Der teure Kampf um Strom und Gas
WO immer ein nationaler Strommarkt liberalisiert wird, steigen die Energiepreise, fahren die Konzerne Extraprofite ein. Im besten Fall verwandeln sich die Monopole in Oligopole: Statt einem Anbieter gibt es einige wenige, die aber eher die Tarife abzusprechen scheinen als untereinander über den Wettbewerb Preisdruck auszuüben. Wie vor einigen Jahren bei der Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte entsteht nun im Energiesektor ein neuer Boom mit hochschnellenden Aktienkursen und überteuerten Firmenaufkäufen, die von den Konsumenten zu bezahlen sind. Die EU-Beschlüsse erzwingen zwar nicht die Privatisierung der alten Staatsbetriebe, erleichtern sie aber.
Von ERNEST ANTOINE *
Vor knapp sechzig Jahren wurden die im französischen Elektrizitätskartell zusammengeschlossenen Stromversorger verstaatlicht. Die privaten Unternehmen hatten sich in der Vorkriegszeit durch ihre Preisabsprachen diskreditiert. Als 1946 die Strom- und Gasversorgungsgesellschaften EDF (Électricité de France) und GDF (Gaz de France) entstanden, wurde damit ein wichtiges Prinzip umgesetzt, das der Nationale Widerstandsrat für die Nachkriegszeit beschlossen hatte.
Doch diese Weichenstellung wird jetzt rückgängig gemacht. In den kommenden Wochen müssen sich die beiden staatlichen Energieunternehmen „dem Wettbewerb öffnen“, wie die Sprachregelung heißt. Die großen ausländischen Konkurrenten stehen schon in den Startlöchern: die italienische Enel, die belgische Electrabel (die zum Suez-Konzern gehört), E.ON und RWE aus Deutschland, die spanischen Endesa und Iberdrola, aber auch die EdF selbst, die der wichtigste Anbieter auf dem heimischen Markt bleiben will.
Zugleich behält das Stromversorgungsnetz den Status eines „natürlichen Monopols“. Die Leitungen verbleiben im Besitz einer EDF-Tocher1 , die im Juli 2000 eigens zu diesem Zweck gegründet wurde. Ebenfalls neu gegründet wurde die Energieregulierungsbehörde CRE, die über das „reibungslose Funktionieren des Markts“ wachen und speziell die EDF beaufsichtigen soll, damit diese ihre marktbeherrschende Stellung nicht missbraucht, die aber nicht die EDF-Investitionen kontrolliert.
Der Energiesektor wird also nach dem Vorbild der Telekom-Industrie umstrukturiert.2 An der Börse setzen die Investoren auf die Energietitel wie vor vier Jahren auf die Telekom-Aktien – bis kurz darauf die spekulative Blase platzte. Die Risiken sind heute nicht geringer als damals. Auf einer Tagung zur Zukunft des Energiesektors warnte ein Investmentberater: „Dieselben spekulativen Praktiken wie bei den Telekommunikationsunternehmen lassen sich auch heute beobachten, nur dass die Unternehmen im Energiesektor bereits verschuldet sind.“3 EDF und GDF könnten Energieunternehmen außerhalb des Landes zu überhöhten Preisen aufkaufen und sich damit existenziell gefährden. France Télécom und dem Wasserversorger Vivendi ist diese Strategie jedenfalls so schlecht bekommen, dass sie durch die gewaltigen Wertverluste ihrer Neuerwerbungen in die Krise gerieten, obgleich sie im Kerngeschäft durchaus fette Gewinne machten.
Die Liberalisierung der französischen Energiewirtschaft geht in Stufen voran. Der Markt für Großverbraucher, die rund ein Drittel der französischen Stromerzeugung abnehmen, ist bereits seit dem Jahr 2000 geöffnet. Konzerne wie Alcan-Pechiney, der zweitgrößte Aluminiumhersteller der Welt, und Arcelor, die Nummer eins der Stahlindustrie, verfügen jedoch über eine so große Verhandlungsmacht, dass nur ihr alter Lieferant ihren Vorstellungen entsprechen konnte und die Konkurrenten der EDF in diesem Marktsegment nicht so recht auf ihre Kosten kamen. Ab 1. Juli 2004 aber dürfen alle auch den rentableren Kundenkreis beliefern: kleine und mittelständische Unternehmen, Behörden und Gebietskörperschaften, Händler und Freiberufler, insgesamt 500 000 Gas- und 2,2 Millionen Stromabnehmer. Und ab 1. Januar 2007 wird auch der Markt für Privathaushalte geöffnet.
