Indien und seine Muslime
von Wendy Kristianasen
Nur wenige Tage nach den Anschlägen in Mumbai hat die Kongresspartei, die gegenwärtig die Regierungskoalition in Indien anführt, zur allgemeinen Überraschung Wahlen in drei von fünf Bundesstaaten gewonnen, darunter auch in Neu-Delhi.1
Nachdem die Kongresspartei vier Jahre lang die Zentralregierung gestellt hatte, wirkte sie müde und durch eine Serie von Attentaten und durch die Wirtschaftskrise deutlich angeschlagen. Dennoch schaffte sie es, der nationalistischen Hindupartei Bharatiya Janata (BJP), die nach dem Attentat von Mumbai die Fehler der Regierung bei der inneren Sicherheit für sich auszuschlachten suchte, den (auch für den Tourismus) wichtigen Bundesstaat Radschastan abzujagen.
Die BJP hatte ganzseitige Anzeigen geschaltet, auf denen in großen fetten Lettern und mit Blutspritzern garniert das Wort „Terror“ stand; darunter der Slogan: „Für Sicherheit wähle BJP“. Der auch politisch aktive Schriftsteller Javed Anand, ein säkularer Muslim, hatte wie viele seiner Freunde befürchtet, dass die Hindupartei damit Erfolg haben könnte. „Aber die BJP-Strategie des Hasses ist nicht aufgegangen“, meint Anand erleichtert, „die Wähler haben sich an den Brot-und-Butter-Themen orientiert.“
Dieselbe Erklärung gilt wahrscheinlich für den Erfolg der Bahujan Samaj Partei (BSP) der Dalits (Kastenlosen), die in Neu-Delhi 14 Prozent der Wählerstimmen gewinnen konnte, nach nur 5 Prozent fünf Jahre zuvor. Gründer der BSP ist der charismatische Kumari Mayawati, den eine historisch einmalige Koalition von Dalits, hochkastigen Hindus und Muslimen zum Regierungschef von Uttar Pradesch (Bevölkerung: 170 Millionen) wählte.
Kein Mensch weiß, ob die Resultate bei den allgemeinen Wahlen im Frühjahr ähnlich ausfallen werden, aber zumindest sind durch die Niederlage der BJP die befürchteten – und von den Hindu-Hardlinern auch erwünschten – Zusammenstöße auf kommunaler Ebene ausgeblieben.
Die muslimische Bevölkerung macht sich dennoch Sorgen. Am 7. Dezember veranstalteten Maulanas, Muftis und normale muslimische Bürger unter dem Motto „Nicht in unserem Namen“ einen Schweigemarsch in Mumbai, um die Toten zu betrauern, ihre Wut über den „Zusammenbruch des gesamten Regierungssystems“ zu artikulieren und „alle Organisationen zu verurteilen, die sich an Massenmorden beteiligen“: von al-Qaida über die Taliban und Lashkar-e-Taiba bis hin zu lokalen indischen Gruppen.2
Auch in anderen Städten – Bangalore, Ahmedabad, Indore, Hyderabad und Delhi – wurden ähnliche Kundgebungen organisiert. Und muslimische Geistliche weigerten sich, die Leichen der neun bei den Anschlägen getöteten Terroristen auf ihren Friedhöfen beisetzen zu lassen, weil sie keine echten Muslime seien.
Die Anschläge von Mumbai haben die Weltöffentlichkeit auch deshalb alarmiert, weil sie auf westliche Symbole zielten; und doch: Die meisten der 163 Opfer waren Inder. Zudem war das Attentat nur der letzte einer ganzen Reihe von Terrorakten. Vor Mumbai wurden allein im Jahr 2008 im ganzen Land über 200 Personen durch Bombenanschläge getötet und mehrere tausend verletzt. In Assam, wo es eine starke Unabhängigkeitsbewegung gibt, starben im Oktober 64 Menschen; vorausgegangen waren Anschläge in Delhi (19 Tote), Malagaon (5 Tote)3 , Ahmedabad (49 Tote), Bangalore (2 Tote) und Jaipur (63 Tote). In allen Fällen wurde nicht der übliche Verdächtige Pakistan beschuldigt, sondern die sogenannten Indischen Mudschaheddin und die inzwischen verbotene Simi, die islamische Studentenbewegung Indiens.
