16.01.2009

Das Eis wird knapp

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Das Eis wird knapp

Auch die Gletscher der Antarktis drohen zu schmelzen von Daniel Tanuro

Während der schönen Jahreszeit sammelt sich das Schmelzwasser in großen Tümpeln auf den polaren Eisschilden und fließt durch die brüchige Eisdecke in die Tiefe. In Grönland zum Beispiel hatte sich auf diese Weise einmal ein drei Kilometer langer See gebildet, der sich plötzlich innerhalb von eineinhalb Stunden ins Meer entleerte, als hätte jemand in einer riesigen Badewanne den Stöpsel herausgezogen. Würde das Wasser die Felsmassive der Eisberge aushöhlen, könnten sich gigantische Eismassen ablösen und ins Meer rutschen. Das hätte eine plötzliche Flutwelle zur Folge – der Albtraum der Glaziologen.

Derartige dynamische Prozesse werden seit einigen Jahren in den arktischen Regionen des Nordpols beobachtet. Der Grönländische Eisschild enthält beispielsweise so viel Wasser, dass im Falle seines vollständigen Abschmelzens der Meeresspiegel um mehr als sechs Meter ansteigen würde. Aber auch die Antarktis auf der Südhalbkugel macht den Forschern Sorgen. Sie unterscheiden vier Komponenten des Eises: den Ostantarktischen Eisschild, den Westantarktischen Eisschild, die Gletscher der Antarktischen Halbinsel und das Schelf- beziehungsweise Packeis auf dem offenen Ozean.

Würde der Ostantarktische Eisschild komplett verschwinden, stiege der Meeresspiegel sogar um fünfzig Meter.1 Momentan scheint hier das Eis glücklicherweise noch stabil zu sein. An der Westküste der Antarktischen Halbinsel schrumpfen die Gletscher hingegen rasant. Dort ist der weltweit höchste Temperaturanstieg zu verzeichnen – 3 Grad Celsius innerhalb von fünfzig Jahren. Für den Nordosten der Antarktis, wo die durchschnittliche Sommertemperatur derzeit 2,2 Grad Celsius beträgt, wird eine Erwärmung von 0,5 Grad Celsius pro Dekade vorausgesagt.

Die Gletschermassen der Halbinsel und der westliche Eisschild bergen jeweils eine Wassermenge, die den Meeresspiegel um fünf Meter steigen ließe, sollten sie je vollständig schmelzen. Dieses Risiko erhöht sich durch zwei spezifische Bedingungen. Erstens sind die Täler in den Gebirgsformationen der Antarktischen Halbinsel nicht so eng und gewunden wie in Grönland, so dass das Schmelzwasser schneller ins Meer abfließen würde.2 In den letzten Jahren hat sich die Geschwindigkeit mancher Eisströme verdreifacht.

Zweitens ruht der Westantarktische Eisschild zum größten Teil auf einem Felsmassiv unter dem Meeresspiegel, der über große Strecken zum offenen Meer hin abfällt.3 Die Wissenschaftler sind beunruhigt, weil sich die zirkumpolare Meeresströmung stetig erwärmt und langsam den Küsten nähert. Deshalb befürchten sie, dass der Eisschild aus seiner felsigen Verankerung losgelöst werden könnte.

Die Gefahr, dass dies eintritt, sei sehr viel größer als bislang vermutet, sagt der Klimatologe James Hansen. Der Direktor des Goddard Institute for Space Studies (GISS) der US-amerikanischen Luft- und Raumfahrtbehörde Nasa präsentierte mit acht weiteren Wissenschaftlern jüngste Forschungsergebnisse in der Zeitschrift Science.4

In ihren Schlussfolgerungen stützen sich die Autoren auf die Untersuchung paläoklimatischer Daten. Vor 65 Millionen Jahren gab es auf der Erde so gut wie kein Eis. Erst vor etwa 35 Millionen Jahren wurde die Antarktis mit einem Eisschild überzogen – als eine klimatische Schwelle überschritten wurde: Die Parameter der Sonnenstrahlung, der Albedo5 und der atmosphärischen Konzentration von Treibhausgasen hatten Werte erreicht, die eine Abkühlung begünstigten. In der Folgezeit sank der Meeresspiegel, da sich die Niederschläge an den Polen in Form von Schnee sammelten. Nun sind Hansen und seine Kollegen zu der Überzeugung gelangt, dass wir im Begriff sind, dieselbe Schwelle zu überschreiten – nur eben in umgekehrter Richtung.

