16.01.2009

Täter, Opfer, Kolonialisten

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Täter, Opfer, Kolonialisten

Ruanda und Frankreich streiten sich vor dem Völkermordtribunal von André-Michel Essoungou

Am Rande des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda (IStGHR), der seit Februar 1995 im tansanischen Arusha tagt, nimmt das Verhältnis zwischen Frankreich und Ruanda zunehmend Schaden. Halbherzige Anläufe, die Beziehungen zu normalisieren, scheitern regelmäßig. Zu schwer wiegen die Vorwürfe aus der Vergangenheit.

In dem Dauerstreit geht es um zwei Dinge: Zunächst musste und muss geklärt werden, wer alles zur Verantwortung gezogen werden kann für den Völkermord an den ruandischen Tutsi, dem zwischen April und Juli 1994 eine Million Menschen zum Opfer fielen. Natürlich steht außer Frage, dass die Schuld in erster Linie bei den damaligen Hutu-Machthabern liegt. Zuletzt hat der IStGHR den ehemaligen Armeeoberst Théoneste Bagosora nach elf Jahren Untersuchungshaft als Hauptverantwortlichen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das war am 18. Dezember letzten Jahres.

Wie aber steht es um Komplizenschaft und indirekte Verantwortung? Welche Rolle spielte damals Paris? Und hat auch die Ruandische Patriotische Front (RPF), die zurzeit die Regierung in Kigali stellt, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen?

Zweitens geht es um einen Legitimitätskonflikt zwischen der gegenwärtigen ruandischen Regierung von Paul Kagame, die nach dem Genozid als Sieger dastand, und Paris, das als Schutzmacht in Afrika kaum noch eine Rolle spielt. Eine der Schlüsselfragen in der politisch und symbolisch brisanten Auseinandersetzung zwischen Paris und Kigali betrifft die Bewertung der Ereignisse von 1994.

Auf französischer Seite beteiligen sich Politiker, ehemalige Regierungsmitglieder wie der frühere Entwicklungshilfeminister Bernard Debré, Exmilitärs wie der Fallschirmjägeroffizier Jacques Hogard, der während des Völkermords Kommandant der Militärmission „Opération Turquoise“ war,1 sowie Wissenschaftler und Journalisten aller Couleur an der Diskussion. Während in Frankreich das offiziell verbreitete Bild in der Öffentlichkeit heftig kritisiert wird und die Kommentatoren2 in zwei Lager spaltet, liegt in Ruanda die Deutungshoheit bei der Regierung. In langen Interviews breitete Präsident Kagame seine Sicht der Dinge aus, die durch den im August 2008 in Kigali erschienenen Bericht der Mucyo-Kommission bestätigt wird.3

Die Ursachen für die Spannungen zwischen Paris und Kigali reichen weiter zurück als die Auseinandersetzung der letzten Jahre um den Völkermord in Ruanda. Bereits von Oktober 1990 bis Juli 1994 tobte ein Bürgerkrieg zwischen der von Frankreich unterstützten rassistischen Regierung unter Juvénal Habyarimana und den Rebellen um Paul Kagame. Nach der Rückkehr aus dem Exil, in das sie sich in den 1950er- und 1960er-Jahren geflüchtet hatten, waren die ruandischen Tutsi fest entschlossen, das Regime in ihrer Heimat zu stürzen.4

Die Franzosen wurden in den Bürgerkrieg schnell hineingezogen. Mehrfach konnten die RPF-Rebellen nur noch durch das Eingreifen der aus Paris entsandten Truppen aufgehalten werden, wie etwa in Ruhengeri im Januar 1991.5 Und im Februar 1993 verhinderten 400 französische Soldaten gerade eben, dass die RPF die Hauptstadt Kigali einnehmen konnte. Außerdem beteiligten sich französische Offiziere 1990 an Straßenkontrollen, um – wie es hieß – Tutsi-Rebellen zu identifizieren, nachdem es zu Massakern gekommen war.