Die Medien haben das allgemeine Misstrauen und die Angst noch verstärkt, indem sie auf Lecks im Polizeiapparat und in den Geheimdiensten hinwiesen, ohne ihre Behauptungen verifizieren oder ihre Quellen angeben zu können. Und Muslime wie säkulare Linksintellektuelle äußerten ihre Besorgnis über das Kesseltreiben gegen angebliche „geistige Drahtzieher“, über die Verhaftung von vielen hundert Muslimen und über die Berichte von durch Folter erzwungenen Geständnissen.
Als besonders irritierend empfinden es diese Kreise, dass als Hauptverdächtige nichtbärtige Madrassa-Absolventen präsentiert werden, sondern junge Leute mit einer modernen, säkularen Ausbildung. „Wir haben in Indien keine gemeinsame Haltung in so entscheidenden Fragen wie dem Terrorismus“, meint der Muslim Obaid Siddiqui, Professor für Medienwissenschaften an der Jamia-Millia-Islamia Universität in Delhi. „Und unsere Politiker sind in diesem Punkt nicht aufrichtig. Deshalb haben wir eine Krise der politischen Legitimität.“
Um der zunehmenden Islamophobie entgegenzuwirken, gab das theologische Seminar Dar ul-Ulum (Haus des Wissens) in Deoband im Februar 2008 eine Fatwa heraus, die Terrorismus verurteilt (siehe Kasten S. 9).4 Und Ende Mai organisierte es in Delhi eine Konferenz, bei der Vertreter aller wichtigen muslimischen Organisationen die Fatwa unterzeichneten. Der Ortsname „Deoband“ und das dortige Seminar genießen unter Muslimen aller sozialen Positionen ein ähnlich hohes Ansehen wie die Al-Azhar-Universität in Kairo. Die meisten der indischen Muslime sind Sunniten, viele von ihnen fühlen sich gerade diesem Seminar verbunden.
Deoband ist eine unscheinbare Stadt in Uttar Pradesch und liegt etwa sechs Stunden von Delhi entfernt inmitten fruchtbarer Korn- und Zuckerrohrfelder. Die Frauen arbeiten auf den Feldern und stampfen das ausgepresste Zuckerrohr zu Brennmaterial. Getrocknete Fladen von Kuhdung stapeln sich entlang der Straßen, auf denen sich Ochsenkarren gegen teure Traktoren behaupten müssen. Überragt wird das geschäftige Treiben von Deoband von den weißen Kuppeln seiner imposanten Marmormoschee.
Dar ul-Ulum bildet derzeit 3 500 Schüler aus, das Studium dauert dreizehn Jahre. Aus 10 000 Anwärtern werden jedes Jahr 800 ausgewählt, sie bezahlen keine Studiengebühren. Adil Siddiqui, der für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, führt mich durch das labyrinthische Gelände, vorbei an den offenen Küchen, wo Korn zu Mehl gemahlen wird. „Die hiesigen Landarbeiter fühlen sich uns eng verbunden und spenden Getreide für die Jungen.“
Die Schüler haben ein strenges Islamstudium zu absolvieren, aber sie lernen auch Buchbinderei, Sprachen (unter anderem Englisch und Arabisch) und Informatik. Voller Stolz wird mir der kleine Raum gezeigt, aus dem das Dar ul-Ulum auf Englisch und Arabisch seine Fatwas in die Welt schickt.5 Obwohl der Koran auf Arabisch rezitiert wird, erfolgen die Erläuterungen in Urdu: „Urdu ist unsere Unterrichtssprache“, erklärt Zain ul Islam Qasmi, Vizerektor und Stellvertreter des Großmuftis: „Wir sind dieser Sprache sehr verbunden.“ Die Absolventen verbreiten den Einfluss von Dar ul-Ulum in ganz Indien mittels eines dichten Netzwerks von Schulen, die sie selbst begründet haben oder an denen sie lehren.
