11.06.2004

Die Wahrheit hinter der Steckdose

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Die Wahrheit hinter der Steckdose

TROTZ der politischen Debatte und aller Werbekampagnen: In Deutschland beziehen nur 2 Prozent der privaten Haushalte Ökostrom, und rund 70 Prozent haben nie ihren Stromvertrag geändert, obwohl inzwischen fast jeder Versorger Anpassungen an die individuellen Bedürfnisse anbietet. Unübersichtlich sind auch die Strukturveränderungen „hinter“ der Steckdose, innerhalb der einzelnen Wertschöpfungsstufen auf dem Strommarkt: der Erzeugung, Übertragung und Verteilung sowie dem Vertrieb von Elektrizität.

Strom kann man nicht lagern. Wenn er nachgefragt wird, muss er sofort produziert werden können. Die Erzeugungskapazitäten dürfen sich deshalb nicht nach dem durchschnittlichen, sondern müssen sich nach dem erwarteten maximalen Verbrauch richten. In der Summe aller privaten deutschen Haushalte kann das Maximum zum Beispiel erreicht werden, wenn am 25. Dezember allerorten die Festgänse in den elektrischen Backofen geschoben und die elektrischen Eisenbahnen auf Hochtouren um den Tannenbaum gejagt werden.

Strom entsteht in Kraftwerken. Hier werden primäre Energieformen in elektrische Energie umgewandelt. Primärenergie lässt sich aus fossilen Energieträgern wie Kohle, Gas und Erdöl durch Verbrennung gewinnen. Damit verbunden ist allerdings die Freisetzung des Treibhausgases CO2. Atomenergie – ebenfalls eine primäre Energieform – entsteht bei der Kernspaltung, birgt die bekannten Risiken, trägt aber andererseits nicht negativ zum Treibhauseffekt bei. Auch die mechanische Energie herabstürzenden Wassers lässt sich zur Stromproduktion nutzen. Neben dem Wasser zählen Biomasse, Erdwärme, Sonnenlicht und Wind zu den erneuerbaren Energieträgern.

Solar- und Windenergie stehen allerdings nur bei entsprechender Witterung zur Verfügung und sind deshalb – zumindest in Mitteleuropa – lediglich in Kombination mit anderen, planmäßig verfügbaren primären Energieträgern nutzbar. Der nationale Energiemix zur Stromerzeugung hängt derzeit vor allem noch von den natürlichen Vorkommen an primären Energieträgern ab. Für die Zusammensetzung des Energiemixes spielen jedoch die globale wie die nationale Energiepolitik eine zunehmend wichtige Rolle. In Deutschland gehört dazu der Atomausstieg, die Förderung erneuerbarer Energien und der Handel mit CO2-Emissionszertifikaten.

Der produzierte Strom wird vom Kraftwerk zunächst meist über Höchstspannungsnetze in die Verbrauchsregionen übertragen. Über die regionalen und lokalen Verteilnetze gelangt er zu den Endverbrauchern. Den Vertrieb und damit die Abwicklung der tatsächlichen Versorgung der Kunden übernimmt der Stromversorger, mit dem der Kunde seinen Stromliefervertrag abgeschlossen hat.

DIE Energieversorgungsunternehmen E.ON, RWE, Vattenfall Europe und EnBW dominieren die Stromerzeugung und -übertragung in Deutschland. Etwa 80 Prozent der nationalen Stromerzeugung entfallen auf Kraftwerke der vier großen deutschen Verbundunternehmen. Ihre regionalen Monopole für Höchstspannungsnetze und damit für die Stromübertragung sind historisch gewachsen; wirtschaftlich ist es nicht sinnvoll, nachträglich parallele Übertragungsnetze aufzubauen und zu betreiben. Die übrigen 20 Prozent der nationalen Energieproduktion liegen bei den etwa 30 regionalen Versorgungsunternehmen und 900 Stadtwerken. Sie sind – ebenfalls monopolistische – Eigentümer der meisten regionalen bzw. lokalen Verteilnetze und stehen über ihren Vertrieb in direktem Kundenkontakt. Auch die großen Verbundunternehmen verteilen und vertreiben Strom: sowohl direkt über eigene Kunden als auch indirekt über die Beteiligung an vielen regionalen und lokalen Versorgern.

Der Einstieg internationaler Anbieter in den deutschen Strommarkt ist nicht nur wegen dessen Größe interessant. Vor allem sind es die – im Unterschied zu Frankreich – dezentralen Marktstrukturen, die für diesen Einstieg sprechen. Konsequenterweise hat sich die staatliche Electricité de France bereits im Jahr 2000 zu einem Drittel an der baden-württembergischen EnBW beteiligt. Die ebenfalls staatliche Vattenfall AB aus Schweden ist bereits drittgrößter deutscher Stromversorger; ihre Vattenfall Europe AG entstand aus den kommunalen Stromversorgern in Hamburg (HEW) und Berlin (Bewag), aus der Lausitzer Braunkohle AG (Laubag) und der Vereinigten Energiewerke AG in Berlin (Veag).

Energieversorgung gehört wie Wasserversorgung, Müllabfuhr und Straßenreinigung, Telekommunikation oder auch öffentlicher Personennahverkehr zu den Dienstleistungen, die im öffentlichen Interesse erbracht werden. Über die Branchen hinweg sind es meist immer noch staatliche bzw. kommunale Unternehmen mit Monopolstellung auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene, die solche Leistungen bereitstellen. Die Diskussion darüber, inwieweit die damit verbundenen Marktstrukturen unter volkswirtschaftlichen Aspekten sinnvoll sind, wurde und wird leidenschaftlich geführt. Auch die EU-Gremien diskutieren die Probleme der Marktöffnung: Wie lässt sich ein europäischer Binnenmarkt schaffen, an dem zahlreiche Unternehmen grenzüberschreitend teilhaben und im Wettbewerb miteinander für mehr Flexibilität und sinkende Preise sorgen? Wie weit muss eine staatliche Marktregulierung gehen, um einen angemessenen Ausgleich von Wettbewerb, Versorgungssicherheit und Umweltschutz zu gewährleisten?