Zu den Unternehmen, die bereits in den Startlöchern stehen, gehört der Suez-Konzern. Das multinationale Unternehmen, das schon in den 1990er-Jahren die belgische EDF-GDF übernommen hatte, stieg voriges Jahr zum zweitgrößten Stromerzeuger Frankreichs auf, als es 49 Prozent der Compagnie Nationale du Rhône (CNR) übernahm. Damit verschaffte sich der Suez-Konzern einen „hydraulischen Extraprofit“, wie die Initiative „Résistance Électrique et Gazières“4 es formuliert. Denn die Talsperren und Wasserkraftwerke an der Rhone haben sich längst amortisiert. Suez aber möchte so wenig wie möglich investieren und verweigert trotz zunehmender Klimaprobleme eine zusätzliche Sicherung der Deiche und Mauern. Im kurzfristigen Denken der Shareholder-Value-Kultur erhöhen solche Investitionen nicht etwa den Wert des Unternehmens, sondern senken die Gewinne. Und damit solche Einkünfte auch in Zukunft fließen, berief Suez vor kurzem Edmond Alphandéry in den Verwaltungsrat. Er war unter Edouard Balladur Wirtschaftsminister – und davor höchstselbst Chef der EDF.
Nachdem Suez in der Wasserbranche mehrere Misserfolge zu verzeichnen hatte, will er ab 1. Juli 2004 im Energiesektor reüssieren. Suez-Chef Gérard Mestrallet wird nicht müde, die Deregulierung als segensreiche Tat darzustellen: „Die Preise steigen, weil die Nachfrage wächst und die Überkapazitäten bei den Atomkraftwerken schwinden.“5 Ohne Regulierungsbehörde stiegen 2003 die Großabnehmerpreise um durchschnittlich 30 Prozent. Offenbar keine so gute Verhandlerin wie die Rohstoffkonzerne, sah sich Frankreichs Bahngesellschaft SNCF im April gezwungen, gegen die 50-prozentige Steigerung ihrer Stromrechnung seit der Marktöffnung zu protes–tieren.
Neben der Verknappung des Angebots durch den Wegfall von Überkapazitäten einerseits und der Finanzierung überteuerter Akquisitionen andererseits sehen die Gegner der Privatisierung einen weiteren Grund für die steigenden Tarife: Preisabsprachen. Dieser Verdacht ist unter den industriellen Verbrauchern weit verbreitet, wird von den Erzeugern jedoch vehement bestritten. Eines ist sicher: Die Strompreise steigen allem Wettbewerb zum Trotz. Sollte sich in die Liberalisierungs-Software ein Fehler eingeschlichen haben?