Wegen seiner gemäßigten Positionen und seiner langen Geschichte wird das Dar ul-Ulum weithin geachtet. Das Seminar wurde 1866 von Leuten gegründet, die sich im Aufstand gegen die Briten 1857 ausgezeichnet hatten6 , und trat stets vehement für die säkulare indische Demokratie ein. Dennoch wurde es, wie Adil Siddiqui berichtet, im Gefolge des 11. September 2001 in bösartiger Absicht mit Ussama Bin Laden und den Taliban in Verbindung gebracht.
Am 2. November 2008 verstärkten die Muftis ihre Aktivitäten. Fast 6 000 Personen fuhren mit einem „Friedenszug“ von Deoband nach Hyderabad, wo sie an einer zweitägigen Konferenz gegen den Terrorismus teilnahmen. Es war die größte derartige Veranstaltung der letzten vier Jahre. Organisiert wurde sie von Jamiat Ulema-e-Hind (JUH), einer 10 Millionen Mitglieder starken muslimischen Vereinigung, die eng mit Deoband verbunden ist. Auf der Konferenz wurde (auf der Grundlage der Fatwa von Dar ul-Ulum) eine weitere Fatwa unterzeichnet, die den Einsatz von Gewalt im Namen des Islam verurteilt. An der abschließenden Versammlung nahmen 100 000 Menschen teil.
Maulana Mahmud Madani, Vorsitzender der JUH und Mitglied des indischen Oberhauses (Rajya Sabha), betonte in einem Gespräch in Delhi, dass „alle Debatten und Streitgespräche über Entfremdung vor dem Hintergrund der nationalen Integration geführt werden sollten“. Die JUH müsse sich stärker darum bemühen, unzufriedene Jugendliche zu erreichen und ihnen klarzumachen, dass „Terrorismus kein Dschihad sein kann“.
Wenig Bildung für Muslime
Die Muftis haben besonders großen Einfluss bei den traditionellen Muslimen und den Armen. Die Jugend hingegen erreichen sie nicht. Und sie tun zu wenig, um Reformen tatsächlich voranzubringen, bemängeln viele Muslime. Die meisten sind zum Beispiel der Meinung, dass die rechtlichen Regeln, die nach der Scharia für Familienangelegenheiten wie Heirat und Erbschaft gelten, dringend neu kodifiziert werden müssten. Namentlich säkulare Muslimgruppen fordern mehr Rechte für Frauen, insbesondere bei Ehescheidungen, über die eine Schlichtungsinstanz befinden sollte, statt dass einseitig die Männer entscheiden.
Eine weitere aktive Gruppe ist Jamaat-e-Islami Hind (JIH) (siehe Kasten). Obwohl die JIH ihre Positionen im Laufe der letzten Jahre gemäßigt hat, betrachten viele Führungspersönlichkeiten der gemäßigten Mitte jede Form von politischem Islam noch immer als Gefahr und schließen die JIH deshalb von ihren Unternehmungen aus. Deshalb schickte die JIH im Oktober unabhängig vom islamischen Mainstream zwei Friedenskarawanen durchs Land, um gegen den Terrorismus Stellung zu beziehen.
Die eigentliche Gefahr ist jedoch nicht der Extremismus, sondern die Armut und Benachteiligung. Indiens 154 Millionen Muslime stellen 13,4 Prozent der Bevölkerung und damit die größte Minderheit im Land. (Indien hat nach Indonesien und Pakistan die größte muslimische Bevölkerung weltweit). Die Benachteiligung dieser Gruppe wurde im Bericht des von der Regierung eingesetzten Sachar Committee genau dokumentiert.7
Doch obwohl die regierende Kongresspartei stets auf die Stimmen der Muslime zählt, wurde kaum eine Empfehlung des Sachar Committee je umgesetzt. Der Report stellt unter anderem fest, dass Muslime nicht in gleichem Maße am indischen Wirtschaftswachstum partizipiert haben und in Bezug auf „die meisten Human-Development-Indikatoren stark im Rückstand sind“.
