gestalten. So geschah es beim Nato-Gipfel in Prag im November 2002, wo die zweite Nato-Erweiterung ratifiziert wurde. Damals traten Rumänien und Bulgarien dem Bündnis bei, deren Aufnahme in die EU frühestens 2007 erfolgen wird. Die drei baltischen Staaten hatten bereits ein Jahr zuvor umfangreiche militärische Kooperationsabkommen mit den USA unterzeichnet. Alle osteuropäischen Länder hegten damals die Illusion, formal wie real als vollwertige Partner Amerikas anerkannt zu werden. Deshalb standen sie in der Irakkrise, noch bevor der Krieg begann, an der Seite Washingtons.

So kam der offene Brief zur Unterstützung Amerikas, den acht europäische Staaten am 30. Januar 2003 veröffentlichten, zustande. Zu den Unterzeichnern gehörten Polen, die Tschechische Republik und Ungarn, die der Nato in der ersten Erweiterungsrunde beigetreten waren. Am 5. Februar unterschrieben weitere zehn mittel- und osteuropäische Staaten den Unterstützungsbrief: Lettland, Litauen, Estland, die Slowakei, Slowenien, Bulgarien, Rumänien, Albanien, Kroatien und Mazedonien – durchweg Anwärter für einen Nato-Beitritt.10 Dabei wusste jeder der Unterzeichner, dass der „Appell der 10“ von einem geschickten US-Lobbyisten, dem Pentagon-Berater Bruce Jackson, ausgeheckt worden war. Dass sich damit 13 künftige Mitglieder der Europäischen Union für die US-Position ausgesprochen hatten, machte deutlich, welchen Einfluss Washington innerhalb von zehn Jahren in Mittel- und Osteuropa gewonnen hatte.

Allerdings bilden die osteuropäischen Länder keineswegs einen homogenen Block bedingungsloser Amerikafreunde. Auf die Frage, weshalb er den Appell vom 30. Januar 2003 unterzeichnet habe, antwortete der ungarische Ministerpräsident Péter Medgyessy: „Hätte ich diesen berüchtigten Brief nicht unterzeichnet, hätte man mir mangelnde transatlantische Solidarität vorgeworfen.“ Als der Journalist weiter fragte: „War dieser Brief also eine Falle?“, lautete die Antwort: „Genau dies.“11

Am 17. Februar 2003 hielt der französische Staatspräsident Jacques Chirac beim außerordentlichen Ratsgipfel in Brüssel den EU-Beitrittsstaaten vor, sie hätten „eine gute Gelegenheit verpasst, sich in Schweigen zu üben“. Das löste im Osten einen Sturm der Entrüstung aus. Selbst Chiracs engste Vertraute meinten, der Élysée-Chef hätte die östlichen Partner nicht derart vor den Kopf stoßen sollen. Doch jedermann wusste, dass der Präsident in erster Linie Polen im Visier hatte, das sich kurz zuvor zur Modernisierung seiner Luftwaffe für die Anschaffung amerikanischer Flugzeuge (M16) statt für europäische Maschinen entschieden hatte. Doch der französische Staatspräsident wollte gewiss auch herausstreichen, dass ein so eindeutig proamerikanisches Engagement im Widerspruch zum Europäischen Verfassungsentwurf stehe, wo es in Artikel I-15 Absatz 2 heißt: „Die Mitgliedstaaten unterstützen die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität, und sie respektieren die Rechtsakte der Union in diesem Bereich. Sie enthalten sich jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwiderläuft oder ihre Wirksamkeit beeinträchtigen könnte.“12

Einige Wochen danach begann der Irakkrieg. Die osteuropäische Öffentlichkeit stand einem militärischen Engagement von Anfang an reserviert, wenn nicht ablehnend gegenüber.13 Was die Regierungen betrifft, so beschlossen diese nach internen Auseinandersetzungen, der „Anfrage“ der Vereinigten Staaten zwar stattzugeben, jedoch nur begrenzte Kontingente zu entsenden, die größtenteils nicht für den Kampfeinsatz vorgesehen sein sollten. Einzige Ausnahme war Polen, das sich als Regionalmacht und wichtigster strategischer Verbündeter der USA in Osteuropa profilierte.14 Deshalb sichern heute mehrere tausend polnische Soldaten im Irak eine der Besatzungszonen. Welch wunderbarer Rollentausch für eine Nation, die im Laufe ihrer tausendjährigen Geschichte so oft von seinen östlichen und westlichen Nachbarn gedemütigt wurde! Dieses Mal sind die Polen nicht die Besetzten, sondern die Besatzer.

Zunächst konnten sich die osteuropäischen Staaten zu den „Nebenwirkungen“ ihres Irak-Engagements nur gratulieren. Alle erhofften sich Aufträge beim Wiederaufbau des Landes, aber auch Vorteile, falls US-Militärbasen aus Deutschland nach Osteuropa verlegt würden. Seitdem im Frühjahr 2003 der Aufbau von US-Militärstützpunkten in Rumänien und Bulgarien begonnen hat, sind Zigmillionen Dollar in die Staatskassen geflossen. Und von der baldigen Stationierung von US-Soldaten und deren Familien im Umland einiger polnischer, rumänischer und bulgarischer Städte versprechen sich viele Menschen Sicherheit und Wohlstand.