Der Konflikt zwischen Paris und der RPF hatte von Anfang an kolonialgeschichtliche Wurzeln. So sollte mit der Bekämpfung der RPF in erster Linie das Vordringen von US-Amerikanern und Engländern auf französisches Einflussgebiet verhindert werden. Und nur weil die aus Uganda zurückgekehrten Tutsi Englisch sprachen, unterstellten ihnen die Franzosen, sie würden Amerikanern und Briten den Vorzug geben. Gérard Prunier berichtet davon, dass einige französische Politiker sich sogar an die Faschoda-Krise von 1898 erinnert fühlten,6 als Frankreichs imperiales Streben einen starken Dämpfer hinnehmen musste.

Mit dem Friedensabkommen von Arusha Ende 1993 endete die erste, vor allem militärisch ausgetragene französisch-ruandische Konfrontation. Das Abkommen sah die Bildung einer Übergangsregierung unter Einbindung von RPF-Vertretern vor. Dem damit verbundenen Ziel der nationalen Einheit diente auch die Verpflichtung Frankreichs, die ruandische Regierung nicht länger militärisch zu unterstützen. Wenige Monate später flammte der Krieg erneut auf, weil die Rebellen dem Hutu-Regime vorwarfen, ein doppeltes Spiel zu spielen.

Diese erste Runde in der Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Ruanda endete im Juli 1994 nach dem Völkermord und dem schnellen Sieg der Rebellen über die Regierungstruppen, nachdem diese nicht mehr von Paris unterstützt worden waren. Der Konflikt ging in die zweite Runde, und die wurde auf den Feldern von Politik, Medien und Justiz ausgetragen.

Nicht ganz unabhängige Kommissionen

Die ruandische Regierung warf Frankreich alsbald vor, sowohl die Regierungstruppen als auch die Helfershelfer des Völkermords bewaffnet und ausgebildet zu haben. Eine Anschuldigung, die Paris weit von sich wies: Zwar habe man Soldaten ausgebildet und die Armee unterstützt, insbesondere durch Beratung in Strategiefragen; aber mit den Milizen habe man nie zusammengearbeitet.

Zunächst hielten sich noch alle an die diplomatische Etikette. Doch als Staatspräsident Kagame im April 2004 – anlässlich der Gedenkveranstaltungen zum zehn Jahre zurückliegenden Genozid – Paris öffentlich der Komplizenschaft beschuldigte, verließen die Vertreter der französischen Regierung die Tribüne des Amahoro-Stadions in Kigali. Mitte November 2006 brach Kigali schließlich die diplomatischen Beziehungen zu Paris ganz ab, nachdem der französische Untersuchungsrichter Jean-Louis Brugière die Pariser Staatsanwaltschaft aufgefordert hatte, gegen neun führende Persönlichkeiten des heutigen Ruanda Haftbefehle auszusprechen.

Die offizielle Position Frankreichs folgt im Wesentlichen dem Quilès-Bericht.7 Der Sozialist Paul Quilès war zwischen 1997 und 2002 Vorsitzender des Verteidigungsausschusses und leitete 1998 den parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu Ruanda. Der Bericht spricht von einigen „Irrtümern“ in den Beziehungen zwischen Paris und Kigali. Komplizenschaft oder eine Verwicklung der Franzosen in Massaker schließt er jedoch kategorisch aus. Im Gegenteil: Frankreich habe stets nach einem politischen Ausweg gesucht, insbesondere durch seine Unterstützung des Arusha-Abkommens.

Diese Version bestreiten die ruandischen Exrebellen, die heute an der Regierung sind. Ihrer Meinung nach habe sich Paris nie um eine politische Lösung bemüht, sondern immer nur Präsident Habyarimana unterstützt. Schlimmer noch: Die französische Militärpräsenz habe sich nach der Unterzeichnung des Arusha-Abkommens nicht nennenswert verringert. Und so nah, wie die beiden Staaten einander damals standen, hätte Paris doch mitbekommen müssen, was für Rassisten Juvénal Habyarimana und die Leute in seinem Umfeld waren.