Arme Muslime sind ärmer als arme Hindus, ihre Armutsrate rückt sie in die Nähe der niedrigsten Kasten und Dalits. Drastisch sichtbar wird diese Armut an Orten wie dem muslimischen Slum Golibar im östlichen Santa-Cruz-Bezirk von Mumbai. Seine Bewohner wohnen in armseligen Hütten, deren obere Stockwerke von den engen Gassen aus nur über Leitern zu erreichen sind. Doch immerhin gibt es hier Mietervereinigungen, behelfsmäßige Krankenstationen, wo man sich (etwa gegen Typhus und Hepatitis B) impfen lassen kann, und sogar zwei improvisierte Verschläge, wo Englischunterricht angeboten wird („Getrennte Kurse für Frauen und Männer“). In Golibar sieht man die Leute wenigstens noch lächeln.
Etwas weiter in Mahim West ist die Armut noch unerbittlicher und die Lage der Jugend völlig trostlos. Diese muslimische Gegend gilt nicht als Slum, ist jedoch weit schmutziger als Golibar.
Laut Sachar-Report sind die Muslime in Indien nicht nur ärmer, sondern auch schlechter ausgebildet: 25 Prozent der 6- bis 14-Jährigen haben eine Schule entweder nie besucht oder vorzeitig abgebrochen. Die Alphabetisierungsrate liegt bei 59 Prozent (der nationale Durchschnitt dagegen bei 65 Prozent). An den Eliteuniversitäten sind nur 4 Prozent der Studierenden aus muslimischen Familien. Und der Anteil der muslimischen Beschäftigen im Staatsdienst beträgt lediglich 5 Prozent.
Die indischen Muslime waren traditionell Handwerker, aber viele handwerklichen Arbeiten sind durch Mechanisierung und Globalisierung überflüssig geworden. Wenn es Muslime an die Spitze der Gesellschaft geschafft haben, dann vor allem in Bereichen, die keine besondere Ausbildung erfordern, vor allem im Sport, in der Musik – oder in Bollywood. Die bekanntesten Beispiele sind etwa die aus einem kleinen Dorf stammende Tennisspielerin Sania Mirza oder der ehemalige Cricket-Nationalspieler Yusuf Pathan, dessen Vater ein Mullah ist. Aber auch eine erfolgreiche Karriere reicht oft nicht aus. So fand sich selbst die Starschauspielerin und Mietrechtsaktivistin Shabana Azmi diskriminiert, als man ihr den Erwerb eines Hauses in einer bestimmten Gegend von Mumbai verweigerte.
Es gibt aber auch Muslime, die sich kritisch über ihre eigene Religionsgemeinschaft äußern. Die Postministerin von Mumbai, Humera Ahmed, hält Muslime häufig „nicht nur in ihrer Religionsausübung, sondern in ihrer ganzen Lebensweise“ für ausgrenzend und weniger tolerant als Hindus. Aber sogar sie gibt zu, dass sich die Diskriminierung ihrer Community verschärft hat: „Obschon mein sozialer Status und die Weltoffenheit der Stadt es mir ermöglichen, außerhalb meiner Gemeinschaft zu leben, könnte ich heute nicht mehr in die Hindu-Wohngenossenschaft einziehen, in der ich seit 25 Jahren lebe.“
Die Journalistin Shoma Chaudhury, die in Delhi lebt und Hindu ist, beschreibt die Lage so: „Unsere unterschiedlichen Gemeinschaften haben immer in Ghettos gelebt. Im öffentlichen Leben galt die stillschweigende Vereinbarung, dass man miteinander Handel treibt, aber getrennt wohnt, sei es auch nur Haus an Haus. Aber selbst das ist jetzt gefährdet.“
Jamia Nagar ist das bekannteste muslimische Viertel von Delhi, bewohnt von Menschen aller Schichten. Es entstand aus einem Dorf, das nach der Gründung der berühmten Jamia-Millia-Universität in den 1930er-Jahren immer weiter expandierte. Neben den schönen Bungalows – großen Villen im Kolonialstil mit Gärten – und mittelständischen bewachten Wohnanlagen existiert ein Labyrinth von kleinen Straßen und Gassen. Hier leben die Armen und Ärmsten.
