Scharons Palästina
ISRAELS Ministerpräsident Ariel Scharon hat am Ende des Irakkriegs unter dem Druck Washingtons der Gründung eines palästinensischen Staates grundsätzlich zugestimmt. Doch welche Art Palästinenserstaat Scharon vor Augen hat, offenbart wohl am besten der Verlauf der geplanten, zum Teil auch schon gebauten Mauer, deren Errichtung Scharon in den letzten Monaten vorangetrieben hat. US-Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice hat am 29. Juni bei ihrem Israelbesuch erneut die Erstellung der Trennmauer kritisiert. Sie sieht darin einen Versuch, bereits vor einer endgültigen Friedensregelung irreversible Fakten zu schaffen. Für den „Friedensplan“ sind das schlechte Voraussetzungen. Von GADI ALGAZI *
Im April 2002 begann Israel mit dem Bau der Mauer, doch trotz der palästinensischen Proteste weckte der Vorgang in der internationalen Öffentlichkeit wenig Aufmerksamkeit.(1) Die Idee zu diesem Schutzwall stammte aus den Reihen der Arbeitspartei, die damit zukünftige Angriffe gegen israelische Zivilisten diesseits der Waffenstillstandslinie von 1967 (auch „grüne Linie“ genannt) zu verhindern hoffte; die nationale Rechte schien das Projekt abzulehnen, weil sie befürchtete, damit sei die künftige Grenze zwischen Israel und Palästina schon abgesteckt.
Nur wenige sahen damals den Unterschied zwischen einer befestigten Grenze, die den friedlichen Austausch zwischen zwei unabhängigen territorialen Einheiten regelt, und einer Art Einzäunung, mit der ein Gebiet abgeriegelt wird, damit auf diesem eine Besatzungsmacht völlig freie Hand erhält. Der Gaza-Streifen ist schon seit den 1990er-Jahren von einer Grenzmauer umgeben, und dennoch hat die israelische Armee dort militärische Operationen durchgeführt und das Gebiet in kleine Enklaven aufgeteilt.(2)
Dass es im Westjordanland nicht um einen einfachen Grenzstreifen geht, machen schon die Ausmaße des Bauvorhabens deutlich. An vielen Orten wird die Mauer mindestens 60 bis 70 Meter breit sein: Zunächst kommt ein Graben und ein Stacheldrahtzaun, dahinter liegt die eigentliche Mauer, acht Meter hoch und mit einem elektronischen Überwachungssystem ausgerüstet; hinter der Mauer liegen ein Fußweg, eine asphaltierte Straße und abermals Stacheldraht. Das gesamte Territorium zwischen der Mauer und der „grünen Linie“ wird militärisches Sperrgebiet sein; auf palästinensischer Seite sind weitere Sperrzonen geplant, die nur über israelische Checkpoints zu erreichen sind.
Das Ganze ist ein gewaltiges Projekt. Allein der westliche Abschnitt des Bauwerks wird 1,2 Milliarden Euro kosten. Am Nordabschnitt sollen 150 von insgesamt 650 Kilometern bis Juli 2003 fertig werden. Dabei sollen täglich 500 Planierraupen im Einsatz sein.(3)
Die Mehrheit der Israelis glaubt, die Grenzbefestigung verlaufe auf der Waffenstillstandslinie. Tatsächlich aber liegt sie sechs bis sieben Kilometer weiter östlich – also auf dem Territorium des Westjordanlands. Laut Kabinettsbeschluss vom Juni 2002 sollten der Ministerpräsident und der Verteidigungsminister gemeinsam den genauen Verlauf festlegen, doch faktisch lag diese Entscheidung dann bei den Siedlern und der Armee.
Nach israelischen und palästinensischen Studien sind bereits etwa 210 000 Palästinenser durch den Mauerbau geschädigt.(4) Nach palästinensischen Schätzungen wurden bis Februar 2003 über 80 000 Ölbäume entfernt.(5) Daraus hat sich ein lukrativer Handel entwickelt; heute stehen die Bäume oft in den Gärten neureicher Israelis.(6) Rund 30 000 Bauern, deren Land auf palästinensischer Seite an die Mauer grenzt, haben ihre Lebensgrundlage verloren. Denn von den 26 Übergängen, die ihnen von israelischer Seite versprochen wurden, existiert noch keiner.
