Scharfe Kritik und wenig Zeit
JE länger die amerikanische Besatzung im Irak dauert, umso stärker drängen sich die Parallelen zum Vietnamkrieg auf. Auch deshalb hat das offenbare Scheitern – tägliche Bombenattentate auf Zivilisten, Soldaten und Politiker in den Straßen Bagdads – seit den Enthüllungen über Abu Ghraib eine innenpolitische Dimension bekommen. Aber nicht nur die Kritik wird immer lauter, manche finden auch den Mut zur Selbstkritik. Die Herausgeber der „New York Times“ entschuldigten sich am 25. Mai bei ihren eigenen Lesern für ihre fehlerhafte, hauptsächlich auf Regierungsquellen basierende Berichterstattung über das Thema Irak und gelobten Besserung. Was man von der Regierung Bush nicht sagen kann.
Von PHILIP S. GOLUB *
Im August 1964 stürzte sich Washington in einen sinnlosen Krieg mit verheerenden Folgen, der Zehntausende von Amerikanern und Millionen Vietnamesen das Leben kostete. Dabei war der Vietnamkrieg eher durch die Furcht motiviert, an Glaubwürdigkeit zu verlieren, als durch die Angst der Vereinigten Staaten vor einer „kommunistischen Ansteckungsgefahr“ in Ostasien, dem Dominoeffekt.
Der Krieg dauerte fast zehn Jahre und spaltete die amerikanische Gesellschaft. Zwar wussten vorausschauende Leute in der US-Administration schon 1967, dass der Krieg verloren war. Doch Richard Nixon, der sein Amt 1968 antrat, war wie sein Vorgänger Lyndon B. Johnson entschlossen, nicht „der erste amerikanische Präsident zu werden, der einen Krieg verliert“. Er fand sich erst sechs Jahre später bereit, die Streitkräfte aus Vietnam abzuziehen und die Regierung in Saigon ihrem Schicksal zu überlassen. Zuvor ließ er es sich aber nicht nehmen, dem Land seinen Stempel aufzudrücken – indem er „dieses kleine Scheiß-Land Nordvietnam“ unter Bomben begrub. Wie Stanley Karnow schrieb, zeigte der Krieg die ganze „Hybris, Kurzsichtigkeit und Doppelzüngigkeit“ der amerikanischen Eliten.1
Vierzig Jahre später geht in den Vereinigten Staaten abermals das Gespenst Vietnam um. Im Jahr 2000 an die Macht gelangt und entschlossen, „den Siegeswillen wiederzubeleben“ – so der neokonservative Vordenker Richard Perle –, entschlossen auch, das „Vietnamsyndrom“ endgültig zu begraben, verwickelte die in der Bush-Administration versammelte Koalition der radikalen Rechten das Land in einen Krieg mit unabsehbaren Folgen. Die Geschichte scheint sich zu wiederholen: Gegen Ende der Sechzigerjahre gewannen weite Teile der amerikanischen Bevölkerung den Eindruck, „das Establishment habe den Verstand verloren“.2
Ein Jahr nach der Irak-Invasion zeigt sich die Gesellschaft abermals gespalten und von Zweifeln zerrissen. Ein Umschwung in der öffentlichen Meinung ist mit Händen greifbar. Die Enthüllungen über die Folter in irakischen Gefängnissen untergraben die Autorität des Staates und untermauern die Einschätzung, der Krieg habe die terroristische Bedrohung nicht verringert, sondern im Gegenteil erhöht.3
Ganz besonders stark ist das Unbehagen – wie aus zwei jüngeren Untersuchungen hervorgeht – offenbar bei den Bodentruppen, die den Alltag der Besatzung zu bewerkstelligen haben. Eine von der Armee selbst in Auftrag gegebene Studie offenbart die Demoralisierung der regulären Truppen. Jeder zweite Soldat gibt an: „Die Moral ist schlecht.“4 Die zweite Untersuchung unterstreicht die Verzweiflung der Angehörigen angesichts des sich in die Länge ziehenden Kriegs, der sich auf andere Länder ausweiten könnte.
Dies, so die Studie weiter, könnte sich negativ auf den Nachschub an Rekruten auswirken, eine Schlussfolgerung, die kaum überraschen kann, wo doch die allerwenigsten aus purer Überzeugung Berufssoldaten werden. Die Mehrheit geht aus anderen Gründen zur Armee, vor allem wegen der sich dort bietenden Ausbildungschancen und den nicht unerheblichen Vorteilen im gesellschaftlichen und beruflichen Leben.5 Dass die Glaubwürdigkeit der Truppe sinken könnte, scheint daher nicht unwahrscheinlich. Viele Experten kritisieren, dass die Armee sich verzettele und in eine „institutionelle Krise“ zu geraten drohe.