Obaid Siddiqui wohnte in Jamia Nagar, aber nachdem er eine fromme Sikh-Frau geheiratet und sie eine Tochter bekommen hatten, wurde das Leben dort schwieriger. Trotz der täglichen Pendelei von bis zu zwei Stunden bei nervenaufreibendem Verkehr und unerträglichen Abgasen zog die Familie in eine Satellitenstadt, wo keiner nach der Herkunft der Bewohner fragt und niemand erwartet, dass man sich anpasst. „Man hat einen Chauffeur, und ans Pendeln gewöhnt man sich“, sagen sie.
Zum Einkaufen fahren sie nach Vaishali in Ghaziabad, direkt hinter der Grenze in Uttar Pradesch, wo es Pizza Hut und McDonald’s gibt und zu Diwali (dem indischen Neujahrsfest) Blumengirlanden, Lichtermeer und Musik. Das diesjährige Diwali allerdings verlief ruhiger als in den Vorjahren, weil viele Leute wegen der Bombenanschläge zu Hause blieben. Der Wohnblock der Siddiquis hat eine gehobene Ausstattung, ist umzäunt und bewacht und verfügt über einen Pool und Fitnessräume. Nur zwei der 75 Familien sind muslimisch.
Wie kam es zu dieser beklagenswerten Entwicklung? In der Generation, die das Trauma der Teilung des Subkontinents 1947 und die Umsiedlung ganzer Landstriche miterlebt hat, sitzt der Hass immer noch tief.8 Schon in den 1920er-Jahren hatte mit dem Aufstieg der später verbotenen Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) die rechtsgerichtete Hindubewegung begonnen, ihre Idee einer Hindu Rashtra (Nation) zu propagieren und sich auf die glorreiche Vergangenheit zu berufen, die durch die muslimische Mogulherrschaft beendet wurde. Seit den 1980er-Jahren haben die BJP und ihre faschistoiden Bündnispartner diese Botschaft wieder aufgenommen und die muslimische Bevölkerung zum Feind erklärt und an den Rand gedrängt. Die Hindu-Diaspora in den Vereinigten Staaten und anderswo gibt dafür großzügige Spenden.
Shoma Chaudhury in Delhi meint: „Die Leute halten die Spaltung zwischen Hindus und Muslime für eine zivilisatorische Bruchlinie.“ Zwar sei es den Gründervätern Indiens, Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru, eine Zeit lang gelungen, diese Kluft durch ihre „hehre demokratische Rhetorik“ zu überbrücken, weshalb es in den drei oder vier Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit nur zu „kleinen Gewaltausbrüchen“ gekommen sei. (Das bekannteste und folgenreichste Beispiel ist die Ermordung Gandhis durch einen extremistischen Hindu am 30. Januar 1948.)