Mit dem Versprechen, nach dem Mauerbau könnten die Bauern ihr Land dennoch weiter bestellen, soll ihnen die Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht schmackhaft gemacht werden. Doch es kann durchaus sein, dass die Enteignungen endgültigen Charakter haben: Viele der Grundstücke sind nach dem (in Israel immer noch geltenden) osmanischen Recht so genannte miri; sie waren den Bauern vom Sultan überlassen worden und fielen rechtmäßig an diesen zurück, sobald sie drei Jahre hintereinander nicht bewirtschaftet wurden. Rechtsnachfolger des Sultans ist der israelische Staat. Unter Berufung auf diese Gesetze wurde bereits der größte Teil der Fläche, auf dem jüdische Siedlungen errichtet wurden, zum Staatsland erklärt.
Wie viel zusätzliches Territorium die Israelis durch den Bau der Einzäunung am Ende gewinnen werden, ist schwer zu sagen. In der ersten Ausbaustufe sind es an die 3 Prozent des Westjordanlands – am Ende dürften es wohl mehr sein. Zudem ist die Bedeutung der betroffenen Gebiete für die palästinensische Wirtschaft ganz enorm, denn ausgerechnet im Umland von Tulkarem, Kalkilia und Dschenin liegen die fruchtbarsten Böden im gesamten westlichen Jordantal; hier konzentrieren sich 40 Prozent des palästinensischen Ackerlands und zwei Drittel der Bewässerungsbrunnen, wobei allerdings 28 dieser Brunnen für die Palästinenser bereits jenseits der Mauer liegen. Es sind also nicht nur einzelne Gemeinden von der Operation betroffen, sondern die gesamte ökonomische Infrastruktur der Palästinenser.
Doch mittlerweise wird deutlich, dass es um mehr geht als um Enteignungen und Annexionen. Seit Anfang 2003 ist den palästinensischen und israelischen NGOs klar, dass die Mauer Teil eines umfassenderen Vorhabens ist. Die „Apartheids-Mauer“, wie ihre Gegner sie bezeichnen, ist Teil eines umfassenden Sicherheitssystems aus Mauern und Enklaven, die das ganze Westjordanland überziehen und einschnüren sollen. Die Einzelheiten sind noch nicht öffentlich, aber die abgedruckte Karte, die auf sorgfältigen Recherchen des israelischen Journalisten Meron Rapoport basiert, gibt ein ziemlich genaues Bild, das vier auffällige Aspekte aufweist.
Am bekanntesten ist die westliche Trennmauer. Sie wird zur Zeit südlich von Kalkidia in östlicher Richtung weitergebaut, um mehrere große israelische Siedlungen (insbesondere Ariel und Emmanuel) an Israel anzuschließen, sodass die Mauer insgesamt bis zu dreißig Kilometer ins Westjordanland hineinreicht. In Jerusalem und Umgebung sind eine Reihe weiterer Mauern in Bau, die einen Teil Bethlehems annektieren und zahlreiche palästinensische Vororte abriegeln. Einige arabische Stadtviertel sind auf diese Weise bereits vollständig vom Westjordanland beziehungsweise von Ostjerusalem abgeschnitten, manche dürften am Ende zu isolierten Enklaven werden.(7) Eine dritte Maueranlage soll im Osten des Westjordanlandes, aber noch in deutlichem Abstand vom Jordantal entstehen. Nach den ersten Grundstücksenteignungen ahnt man bereits, dass längerfristig ein östlicher Streifen entlang dem Jordantal annektiert werden soll.
Der vierte Aspekt ist die offensichtliche Absicht, immer mehr palästinensische Enklaven zu schaffen. Einige sind schon eingemauert. So leben in Kalkilia bereits rund 4 000 Menschen in einem von Stacheldraht umzäunten Areal – mit dem Westjordanland nur durch einen einzigen israelischen Übergang verbunden. Zahlreiche Dörfer in dieser Region sind schon ähnlich abgeriegelt. Die zweite große Enklave (74 000 Einwohner) umfasst Tulkarem und die angrenzenden Gemeinden, weitere Abriegelungen sind im Norden (bei Ruman, 8 000 Einwohner) und im Süden (bei Kivja und Rantis, Beit Liqia und Jericho) geplant – auch der palästinensische Teil von Hebron soll betroffen sein.
Kein geschlossenes Territorium
NIMMT man alle diese Aspekte zusammen, so wird eines deutlich: Der Bau der Mauern ist Teil einer umfassenden politischen Strategie. Verschiedene Protagonisten der politischen Rechten haben sich jüngst in diesem Sinne geäußert: Professor Arnon Sofer, Bevölkerungswissenschaftler an der Universität Haifa, oder auch Ron Nahman, Bürgermeister der Siedlung Ariel. Diese Strategie zielt darauf, das Westjordanland in einen Flickenteppich aus isolierten Gebieten zu verwandeln, in Homelands, die niemand ohne israelische Erlaubnis betreten oder verlassen darf. Ein Palästinenserstaat, wenn er denn eines Tages Wirklichkeit würde, wird über kein geschlossenes Territorium verfügen.
