Der Rückzug vom Rückzug
Die US-Truppen sollen den Irak verlassen, das Pentagon macht nicht mit von Gareth Porter
Gleich nach Barack Obamas eindrucksvollem Wahlsieg vom 4. November stand der künftige Präsident vor einem gewaltigen Berg von Problemen. Eines der wichtigsten betraf die Frage, ob er sein Wahlkampfversprechen, die im Irak stationierten US-Truppen binnen 16 Monaten abzuziehen, einhalten kann. Das Schicksal dieses Rückzugsplans galt zu Recht als Indikator für Obamas allgemeine außenpolitische Orientierung und seine persönliche Handschrift in der Außen- und Sicherheitspolitik.1
Dieses Thema hat zu ernsten Konflikten zwischen dem neuen Präsidenten und der Führung der US-Streitkräfte geführt, die bekanntlich gegen einen schnellen Rückzug ist. Dabei geht es um die grundsätzliche Alternative strategischer Rückzug aus dem Irak oder Verlängerung der US-Militärpräsenz über das Jahr 2011 hinaus.
Mit dem Plan, die US-Truppen in den ersten 16 Monaten seiner Amtszeit zurückzuholen, wollte Obama keineswegs nur die Antikriegsaktivisten in seiner Demokratischen Partei besänftigen. Vielmehr war er Ergebnis einer durchdachten Analyse. Am deutlichsten hat er sein strategisches Kalkül in einer Rede am 15. Juli 2008 dargelegt. Damals erklärte er, das militärische Engagement im Irak lenke von anderen Bedrohungen ab, denen die USA ausgesetzt seien. Zudem halte es Washington davon ab, Chancen zu nutzen, die sich in anderen Regionen böten. Der Irakkrieg gehe somit zulasten „unserer Sicherheit, unseres Ansehens in der Welt, unseres Militärs, unserer Wirtschaft und der Ressourcen, die wir brauchen, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen zu sein.“
Schon einen Tag zuvor hatte Obama in einem Beitrag für die New York Times von möglichen „taktischen Korrekturen“ an seinem Plan gesprochen und versichert, er werde sich „mit den Kommandeuren vor Ort und der irakischen Regierung beraten, um sicherzustellen, dass unsere Truppen gefahrlos verlegt werden können“.2 Zwei Tage später erklärte er auf einer Pressekonferenz, dieser Vorbehalt berühre nicht die vorgesehene 16-Monate-Frist, sondern nur das Rückzugstempo in bestimmten Monaten. Auf keinen Fall werde er seinen Zeitplan korrigieren, um ihn den Empfehlungen des US-Befehlshabers im Irak anzupassen. Obama erklärte wörtlich: „Es ist die Aufgabe des Präsidenten, den Generälen zu sagen, was ihr Auftrag ist.“
Am 21. Juli traf Obama dann in Bagdad mit General David Petraeus zusammen. Wie Joe Klein Monate später im Time Magazine berichtete, sprach sich der Oberkommandierende der US-Truppen im Irak dabei für einen „an bestimmte Bedingungen gebundenen“ Rückzug aus. Obama wies dies jedoch zurück und betonte, er werde die Rückzugsentscheidung auf der Basis seiner eigenen Einschätzung der Kosten einer weiteren US-Präsenz treffen.3
An einer Stelle jedoch war Obama nicht ganz eindeutig in seinen Formulierungen: Im Irak sollte eine „residual force“ (Resttruppe) stationiert bleiben, die „begrenzte Aufgaben“ zu erfüllen habe. Diese beträfen laut Obama nicht nur die Ausbildung von irakischen Sicherheitskräften, sondern auch „die Verfolgung von verbliebenen Al-Qaida-Kämpfern in Mesopotamien“. Allerdings hatte er zuvor schon klargemacht, dass die auf al-Qaida angesetzten US-Einheiten ihre Basis gar nicht im Irak haben sollen.
All diese Äußerungen hat Obama im Juli 2008 gemacht. Damals ging er wie alle Politiker in Washington davon aus, dass das kurz SOFA (Status of Forces Agreement) genannte Truppenstationierungsabkommen, das in Bagdad mit der irakischen Regierung ausgehandelt wurde, eine langfristige Militärpräsenz der USA ermöglichen würde.4 Noch Mitte August hatte die Bush-Regierung behauptet, die Fristen für den Abzug seien lediglich „Zielvorgaben“, also von diversen besonderen „Umständen“ abhängig. Doch dann geschah das Unerwartete: Der irakische Ministerpräsident Nuri al-Maliki zwang die US-Regierung, nicht nur den Rückzug ihrer Kampftruppen, sondern auch all ihrer nichtkämpfenden Einheiten bis Ende 2011 zuzusagen. Außerdem forderte er, die US-Einheiten müssten bis Juni 2009 aus den irakischen Städten abgezogen und in Militärbasen konzentriert werden, deren Standorte im Einvernehmen mit Bagdad zu bestimmen seien.