Diese Warnung muss sehr ernst genommen werden. Von allen Prognosen des Weltklimarats (IPCC) sind diejenigen, die sich auf den Anstieg des Meeresspiegels beziehen, am wenigsten verlässlich: Zwischen 1990 und 2006 stieg der Meeresspiegel um 3,3 Millimeter pro Jahr, obwohl nach den Berechnungen nur jährlich 2 Millimeter erwartet wurden.6 Die Differenz dürfte sich wohl aus den Schwierigkeiten bei der Modellierung des noch kaum vorhersehbaren Gletscherverhaltens erklären.

Falls die globale Erwärmung langfristig bei 2 Grad Celsius über dem Niveau von 1780, dem Ende des vorindustriellen Zeitalters, stabilisiert würde, prognostizieren die Klimamodelle einen Anstieg des Meeresspiegels um 0,4 bis 1,4 Meter innerhalb mehrerer Jahrhunderte. Doch allein die bisher nachgewiesene Differenz bedeutet, dass dieser Wert eher bei 0,6 bis 2,2 Meter liegt. Selbst diese Zahlen sind vermutlich noch zu niedrig, da das Abschmelzen der Eisschilde nicht linear verläuft. Vor allem gilt ein ganz anderes Zeitmaß: Wenn Hansen und sein Team recht haben, bleibt uns in der Tat nicht mehr viel Zeit, wenn wir die Katastrophe, die bereits in wenigen Dekaden möglich wäre, noch abwenden wollen.

Ein Anstieg der Weltmeere um einen Meter brächte hunderte Millionen Menschen in Gefahr, vor allem in den Entwicklungsländern. Zehn Millionen Ägypter, dreißig Millionen Bangladescher und ein Viertel der Bevölkerung von Vietnam müssten umgesiedelt werden.7 Auch die Bewohner Londons und New Yorks wären bedroht.

Als Rajendra Pachauri, der Vorsitzende des Weltklimarats (IPCC), vor einem Jahr die Antarktis besuchte, äußerte er die Hoffnung, dass der nächste Bericht in der Lage sein werde, „bessere Informationen über ein mögliches Abschmelzen dieser beiden riesigen Komplexe“ – des Grönländischen und des Westantarktischen Eisschilds – zu liefern.8 Bedauerlicherweise wird dieser Bericht voraussichtlich erst 2013 vorliegen.

Nach dem Sachstandsbericht von 2007 erfordert eine Begrenzung der Erwärmung auf maximal 2 bis 2,4 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau, dass spätestens ab 2015 der weltweite Ausstoß von Treibhausgasen sinken muss. Bis 2050 müsste er um 50 bis 85 Prozent unter die Werte des Jahres 2000 fallen. Dieses Ziel fordert den Industrieländern eine außerordentliche Anstrengung ab: Sie müssten ihre Emissionen bis zum Jahr 2020 um 25 bis 40 Prozent senken, bis 2050 sogar um 80 bis 95 Prozent. Zugleich halten die Experten es für notwendig, dass auch die Emissionen in den Schwellen- und Entwicklungsländern – deutlich abweichend von den ursprünglichen Annahmen – substanziell vermindert werden.

Die Empfehlungen des Weltklimarats gehen nicht so weit wie die der Wissenschaftler um Hansen, dennoch werden sie von den politisch verantwortlichen Stellen heruntergespielt. Jean-Pascal van Ypersele, Professor für Klimatologie an der Katholischen Universität Löwen und Vizepräsident des Weltklimarats, weist darauf hin, dass die Mitgliedstaaten der G 8 sich zwar regelmäßig für eine Senkung der Treibhausgas-Emissionen um 50 Prozent aussprechen, sich jedoch stets davor hüten, zu erwähnen, dass 85 Prozent nötig wären, um die ehrgeizigen Klimaziele tatsächlich zu erreichen.9 Die Industrienationen lassen zudem gern unter den Tisch fallen, dass sie die Hauptverantwortung für den Klimawandel tragen und damit auch für die umweltschutzpolitisch notwendigen Maßnahmen.