Dabei hatte Brüssel doch Preissenkungen auf breiter Front versprochen. Durch die Liberalisierung, mutmaßte Philippe Manière, ehemals Leitartikler der Wochenzeitschrift Le Point und derzeitiger Leiter des Institut Montaigne6 , „könnten die EDF-Tarife weiter sinken“. Schließlich habe das Unternehmen zu Zeiten des Staatsmonopols europaweit die niedrigsten Strompreise angeboten. François Soult, Absolvent der Elitehochschule ENA und hoher Beamter, meint jedoch: „Wenn bei der Reform des Stromsektors die Idee der Öffnung für den Wettbewerb triumphiert, so nicht etwa deshalb, weil sie anderen Lösungen von Haus aus überlegen wäre, sondern vielmehr aufgrund des günstigen ideologischen Umfelds“, das sich seit dem ersten Ölschock durch stete Preissteigerungen ergeben habe.7
Ironie der Geschichte: Um den Stromsektor zu reformieren, dessen Kostenrechnung seit den Siebzigerjahren für Unmut sorgte, übernahmen die EU-Regierungen nicht das auf zentraler Planung basierende EDF-Modell, das sich trotz mancher Unzulänglichkeit8 durchaus bewährt hatte. Sie orientierten sich vielmehr am Großbritannien Margaret Thatchers und damit an einem auf kleineren, regional gestreuten Versorgern beruhenden Modell, das europaweit den teuersten Strom produzierte: mit Tarifen, die um 25 Prozent über dem damaligen Preisniveau der EDF lagen. Die britische Premierministerin wiederum hatte schlicht das US-amerikanische Modell kopiert, das nach dem Zerfall von AT & T in mehrere konkurrierende Telefongesellschaften 1984 entstanden war.9
Die Bemühungen der britischen Premierministerin jedenfalls waren erst spät von vollem Erfolg gekrönt: 1996 wurde in Brüssel eine Richtlinie verabschiedet, wonach ab 2000 ein Drittel des europäischen Strommarkts für den Wettbewerb zu öffnen sei. Im März 2002, als die Privatisierung von France Télécom bereits begonnen hatte, unterzeichnete die Linksregierung unter Lionel Jospin das Abkommen von Barcelona, das die Ausweitung der Marktöffnung auch auf Privathaushalte vorsah. Obwohl die Entscheidung knapp einen Monat vor den französischen Präsidentschaftswahlen fiel, spielte sie in der öffentlichen Diskussion damals nicht die geringste Rolle.10
Doch die Klagen von Kunden, die nun die „freie Wahl“ hatten, nahmen ständig zu. Selbst die „Union des Industries Utilisatrices d’Énergie“ (Uniden), ein Verband französischer Großunternehmen, die mit hohem Stromeinsatz produzieren, hält mit kritischen Worten nicht hinter dem Berg. Sie sprach im März in einer Pressemitteilung unter anderem von einer „Liberalisierung mit Negativfolgen“. Die Stromerzeuger stellten ein „faktisches Oligopol“ dar, das einen „weitgehend manipulierbaren Markt“ geschaffen habe. Ob es den Wettbewerbsaposteln gefällt oder nicht, die Industriellen trauern dem alten „De-jure-Monopol“ nach, das jedenfalls „vorhersehbare Rahmenbedingungen“ schuf.
Hätte die Liberalisierung auch andere Resultate bringen können? Wo immer man hinblickt – ob nach Kanada oder Australien, nach Neuseeland oder Brasilien –, nirgends hat das nun auch in Europa eingeführte Modell die versprochenen Vorteile gebracht. Am bekanntesten dürfte in dieser Hinsicht sein, was in den Jahren 2000 und 2001 in Kalifornien passierte.
Damals organisierten die Stromerzeuger eine künstliche Angebotsverknappung, um die staatlich gedeckelten Preise in die Höhe zu treiben. Sie nahmen eine Reihe Kraftwerke wegen angeblicher Wartungsarbeiten vom Netz, überlasteten die Überlandleitungen und exportierten erhebliche Mengen in benachbarte Bundesstaaten. Dort übernahm eine Tochtergesellschaft die Ware und bot sie den Kaliforniern zu höheren Preisen an, weil die Deckelung für importierten Strom nicht galt. Damit konnte der Preis drastisch gesteigert werden. Um zusätzliche Preissteigerungen und die wiederholten Stromabschaltungen zu unterbinden, legte die kalifornische Regierung für den Großhandelspreis eine Obergrenze fest. Wenig später musste sie Kredite aufnehmen, um eine Reihe von Stromverteilern vor dem sicheren Bankrott zu bewahren. Damals schrieb der Wirtschaftswissenschaftler und Kolumnist Paul Krugman: „Die kalifornische Krise lässt sich in der Frage zusammenfassen: Wie war es möglich, bei helllichtem Tage einen 30-Milliarden-Dollar-Raub zu organisieren?“ Krugman hält die Liberalisierung des Strommarkts insgesamt für einen Fehler, weil Preismanipulationen in diesem Sektor allzu leicht seien.11
Höchst lehrreich ist auch ein Blick in andere europäische Länder. Sehen wir uns zunächst die Preise an: Obgleich sie gesunken sind, liegen sie überall über dem einstigen Niveau der französischen EDF. In Ländern wie Spanien und Deutschland, die den Markt am weitesten geöffnet haben, beschränkt sich der „Wettbewerb“ zudem auf einige wenige, immer mächtiger werdende Konzerne. So kaufte E.ON voriges Jahr die Ruhrgas auf und schuf damit ein integriertes Strom-Gas-Unternehmen, de facto ein privates Doppelmonopol. „Wenn ein Vorgang Anspruch erheben darf, die Diskrepanz zwischen liberaler Ideologie und Wirklichkeit zu verkörpern, dann die Entregulierung, wie sie in Deutschland praktiziert wurde“, spottet die Gruppe „Jean Marcel Moulin“12 , die sich aus Führungskräften der EDF zusammensetzt, die aber lieber anonym bleiben wollen.