Was die Gebietsverteilung angeht, entspricht das Vorhaben einer unilateralen Umsetzung der Lösung, die der israelische Ministerpräsident den Palästinensern angeboten hat. Danach stünden ihnen lediglich 40 Prozent des Westjordanlands zu, aber dies – und das ist das Neue daran – nicht etwa als vorläufige, sondern als endgültige Regelung. Ein so grundlegend bedeutendes Projekt wie die Errichtung von Sicherheitsanlagen und die Schaffung von Enklaven gab es zuvor nur 1978, als die Regierung unter Menachem Begin den Ausbau der Siedlungen im Westjordanland vorantrieb. Verantwortlich für die Durchführung war Ariel Scharon.
Das neue Vorhaben ist also gar nicht so neu. Und auch heute wird in ihm die klare politische Vorstellung des Ministerpräsidenten deutlich, der statt auf Worte und Symbole stets aufs Handeln gesetzt hat. Als ehemaliger Landwirt glaubt Scharon, dass der Kampf um den Boden entscheidend ist. Für ihn zählen nur Bevölkerungszahlen, Landbesitz und Wasser. Die Fakten, die er jetzt zu schaffen versucht, könnten sich als irreversibel erweisen, denn die Mauer bedeutet einen tiefen Eingriff in die Landwirtschaft: Den palästinensischen Bauern den Zugang zu ihren Feldern und Brunnen abzuschneiden und die Bindung an ihr Land zu zerstören wird die ökonomischen Strukturen dauerhaft verändern. Sollte das Projekt in seinem ganzen Umfang verwirklicht werden, dann wird es keinen lebensfähigen Palästinenserstaat geben. Genau dies hatte Scharon schon immer im Sinn: 1977 als Siedlungsminister, 1998, als er den Plan zum Mauerbau propagierte, und Anfang 2003, als er das Projekt im Wahlkampf wiederauferstehen ließ.
Seta, eine kleine Ortschaft mit 2 800 Einwohnern, liegt südlich von Baqa al-Scharkija. Am westlichen Ortsrand enden alle Wege an einem gewaltigen Graben. In der Ferne hört man Planierraupen. Noch führt ein Pfad über die Mauerbaustelle zum Haus von M. und seiner Familie. Wie gut 10 000 weitere Palästinenser hat M. das Pech, auf dem Territorium zwischen der Mauer und der „grünen Linie“ zu wohnen. Inzwischen muss die Familie, um ins Dorf oder in den Nachbarort zu gelangen, die Mauer passieren, die auch Wasser- und Stromleitung durchtrennt. Die Kinder leben in Seta bei den Großeltern, damit sie weiter zur Schule gehen können. Niemand weiß, wie lange es die Eltern in diesem Niemandsland noch aushalten. Manchmal feuern die israelischen Soldaten nachts aus ihren Maschinenpistolen und brüllen: „Verschwindet endlich!“
Der Fall zeigt exemplarisch, was auf die Palästinenser zukommt: Sie werden zu Gefangenen im eigenen Land, leben in von Stacheldraht umzäunten Enklaven, bei jedem Schritt von der Willkür der Besatzungstruppen abhängig. Selbst für kurze Wege werden sie Passierscheine brauchen. Man kann das als eine israelische Apartheid betrachten – hat sich Scharon nicht schon in der Vergangenheit für eine Homeland-Lösung eingesetzt?(8) Nur gibt es zwischen Israel und Südafrika eine entscheidende Differenz: Da Israel seit der Abriegelung der besetzten Gebiete immer mehr nichtjüdische Arbeitsimmigranten ins Land geholt hat, ist die Wirtschaft auf die billigen Arbeitskräfte aus Palästina nicht mehr angewiesen.
Damit teilen die Palästinenser das Schicksal von Millionen Menschen in aller Welt, die im Zuge der Globalisierung ausgemustert werden: Es lohnt sich nicht einmal mehr, sie auszubeuten. Sie sind überflüssig. Sie können gern gehen. So gesehen wäre die Mauer ein Mittel, das die palästinensische Umsiedlung beschleunigt. Natürlich ist die Lage noch nicht so dramatisch, dass alle ihr Heil in der Flucht suchten. Es ist eine schleichende Entwicklung, bei der die palästinensische Gesellschaft mit den Menschen auch die Hoffnung auf einen eigenen Staat verliert.(9)
Bislang gab es gegen den Bau der Mauer noch keinen ernsthaften Widerstand. Die Palästinensische Autonomiebehörde hat es nicht geschafft, das Projekt in der internationalen Öffentlichkeit zu thematisieren. Bei der alltäglichen Unterdrückung und der politischen wie territorialen Zersplitterung gelingt es auch den Aktivisten vor Ort nicht, die Bauern zu mehr als nur lokalen Protestaktionen zu bewegen.