Doch dann habe im Lauf der 1980er-Jahre die Hindu-Rechte an Prestige und Einfluss gewonnen, und zwar genau in der Phase, als der Glanz der regierenden Kongresspartei zu verblassen begann: „Ein Einschnitt war 1992 die Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya: Das hat die Leute wirklich schockiert und führte zu Gewaltausbrüchen im ganzen Land.9 Zehn Jahre später kam es zu den Aufständen in Gujarat. Und die Lage in Kaschmir hat die Ängste vergrößert: Die BJP warf den Muslimen vor, mit Pakistan gemeinsame Sache zu machen. Und Indien stimmte da weitgehend ein.“
Schreine und Moscheen
Nach Einschätzung von Shoma Chaudhury hat sich die BJP-Rhetorik einer „weichen Hindutva“ (einer gemäßigteren Version der radikalen Botschaft des RSS) mittlerweile weitgehend durchgesetzt: „Es ist ihnen gelungen, ein Klima der Angst zu verbreiten. Und das Problem dabei sind die Hindus der Mittelschichten und der frei schwebenden Intelligenzia: Wir reden und reden – aber zur Wahl gehen wir nicht.“
Während die Armen in großer Zahl zu den Urnen strömen, verharren die vermögenden Inder in politischer Apathie. Die BJP versteht es, die Ängste der Leute zu schüren, und behauptet: Die Muslime verneigen sich beim Gebet in Richtung Mekka und genau so suchen sie auch politische Unterstützung im Ausland; außerdem setzen sie zu viele Kinder in die Welt, leben nach ihrem eigenen Familienrecht und bekommen ihre Pilgerfahrten nach Mekka bezahlt.
BJP-Berater Sudhandra Kulkarni bemüht sich redlich, seine Partei von „bestimmten Elementen der Hindu-Rechten“ abzugrenzen, die selbst im eigenen Lager Furcht und Schrecken einflößen, aber auch ihn lässt die Vergangenheit und das Mogulreich nicht los: „Wir müssen zwischen den muslimischen Herrschern in der Geschichte und den gewöhnlichen Muslimen unterscheiden, die fast alle aus Indien stammen.“ Damit will er sagen: Die indischen Muslime sind im Grunde Hindus, die sich unter dem Druck der Mogulinvasion im 16. Jahrhundert zum Islam bekehren ließen.10
In Wahrheit kam der Islam schon lange vor den Moguln nach Indien. Seit dem 7. Jahrhundert erreichten arabische Händler mit ihren Schiffen die Malabarküste in Kerala, wo sich der Islam mittels Handel und Einheiraten friedlich ausbreitete und dies vor allem in Gestalt der Sufi-Bewegung. Viele Pilgerorte haben gemeinsame Heilige und Schreine und sind ein Teil der reichen, synkretistischen Kultur Indiens, die bis in die Gegenwart überlebt hat.
In einem Sufi-Schrein in Mehrauli im Süden Delhis traf ich Dhasamuiv Verma. Seit 26 Jahren betet der relativ begüterte Hindu im Hazrat Khwaja Qutbuddin Bakhtiyar Dargah. Früher kam er täglich, inzwischen unternimmt er die einstündige Busfahrt nur noch drei- bis viermal in der Woche. Nach seiner Einschätzung sind viele der Armen, die sich an dem Schrein versammelten, „mehr oder weniger“ Muslime, bei manchen ist er sich jedoch nicht sicher.
Der Schrein beging gerade einen Feiertag, das makellos weiß getünchte Gebäude war von gelben Blumengirlanden umkränzt. Vor dem Schrein hockten Männer mit langen Sufi-Mützen und sangen, von Tabla und Dholak begleitet, hypnotische Gebetslieder, Qawalli genannt. Die Luft war erfüllt vom Duft der Räucherstäbchen. Die Armen von Mehrauli kommen hierher, um zu essen, erklärte mir der Mullah, als wir den Schrein verließen; dann schlichtete er einen Streit zwischen zwei Männern, die sich um den Lohn für die Bewachung der Besucherschuhe zankten.
Auch in Dharavi, Mumbais größtem Slum, leben Muslime und Hindus immer noch Wand an Wand. In den engen Gassen mit den offenen Abwasserrinnen, die zwischen den schlichten Hütten verlaufen, leben mehr als eine Million Menschen. Diese sich selbst überlassene „Stadt“ aus Gässchen und Werkstätten gehört den Menschen, egal welche Religion sie praktizieren; sie wohnen und arbeiten zusammen in den kleinen Handwerksbetrieben, weshalb sie voneinander abhängig sind.