Auch in hohen Militärkreisen beginnt man sich nach dem Sinn und Zweck dieses Krieges zu fragen. Hochrangige Offiziere, auch Mitglieder des Generalstabs, äußern privat heftige Kritik. Jeffrey Record, Professor am U.S. War College in Pennsylvania, schreibt in einer im Dezember 2003 erschienenen Institutspublikation, dass die Regierung einen riesigen strategischen Fehler gemacht habe, als sie al-Qaida und Saddam Hussein in einen Topf warf. Daraus sei ein Präventivkrieg gegen ein Land geworden, gegen das auch Abschreckung gewirkt hätte. Man habe damit eine neue Front für den islamistischen Terrorismus im Nahen Osten geschaffen und gleichzeitig die eigenen Ressourcen unzweckmäßig gebunden.6
Die erklärten strategischen Ziele einer „globalen Bekämpfung des Terrorismus“ seien „unrealistisch und verurteilen die Vereinigten Staaten zu einem aussichtslosen Streben nach absoluter Sicherheit“. Unter Berufung auf einen internen Heeresbericht, der vor der Invasion verfasst wurde und für den Fall einer sich ohne internationale Unterstützung in die Länge ziehenden Besatzung „gravierende Probleme im Irak“ kommen sah, vertritt Record die Auffassung, die Vereinigten Staaten würden angesichts der angespannten Haushaltslage und der mangelnden Unterstützung in der Bevölkerung „ihre Ambitionen im Irak bald reduzieren müssen“7 .
Fügt man die Bedenken ehemaliger hochrangiger Beamte des Nachrichtendienstes hinzu, so gewinnt diese „realistische“ Kritik noch an Schärfe. Richard Clarke zum Beispiel, der dem Apparat dreißig Jahre lang diente, ist der Ansicht: „Der Präsident der Vereinigten Staaten hat den Krieg gegen den Terrorismus durch die Invasion des Irak unterminiert.“8 Solche Äußerungen hört man auch von anderen CIA-Offizieren im Ruhestand. Milt Bearden etwa meinte im November 2003, die Vereinigten Staaten würden nicht nur „einen Feind unterschätzen, den sie schlecht kennen“9 , sondern im Irak auch in eine Situation geraten, die der Lage der sowjetischen Truppen in Afghanistan nicht unähnlich sei.
Ray Close, der ehemalige Chef der CIA in Saudi-Arabien, geht noch einen Schritt weiter: „Die auf Vorhersagen und Empfehlungen der neokonservativen Strippenzieher in Washington fußende Gesamtstrategie im Irak offenbart sich inzwischen als Desaster, ein Desaster, das informierte Beobachter von Anfang an kommen sahen.“10 Ein Zeichen für interne Differenzen ist die im Lauf eines Jahres dreimalige Neubesetzung des Chefsessels der Bagdader CIA-Zentrale. Der zweite Wechsel hatte angeblich damit zu tun, dass das Büro zutreffend über die Kampfkraft der Aufständischen berichte.
Im Außenministerium – das seit der Gewichtsverlagerung zugunsten des Pentagon nach dem 11. September 2001 nicht mehr viel zu sagen hat – schwankt die Stimmung zwischen Depression, Verblüffung und Zorn. Stabschef Larry Wilkerson artikulierte ausnahmsweise öffentlich, was in seinem Haus Konsens ist, als er sich über die „Utopisten“ beschwerte. Gemeint sind Richard Perle, lange Zeit der wichtigste Berater von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, sowie Rumsfelds Vertreter Paul Wolfowitz. Sie hätten „noch nie einen Krieg mitgemacht, schicken aber Männer und Frauen bedenkenlos in den Tod“.11
Seit klar ist, dass die Besatzung schwieriger wird als erwartet, nimmt die Kritik immer mehr zu. Nach Auffassung von Anthony Cordesman vom Center for Strategic and International Studies (CSIS)12 „haben die Vereinigten Staaten und ihre Koalition die menschlichen Kosten der Kampfeinsätze drastisch und absichtlich unterschätzt“, die Verluste der Alliierten heruntergespielt und die „irakischen Verluste systematisch verschwiegen“. 700 US-Soldaten kamen bis zum 17. April dieses Jahres ums Leben, 2 449 Schwerverletzte wurden bis 31. März gezählt.