Statt für Klarheit zu sorgen, belegte der Quilès-Bericht vor allem, wie ratlos und gespalten Frankreich in der Angelegenheit nach wie vor war. Die Mucyo-Kommission, die die ruandische Regierung 2006 einberief, um die Rolle Frankreichs im Völkermord zu beleuchten, hatte dagegen den eindeutigen Auftrag, „die Rolle Frankreichs beim Völkermord“ zu erhellen – und sie tat dann auch ihr Bestes, um Kigali in seiner Haltung gegenüber Paris zu stärken.

Leute wie der konservative Afrikanist Bernard Lugan, der Journalist Pierre Péan, der frühere Entwicklungsminister Bernard Debré und sogar Dominique de Villepin, damals Generalsekretär im Élysée und von 2005 bis 2007 Ministerpräsident, vertieften die Gräben nur, vor allem indem sie die These von einem „doppelten Genozid“ vorbrachten. Danach sei der Massenmord an den Tutsi vergleichbar mit von der RPF verübten Massakern an den Hutu beim Angriff auf Kigali im Frühjahr 1994. Auch danach sei es zu Gräueltaten an Hutu gekommen, als das Militär flüchtige Mörder im Osten der Demokratischen Republik Kongo verfolgte.

In beiden Fällen hätten die Soldaten der RPF systematisch Massaker begangen. Heute räumt die RPF ein, dass auch ihre Leute damals an kriminellen Exzessen beteiligt gewesen seien. Die Täter seien auch schon von Militärgerichten bestraft worden. Aber niemals habe es einen Plan zu so etwas wie einem „Gegengenozid“ an den Hutu gegeben.

Der „doppelte Genozid“ bleibt eine Minderheitenthese, die sich durch Fakten nicht belegen lässt. Zwar spricht der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda vorsichtig von möglichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die RPF. Doch unter dem kritischen Blick Kigalis, das nie ein Hehl aus seinen Vorbehalten gegenüber dem IStGHR gemacht hat, hütet er sich vor einer Strafverfolgung.

Des Weiteren soll nach der offiziellen französischen Position die RPF hinter dem Attentat auf Präsident Habyarimana stecken, das der Auslöser für den Völkermord an den Tutsi war. Auf dieser Behauptung baut eine überaus scharfe Schlussfolgerung auf: Weil die RPF-Rebellen am 6. April 1994 Habyarimanas Flugzeug beim Landeanflug auf den Flughafen Kigali beschossen haben und weil der Tod des Präsidenten den Genozid an den Tutsi ausgelöst hat, sei die RPF eben auch mit schuld an diesem Genozid.

Bereits wenige Stunden nach dem Attentat verbreitete Paul Barril, ehemaliger französischer Gendarmerie-Offizier und Sicherheitsberater von Präsident Habyarimana, anhand dubioser Beweise diese Version der Geschehnisse. Später sorgte der auf Terrorismusbekämpfung spezialisierte Untersuchungsrichter Jean-Louis Bruguière dafür, dass sie weitere Anhänger fand. Eine der neun ruandischen Personen, gegen die Bruguière einen internationalen Haftbefehl gefordert hatte, ist Rose Kabuye, ehemalige Guerillakämpferin und enge Vertraute von Präsident Kagame, die im November 2008 auf dem Frankfurter Flughafen verhaftet und an Frankreich ausgeliefert wurde. Im Januar 2009 soll sie gegen eine Kaution in ihre Heimat zurückkehren können.

Der ruandische Staatschef soll die Vorwürfe gegen Kabuye als Ablenkungsmanöver benutzt haben: Er habe die Verhaftung seiner Weggefährtin zugelassen, um sich auf diese Weise Zugang zu den Ermittlungsakten zu verschaffen. Einige Experten bezweifeln diese Darstellung jedoch. Denn schließlich gibt es auch Zeugenaussagen, die darauf hindeuten, dass sogar Franzosen am Attentat gegen Präsident Habyarimana beteiligt gewesen sein könnten.8

Weil für beide Seiten viel auf dem Spiel steht

Die ruandisch-französische Auseinandersetzung ist auch schon vor der UNO ausgetragen worden: Bei den Beratungen über die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda Ende 1994 waren sich Frankreich und Ruanda uneins in der Frage, über welchen Zeitraum sich die Rechtsprechung des IStGHR erstrecken solle. Kigali forderte, dass sie auch die Jahre vor dem Genozid umfassen solle. Damit hätte sich Frankreich für seine Unterstützung für das mörderische Regime verantworten müssen. Paris setzte jedoch durch, dass Gericht seine Ermittlungen auf den Tatzeitraum selbst und die unmittelbar davor liegenden Monate beschränkt. Außerdem wollte Ruanda, dass sich das Gericht ausschließlich mit dem Genozid beschäftigt, während Paris im Hintergrund die Fäden zog, damit auch mutmaßliche Straftaten der RPF verfolgt würden – wozu es dann aber doch nicht kam.