In Großbritannien türmen sich die Probleme. Obwohl die Kosten unter anderem aufgrund von Entlassungen und der Schließung alter Kraftwerke sanken, hat die Liberalisierung zwischen 1991 und 2001 keinerlei Preissenkungen gebracht. Also griff die britische Regulierungsbehörde beim Großabnehmerpreis ein, der daraufhin um 40 Prozent sank. Um wieder auf ihren Gewinn zu kommen, kauften die Erzeuger daraufhin Unternehmen auf, die Privathaushalte mit Strom versorgen und daher als rentabler galten. Dennoch „gehören rund 40 Prozent der Erzeugungskapazitäten Unternehmen, die Bankrott angemeldet haben oder kurz davor stehen“, heißt es in einem Bericht, den Steve Thomas und David Hall, Forscher an der Universität Greenwich, im Auftrag der Public Services International Research Unit verfasst haben.13
Um das Unternehmen British Energy, das sämtliche Atomkraftwerke des Landes betreibt, vor dem sicheren Aus zu bewahren, musste die Regierung Blair 650 Millionen Pfund zuschießen. Zudem ordnete die Regulierungsbehörde eine Senkung der Stromdurchleitungskosten an, während die Netzeigentümer ihre Investitionen zurückfahren, um die Dividenden zu stabilisieren. Die Verbraucher aber bezahlen noch immer dieselben hohen Preise. „Für Otto Normalverbraucher wird sich diese Wahlfreiheit als Freiheit zu höheren Strompreisen äußern“, warnt François Soult14 . Ganz zu schweigen vom Zeitaufwand für Preisvergleiche.
Die Liberalisierung „funktioniert aus zwingenden technischen Gründen nicht“, resümiert Soult. Zum einen lässt sich Strom nicht auf Vorrat produzieren. Ein Verbraucher, der im Sommer seine Klimaanlage einschaltet, löst damit unter Umständen die Zuschaltung eines Großkraftwerks aus. Sonst kommt es zu Stromausfällen, wie im August 2003 im Nordosten der USA, als für 50 Millionen Amerikaner 24 Stunden lang die Lichter ausgingen. Geht das Kraftwerk ans Netz, steht plötzlich viel mehr Strom zur Verfügung als zur Ausgleichung der minimal gestiegenen Nachfrage nötig wäre. Um die Zuschaltung einer größeren Einheit zu verhindern und kleinere Ressourcen zu mobilisieren, schnellte während der letztjährigen Hitzewelle in Frankreich der Großhandelspreis eine Stunde lang auf das Fünfzigfache des Normalpreises – wer in dieser Zeit Strom kaufen musste, gab diesen Preis natürlich an die Gesamtheit seiner Kunden weiter.