Ebenso leben in Kerala, im Hinterland der Hafenstadt Kochi Muslime und Hindus in friedlicher Nachbarschaft: ländliche Familien, deren Häuser ihre Religionszugehörigkeit anzeigen, durch Wandgemälde von Hindu-Gottheiten oder durch einen Halbmond mit Stern. Hindus und Muslime besuchen sich in ihren Häusern und passen gegenseitig auf die Kinder auf. Auch Christen wohnen hier, unter anderem in einer der schönen Villen, die inmitten winziger Häuser stehen. Jede Familie hat hier einen eigenen Garten, in dem Gewürze wie Zimt, Muskatblüten oder Piment für den Hausgebrauch wachsen, oder sogar Kaffee, Tapioka, Zitronen und Reis. Die Männer arbeiten in der Stadt, am Abend, wenn die Sonne hinter den Kokospalmen untergeht, kehren sie auf ihren Motorrädern in die Dörfer zurück. Selbst die kleinsten Behausungen, deren Mauern aus Betonsteinen und Wellblech bestehen, haben Strom und fließendes Wasser sowie ein Ziegeldach wegen der Regengüsse.
Angst vor den Gotteskriegern
Kerala lebt stark von Geld, das Migranten aus den Golfstaaten überweisen, aber auch vom Tourismus. Eine Besonderheit dieser Provinz sind auch die hohe Alphabetisierungsrate und die progressive, von Kommunisten dominierte Regierung. Und im Gegensatz zu anderen Teilen Indiens gibt es hier eine begüterte muslimische Mittelschicht. Die Muslime machen fast 25 Prozent von Keralas Bevölkerung aus.
Calicut (Kozhikode), die drittgrößte Stadt mit einer knappen halben Million Einwohner und dem höchsten muslimischen Bevölkerungsanteil, hat eine supermoderne Shoppingmall, wunderbare Moscheen, drei muslimische Zeitungen und vorbildliche Bildungsinstitutionen. Es gibt zwei muslimische politische Parteien – die Muslim League und die eher linksgerichtete Indian National League, die an der kommunistisch geführten Regierung beteiligt ist.
„Fast die Hälfte der Gebäude in Calicut gehört Muslimen“, erläuterte der Geschäftsmann E. O. Mirshad, „zwei Hotels, die Shoppingmall, und dabei wird es nicht bleiben.“ Die fast einhundert Moscheen sind alle mit Geld aus der Golfregion finanziert: „Die Araber haben keine Armen, denen sie ihre Armensteuer (Zakat) geben könnten, also bauen sie hier Moscheen.“
Könnten dieser glückliche Zustand künftig gefährdet sein? Auch in Calicut erlebte ich einen der prohinduistischen „Safran“-Märsche, die Angst vor „den Muslimen“ verbreiten sollen. Sogar M. T. Kapur, ein christlicher Taxifahrer, der stets die Kongresspartei wählt, glaubt inzwischen an eine muslimische Gefahr: „Sie versuchen Hindus zu bekehren und rekrutieren kriminelle Elemente und machen sie zu Gotteskriegern.“ Auch in Kerala geht erstmals die Sorge um, dass Muslime gewalttätig werden könnten. Deshalb veröffentlichten die örtlichen islamischen Organisationen im November ein Communiqué, das den Terrorismus verurteilt.
Wie werden sich die Muslime bei den kommenden Bundeswahlen verhalten? Sollen sie, nachdem die Kongresspartei nichts für sie getan hat, stärker auf Bündnisse mit Regionalparteien setzen?
Regionalparteien gibt es in Kerala, in Kaschmir und auch in Andhra Pradesch, wo eine winzige Regionalpartei an der Spitze der Regierung steht und die Muslime 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen. In Uttar Pradesch haben sich die Muslime bereits mit der Dalit-Partei BSP verbündet.
Doch Indien ist groß. In einem Dorf in Bihar erzählte mir der fromme Muslim Anwar Hussain, er werde für die Hindupartei BJP stimmen: „Warum auch nicht? Letztlich geht es doch darum, wer dem Dorf Gutes bringt und Straßen baut.“
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Wendy Kristianasen betreut die englische Ausgabe von Le Monde diplomatique in London.