Die Endfassung des SOFA, das die Bush-Regierung am 6. November akzeptierte5 , verpflichtet Washington, einen genauen Zeitplan für den vollständigen Rückzug vorzulegen und darüber hinaus „Mechanismen und Regelungen“ zu erarbeiten, die eine Truppenreduzierung innerhalb der vereinbarten Fristen gewährleisten sollen.
Die noch verbleibenden US-Truppen dürfen ohne Zustimmung der irakischen Regierung und ohne Abstimmung mit Bagdad nicht operieren, und irakische Bürger dürfen nur auf eine Anordnung eines irakischen Gerichts festgenommen werden. Zudem enthält das Abkommen ein striktes Verbot, das Territorium oder den Luftraum des Irak für „Angriffe gegen andere Länder“ zu nutzen.
Damit entsprach Obamas 16-Monate-Plan weitgehend der Linie, die das SOFA vorzeichnete. Aber die US-Militärführung hatte sich damit noch längst nicht abgefunden. Vielmehr zeigte sich schnell, dass im Pentagon Pläne erarbeitet wurden, die das SOFA aus den Angeln heben sollten.
Nur wenn die Bedingungen es zulassen
Nur drei Tage nach dem 4. November erklärte der Kommandeur der US-Truppen im Irak, General Raymond Odierno, laut Time Magazine, der Rückzug seiner Truppen müsse „auf langsame, überlegte Weise erfolgen, damit wir das Erreichte nicht wieder verlieren“.5
Wieder drei Tage später berichtete die Washington Post, dass Bushs Generalstabschef Admiral Michael Mullen die Fristen von Obamas Rückzugsplan als „gefährlich“ ablehne und ebenso wie das Militär darauf beharre, dass die schrittweise Reduzierung der Truppen „von den Umständen vor Ort abhängig gemacht werden müsse“.6 Unter Berufung auf Verteidigungsexperten berichtete die Zeitung, ein Konflikt zwischen Obama und der Militärführung werde „unvermeidlich“ sein, falls Obama auf dem Abzugstempo von „zwei Brigaden pro Monat“ bestehen würde, wie er es auf seiner Website auch noch nach den Wahlen versichert hatte.
Am 16. November erklärte Mullen öffentlich, er werde Obama raten, Tempo und Umfang des Rückzugs von den Entwicklungen vor Ort abhängig zu machen – eine offene Herausforderung an den designierten Präsidenten und seine Irakpolitik. Am 18. November erläuterten nicht namentlich genannte Pentagon-Vertreter gegenüber der Washington Post, dass der im SOFA festgelegte Zeitrahmen ausreiche, um alle 150 000 US-Soldaten mitsamt Ausrüstung aus dem Irak abzuziehen. Dies dürfe aber nur dann tatsächlich geschehen, „wenn die Bedingungen vor Ort es auch zulassen“. Damit gab das Pentagon im Grunde kund, dass es sich nicht an die Abzugsfristen gebunden fühlt, auf die sich die USA mit dem SOFA kurz zuvor verpflichtet hatten.
Rasch wurde auch klar, dass dieses Insistieren auf einem „von den Bedingungen abhängigen“ Rückzug zu einem umfassenderen Plan gehört, mit dem die Bush-Administration und das US-Militär wichtige Bestimmungen des SOFA umgehen wollen. Laut Zeitungsberichten vom 25. November7 habe man sich in der Regierung insgeheim auf „Interpretationen“ verständigt, die sich auf zwei Punkte des Abkommens beziehen: auf das Verbot über die Nutzung von Militärbasen im Irak für Angriffe auf andere Länder und auf das Erfordernis, die irakische Regierung im Voraus über die Operationen von US-Einheiten zu informieren. Diese beiden Einschränkungen wolle man umgehen: Zum einen werde man sich im Falle eines Angriffs auf Ziele in Syrien oder Iran auf das „Recht zur Selbstverteidigung“ berufen. Zum anderen seien irakische Stellen nur insoweit über militärische US-Aktivitäten zu informieren, als ihnen die betroffene Provinz und der Monat der geplanten Operation mitgeteilt werden solle.