Beim Gipfeltreffen in Akaba, Mitte Juni 2003, haben die USA und Großbritannien die Israelis aufgefordert, den Bau der Mauer einzustellen, weil die neue Linienführung nicht akzeptabel sei. Die Entscheidung Scharons, dieses Ansinnen zurückzuweisen, war offenbar auch in der israelischen Regierung umstritten.(10) Dennoch sind die ersten 150 Kilometer des Bauwerks fertig, ohne dass es zu internationalen Protesten kam – mit stiller Duldung der USA, wie manche Quellen besagen.
Kann dieses israelische Jahrhundertprojekt überhaupt durch politischen Druck aus den USA gestoppt werden? Die Palästinenser zumindest müssten Massenproteste organisieren, um deutlich zu machen, dass diese Mauer politisch unerträglich und nicht durchsetzbar ist. Dann wird sich schon zeigen, wie viel Rückhalt ihr Widerstand im Ausland findet und ob die israelische Öffentlichkeit begreift, dass diese Mauer eine Bedrohung für die Zukunft beider Völker darstellt.
Mauern haben in der Geschichte dieses blutigen Konflikts stets eine wichtige Rolle gespielt. Schon Theodor Herzl sah den Judenstaat als „Wall gegen Asien“, David Ben Gurion wollte eine Menschenmauer an den Grenzen Israels schaffen, und Zeev Jabotinsky hatte die Vision einer „eisernen Mauer“ zur Abwehr der Araber. Es wäre nicht das erste Mal, dass Ängste benutzt werden, um eine kurzfristige Sicherheitspolitik zu rechtfertigen, die langfristig neue Gefahren heraufbeschwört. Es wäre auch nicht das erste Mal, dass die Israelis der Illusion aufsitzen, ein Leben hinter Stacheldrahtzäunen sei ein Leben in Sicherheit. Die Mauern, hinter denen sie sich verschanzen, machen ihre Nachbarn, die Palästinenser, zu Gefangenen. Zu Menschen, die im Ghetto leben.
deutsch von Edgar Peinelt
* Professor für Geschichte an der Universität von Tel Aviv, führendes Mitglied der jüdisch-arabischen Organisation „Ta’ajusch“ („Koexistenz“).
Fußnoten: 1 Siehe Matthew Brubacher, „Mauern gegen den Frieden“, Le Monde diplomatique, November 2002, und Amira Hass, „Kleine Vertreibungen und großer Transfer“, Le Monde diplomatique, Februar 2003.
2 Das Vorhaben im Westjordanland wird von Netzach Maschiach geleitet, der bereits für den Bau eines Walls um den Gaza-Streifen verantwortlich war.
3 Siehe dazu Meron Rapoport, „A Wall in the Heart“, Yedioth Ahronot (Tel Aviv), 23. Mai 2003.
4 Siehe Yehezkel Lein, „Behind the Barrier“, Betselem, April 2003; (www.btselem.org/Download/2003_Behind_The_Barrier_Eng.doc).
5 Palestinian Agriculture Rescue Committee (Parc), „Needs Assessment Study and Proposed Intervention for Villages affected by the Wall in the Districts of Jenin, Tulkarem and Qalqilia“ (Februar 2003); Arnon Regula, „The World Bank: The Separation Fence Will Hurt Palestinians Immensely“, Ha’aretz (Tel Aviv), 18. Mai 2003.
6 Meron Rapoport und Oren Meiri, „Uprooted“, Yedioth Ahronot, 22. November 2002 (http://friendvill010203.homestead.com/11Uprooted131102.html).
7 Siehe Neve Gordon, „Can bad fences make good neighbours?“, The Guardian (London), 29. Mai 2003.
8 Siehe Akiva Eldar, „Sharon’s Vision of the Bantustans“, Ha’aretz, 13. Mai 2003.
9 Gadi Algasi und Asmi Bdeir, „Transfer’s Real Nightmare“, Ha’aretz, 15. November 2002.
10 Ma’ariv, 13. Juni 2003, Ha’aretz, 16. Juni 2003.