Die Gesamtzahl der Verletzten liegt weitaus höher. So erklärte Oberst Allan DeLane, Chef der Militärbasis Andrews, die die Verletzten in den Vereinigten Staaten versorgt, schon am 28. Juli 2003 im öffentliche Radiosender National Public Radio: „Ich kann Ihnen keine genauen Zahlen nennen, weil es sich hierbei um Geheiminformationen handelt. Aber ich kann sagen, dass wir seit Kriegsbeginn über 4 000 Verletzte hier behalten haben und dass man diese Zahl verdoppeln muss, wenn man die Personen mitzählt, die zuerst hierher kamen und dann an die Krankenhäuser Walter Reed und Bethesda weitergeleitet wurden.“ Die Opfer unter der irakischen Zivilbevölkerung, schätzungsweise zwischen 9 000 und 11 000 Menschen, werden in öffentlichen Stellungnahmen fast nie erwähnt.
Was die finanziellen Kosten anbelangt, äußert Cordesman starke Zweifel an den 50 bis 100 Milliarden Dollar, die das Congressional Budget Office (CBO) für den Zeitraum von 2004 bis 2007 veranschlagt. Diese Angaben seien sehr weit entfernt von den tatsächlichen Kosten für den Aufbau einer neuen Wirtschaft, die die Bedürfnisse der Menschen befriedigen kann. Selbst unter der Annahme, dass „Krieg und Sabotage die Kosten nicht noch in die Höhe treiben, unterschätzt die Haushaltsplanung möglicherweise den Finanzierungsbedarf. Die Kosten für den Wiederaufbau und die Installation einer funktionsfähigen Regierung könnten in diesem Zeitraum zwischen 94 und 160 Milliarden Dollar liegen. Die auf 44 bis 89 Milliarden Dollar geschätzten Erdöleinnahmen des Landes werden hingegen sicher weit unter 70 Milliarden Dollar liegen.“
Unterdessen kann man beobachten, wie die US-Regierung ihren ideologischen Rückhalt in der Bevölkerung verliert. Das Weiße Haus setzte – wie der Schriftsteller Gary Phillips es formulierte – auf die „Kriegsbegeisterung der Amerikaner“, um die geplanten neuen strategischen Waffensysteme auszubauen und die anstehenden Wahlen zu gewinnen. Die Regierung verließ sich auch auf die Angst, die nach dem 11. September umging, und auf den daraus entstehenden Zorn, um die Gesellschaft hinter dem nationalen Sicherheitsstaat zu versammeln, die Eliten zusammenzuschweißen und die Widersprüche innerhalb der amerikanischen Demokratie zu glätten. Mit ihrer simplen Interpretation der „terroristischen Herausforderung“ suchte die Bush-Administration – anfangs mit Erfolg – das Land hinter einem Präsidenten zu einigen, der in der Bevölkerung zunächst wenig Rückhalt besaß.
Die geschürte Angst vor den Massenvernichtungswaffen machte den Weg frei für eine außerordentliche Machtkonzentration bei der Exekutive, für die Schwächung der anderen Gewalten, für staatliche Willkür und Verstöße gegen die Verfassung. Bald schon entwickelte sie sich zu einer nationalistischen Raserei, die sich, ebenfalls von der Exekutive geschürt, gegen jeden im In- oder Ausland richtet, der es wagt, den USA zu widersprechen.
Diese „patriotische Hysterie“ – Anatol Lieven von der Carnegie Foundation verglich sie mit der Gemütsverfassung der Europäer am Vorabend des Ersten Weltkriegs – kam den Zwecken der imperialen Präsidentschaft sehr gelegen. Die Macht versteckte sich hinter angeblichen Geheimnissen, legte Dissidenten einen Maulkorb an und präparierte die amerikanische Öffentlichkeit für den Krieg: Sie orchestrierte eine Desinformationskampagne gegen die UN-Inspektoren und setzte das aus dem Pentagon stammende Gerücht in Umlauf, Saddam Hussein sei für die Anschläge des 11. September mitverantwortlich. Tatsächlich gelang es ihr, einen nationalen Konsens herzustellen – knapp drei Viertel der amerikanischen Bevölkerung hießen die Militärintervention gut.