Diese „Interpretationen“ hatte die Bush-Regierung den Irakern freilich vorenthalten. Und Bagdad hätte sie auch bestimmt mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen. Denn die Formulierungen des SOFA lassen gar keinen Spielraum für irgendwelche Interpretationen: Über US-Militäroperationen muss die irakische Seite nicht nur informiert werden, sie muss ihnen auch zustimmen. Die „vollständige Koordination mit den irakischen Stellen“ ist ebenso unmissverständlich formuliert wie das unbedingte Verbot von Angriffen auf andere Länder.
Noch gravierender ist ein weiterer Trick, den man sich hat einfallen lassen, um das SOFA zu unterlaufen. Laut New York Times vom 4. Dezember 2008 schlugen die Planer im Pentagon vor, einigen US-Einheiten ein neues Etikett zu verpassen, „so dass man Truppen, die aktuell zu den Kampfeinheiten zählen, eine andere Aufgabe zuschreibt, etwa die Ausbildung und Unterstützung der Iraker“. Der Bericht bringt dies allen Ernstes als eine Möglichkeit vor, mit der Obamas Ziel zumindest teilweise erreicht werden könnte. In Wirklichkeit ist das genaue Gegenteil der Fall, denn die Pentagon-Planer wollen bis zu 70 000 US-Soldaten noch „für einen längeren Zeitraum und sogar über 2011 hinaus“ im Irak stationiert lassen.8
Die Macht der Bürokraten
Obama bekommt es also mit einer Pentagon-Bürokratie zu tun, die mit großer Entschlossenheit eine seiner eigenen Politik sowie den Absichten der irakischen Regierung zuwiderlaufende Strategie verfolgt. Auch der starke Druck auf Obama, den bisherigen Verteidigungsminister Robert M. Gates an der Spitze des Pentagon zu belassen, ist im Licht dieser Konfrontation zu sehen.
Dieser Druck setzte bereits 24 Stunden nach Obamas Wahlsieg ein. In der New York Times vom 5. November war nachzulesen, dass sich sowohl Journalisten und Kommentatoren als auch führende Kongressmitglieder aus Obamas eigener Partei verstärkt für den Verbleib von Gates im Amt starkgemacht hätten. Der öffentlichen Begründung zufolge komme es, solange die USA in zwei Kriegen kämpfen, vor allem auf die Kontinuität und Stabilität im Pentagon an. Wie aus einer Obamas Übergangsteam nahestehenden Quelle verlautete, war jedoch ein rein parteipolitisches Kalkül im Spiel: Die Demokraten seien wieder einmal beunruhigt, dass sie in Sachen nationaler Sicherheit als unzuverlässig gelten könnten – und zögen es deshalb vor, dass der Republikaner Gates für die Irakpolitik zuständig ist, um sich möglichst nicht angreifbar zu machen.
Was die Berufung von Gates für Obamas Politik bedeutet, ist allerdings sonnenklar. Schließlich ist bekannt, dass auch Gates Obamas Rückzugsplan ablehnt. Zudem muss er in die Pentagon-Strategie eingebunden gewesen sein, die auf die Revision des SOFA und auf eine unbegrenzte Verlängerung der US-Militärpräsenz im Irak zielt. Und angesichts der Tragweite dieses Plans und der Machtfülle des US-Verteidigungsministers ist es sogar wahrscheinlich, dass Gates bei seiner Ausarbeitung eine zentrale Rolle gespielt hat.
Welche Erklärungen auch immer Obama abgeben mag, die Berufung von Robert Gates signalisiert, dass die Kontrolle über die Irakpolitik vom Weißen Haus auf die Bürokraten des Pentagon übergegangen ist. Selbst wenn Obama das Vorgehen seines Verteidigungsministers im Irak missbilligen sollte, kann er ihm, nachdem Gates als Integrationsfigur und Vorzeige-Republikaner berufen hat, nur schwerlich mit Entlassung drohen. Und das Pentagon dürfte – nach allem, was inzwischen ans Licht gekommen ist – auch unter Obama mit allen Mitteln versuchen, nicht nur das SOFA, sondern auch die Regierung in Bagdad zu unterminieren, um eine langfristige Präsenz des US-Militärs sicherzustellen.
Es lohnt sich, Schritt für Schritt noch einmal nachzuerzählen, wie Obama die Kontrolle über seine Irakpolitik entgleiten konnte. Denn diese Geschichte illustriert, wie die Macht funktioniert, zumal wenn eine militärische Führungsspitze und ihre nichtmilitärischen Verbündeten mit großer Einigkeit und Entschlossenheit ihre Interessen durchsetzen wollen.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Gareth Porter ist Journalist und Historiker; zuletzt erschien von ihm: „Perils of Dominance: Imbalance of Power and the Road to War in Vietnam“, Berkeley (University of California Press) 2005.