Bislang konnte keine der Parteien bei dieser Kontroverse wirklich punkten. Ruanda ist offenbar außerstande, die Anschuldigungen gegen Frankreich einfach fallen zu lassen, während es auf der anderen Seite seit 1994 keine französische Regierung über sich gebracht hat, sich ein Beispiel an den USA oder Belgien zu nehmen und in Kigali ein Zeichen der Reue zu setzen.9

Gleichwohl setzt sich der französische Außenminister Bernard Kouchner für eine Annäherung ein10 , und Präsident Nicolas Sarkozy und sein ruandischer Amtskollege kamen am Rande eines europäisch-afrikanischen Gipfels zu einem kurzen, symbolischen Treffen in Lissabon zusammen. Für beide Länder steht in diesem Konflikt einiges auf dem Spiel. Für Ruanda geht es um die Zukunft einer Regierung, die von ihrem Ruf lebt, den Völkermord beendet zu haben. Für Frankreich steht nicht weniger auf dem Spiel als sein Ansehen und sein politischer Einfluss in der Welt.

Fußnoten: 1 Hogard hat sogar einen eigenen Verein gegründet, der sich mit der Rolle des französischen Militärs in Ruanda beschäftigt. 2 Insbesondere innerhalb der Afrika-Redaktion von Radio France internationale prallen die französischen und ruandischen Sichtweisen mit großer Härte aufeinander. 3 Bericht der „Unabhängigen nationalen Kommission zur Sammlung von Beweisen über die Verwicklung Frankreichs in den Völkermord von Ruanda 1994“: www.la-croix.com/illustrations/Multimedia /Actu/2008/8/6/rwanda.pdf. 4 Gérard Prunier, „Éléments pour une histoire du Front patriotique rwandais“, in Politique Africaine, Nr. 51, Oktober 1993, S. 121–138. 5 Alison Des Forges, „Leave None to Tell the Story. Genocide in Rwanda“, Human Rights Watch Report, 1. März 1999, www.hrw.org/legacy/reports/1999/rwanda/Geno1-3-11.htm#P774_296641. 6 Siehe Anmerkung 4. Im Sommer 1898 wurde der kleine sudanesische Ort Faschoda zum Inbegriff einer internationalen Krise, weil dort die Expansionsansprüche der beiden kolonialen Großmächte Frankreich und Großbritannien kollidierten – am Ende mussten sich die Franzosen geschlagen geben. 7 Siehe www.assemblee-nationale.fr/dossiers/rwanda/r1271.asp. 8 Vgl. zum Beispiel Colette Braeckman, „Falsche Fährte“, Le Monde diplomatique, Januar 2007. 9 Im März 1998 entschuldigte sich Bill Clinton in Kigali; am 7. April 2000 folgte ihm der belgische Premierminister Guy Verhofstadt. 10 Vgl. Bernard Kouchner, „La normalisation et la vérité“, in: Défense nationale et sécurité collective, Nr. 3, Paris, März 2008. Der heutige Außenminister weist unter anderem die These seines Vorgängers de Villepin zurück, wonach ein direkter Kausalzusammenhang zwischen dem Attentat vom 6. April 1994 und dem Beginn des Völkermords besteht.

Aus dem Französischen von Veronika Kabis

André-Michel Essoungou ist Journalist in Genf und Autor von „Justice à Arusha, un tribunal international politique encadré face au génocide rwandais“, Paris (L’Harmattan) Paris, 2006.

Le Monde diplomatique vom 16.01.2009, von André-Michel Essoungou