Doch der Traum dürfte bald ausgeträumt sein. Washington plant zwar durchaus, einige Militärbasen aus Deutschland nach Osten zu verlagern, doch die Zahl der Soldaten wird im Zuge der Modernisierung der Streitkräfte drastisch sinken.15 Insgesamt wird ein Drittel der derzeit in Europa stationierten Verbände den alten Kontinent verlassen. Die für die nächsten Jahre ins Auge gefasste Umstrukturierung soll im Krisenfall eine schnellere Dislozierung von Kampfeinheiten ermöglichen. Die Vereinigten Staaten wollen damit näher an die Krisengebiete im Nahen Osten, in Zentralasien und im Kaukasus heranrücken, wo sie in Georgien einen neuen Partner gefunden haben.

US-Außenminister Colin Powell hat die Absicht Washingtons bekräftigt, in dieser Region vorübergehend Militäreinheiten zu stationieren. Die Reaktionen aus Moskau fielen gemischt aus. Verteidigungsminister Sergei Iwanow meinte, er könne ja noch verstehen, „dass in Bulgarien und Rumänien Militärbasen gegen mögliche Terroristen aufgebaut werden“, aber in Polen und in den baltischen Staaten sei das „nicht nachzuvollziehen“.16

Eines ist indes gewiss: Zivile und militärische Abgesandte der Vereinigten Staaten werden in naher Zukunft eine rege Reisetätigkeit entfalten, um den Verbündeten in Mittel- und Osteuropa die Vorteile enger Beziehungen zu Washington in den schönsten Farben auszumalen. So können die osteuropäischen „Verbündeten“ für die Modernisierung ihrer Waffensysteme mit einer Unterstützung von Millionen US-Dollar rechnen, sofern sie sich für US-Waffensysteme entscheiden. Außerdem hat die Regierung in Washington bereits versprochen, US-amerikanische Baufirmen zu unterstützen, die sich am Bau der „strategisch wichtigen“ Autobahnen auf dem Balkan beteiligen.

Allerdings werden es die „Missionare“ aus der neuen Welt nicht leicht haben. Ein Jahr nach dem Ausbruch des Irakkriegs zeigen auch die heißesten Befürworter der US-amerikanischen Außenpolitik die ersten Anzeichen von Enttäuschung. Und dies nicht ohne Grund: Die osteuropäischen Verbände im Irak werden zur Zielscheibe des irakischen Widerstands, und die gescheiterte Befriedung des Landes unterminiert die Glaubwürdigkeit der USA nicht nur in den Augen der osteuropäischen Öffentlichkeit, sondern auch bei Teilen der staatlichen Bürokratien.

Zwar jubelt das neokonservative Lager über die unerwartete Unterstützung seitens der Serben, die 700 bis 800 Soldaten in den Irak schicken wollen – Hilfe, die allerdings noch vor den Attentaten in Madrid angeboten wurde. Die Europabeauftragte im US-Außenministerium, Cathleen Stevens, verkündete während ihres Besuchs in Belgrad jedenfalls, dass die Vereinigten Staaten die Reform der serbischen Armee mit „Interesse“ verfolgten.

Je schwieriger die Lage im Nachkriegsirak wird, umso intensiver beginnen Teile der politischen Klasse Osteuropas darüber nachzudenken, welche Rolle Europa spielen sollte. Nach und nach ermessen die EU-Neumitglieder ebenso wie die Beitrittskandidaten der nächsten Runde die Bedeutung des „alten Europa“ für ihre eigene Zukunft.17 Sollten die Vereinigten Staaten ihr Verbündeter und Freund bleiben, wären diese Staaten zukünftig unsere Konkurrenten.

deutsch von Bodo Schulze

* Journalist, Dozent an der École militaire spéciale de Saint-Cyr Coëtquidan.

Fußnoten: 1 Siehe Richard Perle u. David Frum, „An End to Evil: How to Win the War on Terror“, Ballantine Books 2004. 2 Zbigniew Brzezinski, „Pour une nouvelle stratégie américaine de paix et de sécurité“, Politique étrangère, 3–4, 2003. 3 Dazu Bennet Kovrig, „Of Walls and Bridges: The United States and Europe“, New York University Press 1981, zit. n. Ignac Romsics, „Volt egyszer egy rendszervaltas“, Budapest (Rubicon Könyvek) 2003. 4 Siehe auch George Bush und Brent Scowcroft, „A World Transformed“, New York (Knopf) 1998. 5 Ebd. 6 Siehe das Interview mit Richard Holbrooke in Politique internationale 72, 1996. 7 Siehe die Memoiren von Madeleine Albright, „Madame Secretary: A Memoir“, New York (Miramax Books) 2003. 8 Dazu Pascal Boniface, „La France contre l’Empire“, Paris (Robert Laffont) 2003. 9 Dazu Christian Saint-Etienne (Vorwort von Hubert Védrine), „La puissance ou la mort“, Paris (Seuil) 2003 10 Wall Street Journal, 30. Januar 2003; Le Monde, 7., 8. und 27. Februar 2003; sowie die genannten Bücher von Pascal Boniface und Christian Saint-Etienne. 11 Libération, 19. Februar 2003. 12 Le Monde, 19. Februar 2003. 13 Siehe Catherine Samary, „Sechs Monate vor dem EU-Beitritt. Das alte Europa im neuen“, Le Monde diplomatique, November 2003. 14 Marcin Zaborowski und Kerry Longhurst, „America’s protégé in the East? The emergence of Poland as a regional leader“, Informations Affairs 79, Dezember 2003. 15 „All Ready on the Eastern Front“, Time Magazine, 19. Januar 2004. 16 Le Figaro, 7. März 2004. 17 Dazu Catherine Samary, siehe Fn. 13.

Le Monde diplomatique vom 14.05.2004, von THOMAS SCHREIBER