Doch nun zerbricht ebendieser nationale Konsens in den Bergen Afghanistans und den Städten des Irak. Der dortige Krieg, so Jeremy Shapiro von der Brookings Institution, hat „aus dem imperialen Projekt die Luft herausgelassen“. Die nationale Eintracht gründete auf der Fähigkeit des Staats, die Gesellschaft in einem Zustand permanenter Mobilisierung verharren zu lassen. Zur Zeit des Kalten Kriegs ließen sich die auseinander strebenden gesellschaftlichen Kräfte in einer kollektiven Anstrengung bündeln und einigermaßen überzeugend auf einen globalen Feind lenken. Die der Bevölkerung dabei abverlangten Opfer waren mit Ausnahme des Vietnamkriegs relativ gering. Der keynesianische Staat versorgte das Volk mit „Butter und Kanonen“.
Mit dem Ende des Kalten Kriegs drohte es schwierig zu werden mit der permanenten Mobilisierung, „es sei denn, es gelingt, zu politischen Zwecken eine neue kulturelle Konstellation herbeizuführen und einen neuen allmächtigen Feind im Ausland zu erfinden“.13 Doch obwohl der radikale Islamismus die Stelle der UdSSR als globale Gefahr eingenommen hat, könnte die Perspektive eines endlosen Kriegs mit astronomisch hohen Kosten die Gesellschaft nun abermals spalten.
Noch vor einem Jahr saß die im Süden und Westen der USA verankerte republikanische Koalition fest im Sattel. Niemand hätte eine Niederlage George W. Bushs bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen für möglich gehalten. In interne Streitigkeiten verstrickt und durch einen Krieg, den sie selbst weitgehend befürwortet hatte, zum Schweigen verurteilt, schien die Demokratische Partei praktisch aus dem Spiel zu sein. Das hat sich nun geändert, weil die Parteibasis ihren Zorn zum Ausdruck bringt, eine Basis, die vor vier Jahren erleben musste, wie sie aufgrund antiquierter Prozeduren um den Sieg gebracht wurde: der indirekten Wahl des Präsidenten durch ein Wahlmännerkollegium, das nicht proportional nach Stimmanteilen, sondern absolut nach Siegern in den Bundesstaaten zusammengesetzt war.
Was aus dem imperialen Projekt der Bush-Administration wird, hängt ganz von den kommenden Präsidentschaftswahlen ab. Im Falle eines demokratischen Wahlsiegs ist eine „entschlossene Rückkehr zu Zusammenarbeit und eine Neubegründung der transatlantischen Beziehungen“, also eine realistischere, eher auf Konsens abzielende Außenpolitik nicht ausgeschlossen. Dies zumindest behauptet Anthony Blinken, außenpolitischer Berater der Demokraten im Senat. Das bedeutet zwar keine Rückkehr zum Status quo ante der Clinton-Zeit, kann aber möglicherweise eine Ausweitung der Krise verhindern.
Siegt hingegen Bush erneut, droht unter Umständen eine Flucht nach vorn und die Realisierung der Selffulfilling Prophecy der amerikanischen Rechten, die einen „Clash of Civilizations“ zwischen Islam und Westen kommen sehen. Für das System der internationalen Kooperation wäre das eine Zerreißprobe, deren Ausgang völlig offen ist.
Die Vereinigten Staaten schwanken zwischen demokratischer Erneuerung und autoritärer Regression. Die imperiale Versuchung ist gegenwärtig zwar geschwächt, aber längst nicht aus der Welt. So erklärte Vizepräsident Dick Cheney vor dem Los Angeles World Affairs Council am 14. Januar stolz, dass zur Hinterlassenschaft dieser Administration „tief greifende und dramatische Veränderungen“ gehören werden – „in der Struktur unserer Streitkräfte, in unserer nationalen Sicherheitsstrategie und in der Art und Weise, wie wir seit dem Zweiten Weltkrieg unsere Streitkräfte einsetzen“. Und auch für Richard Perle ist der Weg vorgezeichnet. Das iranische und das nordkoreanische Regime „stellen für die amerikanische Sicherheit eine unerträgliche Bedrohung dar. Gegen sie wie auch gegen alle Sponsoren des Terrorismus – Syrien, Libyen und Saudi-Arabien – müssen wir mit aller Macht vorgehen. Und dafür bleibt uns wenig Zeit.“14
deutsch von Bodo Schulze
* Dozent an der Universität Paris VIII und Journalist.