So erweist sich beispielsweise das integrierte Energie- und Klimapaket, das die Europäische Kommission für den Zeitraum von 2013 bis 2020 vorgeschlagen hat, als unvereinbar mit dem Ratsbeschluss von 1996, den Temperaturanstieg auf maximal 2 Grad Celsius gegenüber 1780 zu begrenzen. Und was den Energie- und Klimaplan des neuen US-Präsidenten Barack Obama betrifft, so sieht dieser für die Vereinigten Staaten zwar eine 80-prozentige Reduktion der Emissionen bis 2050 vor, die Zielvorgabe für 2020 besteht jedoch lediglich darin, zum Emissionsniveau von 1990 zurückzukehren.10

Während die Beunruhigung unter den Wissenschaftlern wächst, überschlagen sich die Regierenden mit immer neuen Ankündigungen, wobei sie ihre Ziele an den konservativsten Prognosen festmachen. Gleichzeitig setzen sie auf die sogenannten flexiblen Mechanismen11 , um die Anstrengungen der Industriestaaten im Großen und Ganzen auf freiwillige Emissionssenkungen zu beschränken.

Nicholas Stern, der ehemalige Chefökonom der Weltbank, bringt die Logik dieses Verhaltens auf den Punkt. Im Stern-Report, dem Bericht, den er im Oktober 2006 der britischen Regierung vorlegte, schreibt er, man dürfe „nicht zu viel tun, nicht zu schnell handeln“, da beim Stand der Dinge noch gar nicht abzusehen sei, wie sich Emissionssenkungen von 60 oder 80 Prozent auf die Kosten auswirken würden, die die Industrie, Luftfahrt und bestimmte andere Bereiche zu stemmen hätten.12 Es ist zu befürchten, dass die kommenden Klimaverhandlungen eher von Profitinteressen geleitet werden als von der Sorge um den Schutz der Bevölkerungen und die Rettung des Weltklimas.

Fußnoten: 1 Vierter Sachstandsbericht des IPCC von 2007, Bericht der Arbeitsgruppe I. 2 „Escalating Ice Loss Found in Antarctica“, in: Washington Post, Washington, 14. Januar 2008. 3 „New Concerns on the Stability of the West Atlantic Ice Sheet“, Environment Times, United Nations Environment Programme (Unep), 2004; www.grida. no/publications/et/pt/page/2559.aspx. 4 „Target Atmospheric CO2: Where Should Humanity Aim?“; www.arxiv.org/abs/0804.1126. 5 Albedo bezeichnet den Anteil des Sonnenlichts, der von einem Körper reflektiert, hier: von der Erde in die Atmosphäre zurückgestrahlt wird. 6 Artikel aus Science, zitiert in: Le Monde, 2. Februar 2007. 7 Norman Myers, „Environmental Refugees in a Globally Warmed World“, in: BioScience, Bd. 43 (11), Washington D. C., Dezember 1993; vgl. auch Edition Le Monde diplomatique, „Atlas der Globalisierung spezial – Klima“, S. 50 f. 8 „UN Climate Chief to Visit Antarctica“, ABC News, 8. Januar 2008. 9 Siehe www.climate.be/vanyp. 10 „Barack Obama’s Plan to Make America a Global Energy Leader“, siehe www.barackobama.com. 11 Dazu gehören laut Kioto-Protokoll Klimaschutzmaßnahmen in Drittländern und der Emissionshandel. 12 Nicholas Stern, „Stern Review on The Economics of Climate Change“, 2006, S. 247; siehe www.hm-treasury.gov.uk/sternreview_index.htm.

Aus dem Französischen von Grete Osterwald

Daniel Tanuro ist Agraringenieur und Journalist.

Le Monde diplomatique vom 16.01.2009, von Daniel Tanuro