Die Deregulierung der öffentlichen Dienstleistungen begann in den 1990er-Jahren mit dem Telekommunikationsmarkt – durchaus erfolgreich. Nach einer Phase mit verwirrend vielen Anbietern, harten Preiskämpfen und zahlreichen Eingriffen des Regulators haben sich die Preise für das Telefonieren inzwischen auf einem deutlich niedrigeren Niveau eingependelt. Für die Stromwirtschaft wurde im Dezember 1996 eine EU-Richtlinie erlassen, nach der bis zum Jahr 2003 33 Prozent des europäischen Strommarktes stufenweise für den Wettbewerb zu öffnen seien. Anders als Frankreich nutzte Deutschland bereits die hierdurch ausgelöste erste Welle der Deregulierung, um seinen Strommarkt 1998 vollständig zu öffnen. In Leipzig wurde 1999 sogar eine Strombörse gegründet, an der europäische Marktteilnehmer seit 2000 Strom zu tagesaktuellen Preisen handeln.

Eine weitere EU-Richtlinie vom Juni 2003 bereitete die zweite Welle der Deregulierung des Strommarktes auf europäischer Ebene vor. Sie fordert die vollständige Marktöffnung bis zum 1. Juli 2007; dann können alle Kunden ihren Stromversorger frei wählen. Bis zum 1. Juli 2004 muss der Netzzugang neu reguliert sein; dann können alle Stromversorger alle Netze diskriminierungsfrei nutzen.

IN Deutschland bleibt nur noch die zweite Forderung umzusetzen. Die Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation, die RegTP, wird künftig auch den Strom- und Gasmarkt regulieren. Im Sinne der EU-Richtlinie soll sie verhindern, dass die natürlichen Monopole der Übertragungs- und Verteilnetzeigentümer zu überhöhten Netznutzungsentgelten für deren Konkurrenten führen, die Strom durch die bestehenden Netze zu ihren Kunden leiten wollen. Die Angemessenheit von Netznutzungsentgelten kann jedoch nur anhand der Kosten beurteilt werden, die für die Bereitstellung des Netzes zur Durchleitung „fremden“ Stroms tatsächlich entstehen. Um Kostentransparenz herzustellen, schreiben die EU-Richtlinien eine sukzessive Entflechtung der Unternehmensteile vor, die sich mit den einzelnen Wertschöpfungsstufen beschäftigen. Bis zum 1. Juli 2007 müssen Unternehmen mit mehr als 100.000 Stromkunden ihre entsprechenden Aktivitäten in separate Gesellschaften ausgründen, damit die Kosten für Personal und Sachmittel verursachungsgerecht zugeordnet werden können.

Auf die Höhe der Strompreise kann sich die Marktöffnung hierzulande nur eingeschränkt auswirken, weil sie lediglich die Kosten für die Erzeugung, den Transport und die Verteilung von Strom beeinflussen wird. Diese machen aber nur 60 Prozent des Strompreises für einen typischen Kunden aus1 . Die restlichen 40 Prozent setzen sich aus Abgaben und Umlagen zusammen, die aus politischen Gründen erhoben werden. Neben Mehrwert- und Stromsteuer sowie Konzessionsabgaben fallen auch umweltpolitisch motivierte Umlagen an, die der Förderung erneuerbarer Energien oder besonders effektiver Techniken wie der Kraft-Wärme-Kopplung dienen. Deshalb würde sich beispielsweise eine Reduktion der Netznutzungsentgelte um 20 Prozent nur in einer Senkung des Strompreises um knapp 9 Prozent bemerkbar machen.

Eine wichtige Rolle für die Strompreisentwicklung spielen die Investitionen zur Erneuerung der Kraftwerke. In den kommenden zwei Jahrzehnten müssen in Deutschland zweistellige Milliardenbeträge für den Aufbau von Ersatzkapazitäten zur Energieerzeugung bereitgestellt werden, da bestehende fossile Kraftwerke turnusgemäß ersetzt und zusätzlich wegen des beschleunigten Ausstiegs aus der Kernenergie weitere fossile Kraftwerke vorzeitig errichtet werden müssen. Die Folge ist, dass etwa 60 Prozent der bestehenden Kraftwerkskapazitäten bis 2020 zu ersetzen2 und die damit verbundenen Investitionen auf den Strompreis umzulegen sind. Wahrscheinlich wird also der Strom in Deutschland – anders als das Telefonieren – trotz Liberalisierung des Marktes teurer werden. ELISABETH VON WEIZSÄCKER

Fußnoten: 1 Wolfgang Pfaffenberger, Jürgen Gabriel und Ulrike Borszcz (Bremer Energieinstitut): Gutachten zum „Preissystem bei Netznutzungsentgelten für Strom“, Juli 2003. 2 Wolfgang Pfaffenberger und Maren Hille (Bremer Energieinstitut): Abschlussbericht der Studie „Investitionen im liberalisierten Energiemarkt: Optionen, Marktmechanismen, Rahmenbedingungen“, Januar 2004.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2004, von ELISABETH VON WEIZSÄCKER