Um Stromausfälle zu vermeiden, muss der Erzeuger also in Kraftwerke investieren, die möglicherweise nur wenige Wochen im Jahr am Netz hängen. Diese technisch notwendigen Überkapazitäten sind nicht nur unrentabel, sie drücken zudem in Zeiten starker Nachfrage auch auf den Preis, weil sie den Markt sättigen, also eine Verknappung der Ware verhindern. Damit haben konkurrierende Stromerzeuger zwei gute Gründe, nicht in solche Anlagen zu investieren. Keiner von ihnen wird Milliarden aufwenden, um den sechs Jahre dauernden Bau eines Atomkraftwerks zu finanzieren. „Adam Smith’ unsichtbare Hand braucht vielleicht einen Blindenstock“, kommentiert Dominique Maillard, Leiter der französischen Generaldirektion für Energie und Rohstoffe.15
Freilich erweist sich die Liberalisierung nicht für jeden als ein Schlag ins Wasser. Immerhin gestattet sie der Privatwirtschaft, den Besitzstand der derzeitigen Stromerzeuger unter sich aufzuteilen. Die Gruppe „Jean Marcel Moulin“ kritisiert die Zerschlagung von EDF und GDF in kleinere Einheiten mit dem Argument, diese werde zu Übernahmen durch privatwirtschaftliche Unternehmen führen, die sich ihrerseits wieder zu Monopolen entwickeln könnten. Wirtschafts- und Finanzminister Nicolas Sarkozy versucht unterdessen, die Gemüter zu beruhigen: „EDF und GDF werden nicht privatisiert. Aber wir brauchen Veränderungen, um die Qualität der großen Unternehmen aufzuwerten und ihnen die Mittel zu geben, die sie für ihre Entwicklung brauchen“, erklärte er angesichts einer landesweiten Demonstration der EDF-GDF-Belegschaft. Doch die ist sich ganz sicher, dass Statusänderungen den Börsengang und eine spätere Privatisierung vorbereiten. Wie das geht, hat die France Télécom vorgemacht.
Ein Börsengang lässt sich durch nichts rechtfertigen, schon gar nicht durch zusätzlichen Finanzierungsbedarf für weitere Aufkäufe, meint Yves Salesse, Kopräsident der liberalismuskritischen Stiftung Copernic16 . „Im Gegenteil, Schwierigkeiten bekam die EDF gerade wegen ihrer internationalen Aktivitäten.“ In Erwartung der kommenden Privatisierung und des vorhersehbaren Verlusts von Marktanteilen in Frankreich kaufte die EDF zu überhöhten Preisen andere Unternehmen auf, die zum Teil Verluste machten und hohe Investitionen erforderten. Wie François Soult schätzt, verlor die EDF im Auslandsgeschäft sieben Milliarden Euro. Doch auch nach diesem Aderlass bleibt die EDF immer noch höchst rentabel. Um sie noch attraktiver herauszuputzen, sieht ein neuer Gesetzentwurf vor, die Altersversorgung der EDF-GDF-Angestellten gegen eine Ausgleichszahlung in Höhe von 15 Milliarden Euro den Gebietskörperschaften zu übertragen. Den Beschäftigten droht dadurch der Verlust ihrer betrieblichen Altersversorgung, die sie davor geschützt hat, in die Abhängigkeit haushaltspolitischer Debatten zu geraten.
Die französische Bevölkerung insgesamt verliert durch die Marktöffnung nicht nur einen Teil ihres Tafelsilbers in Form der EDF, sondern läuft auch Gefahr, mit geringeren Sicherheitsstandards leben zu müssen. Wie soll die Sicherheit der Atomkraftwerke unter Wettbewerbsbedingungen garantiert werden können? Schon jetzt häufen sich die Klagen, dass die feste Belegschaft schrumpft und immer mehr Zeitarbeitskräfte für Wartungsarbeiten eingesetzt werden.17 Nach Angaben der britischen Gewerkschaft Prospect haben die Stromerzeuger seit 1991, dem Jahr der Privatisierung, 62 Prozent ihres Personals entlassen.18 Auch die EDF baute in den vergangenen drei Jahren europaweit 8 800 Arbeitsplätze ab, wie der europäische Betriebsrat des Unternehmens vorrechnete. Und wer wird die Entsorgung ausgedienter Kraftwerke finanzieren? Es besteht durchaus die Gefahr, dass der Gewinn aus den Atomkraftwerken privatisiert, der Atommüll aber vergesellschaftet wird.
Schließlich stellt sich die Frage, ob auch weiterhin alle Verbraucher zu allen Dienstleistungen Zugang haben werden – ein zentraler Grundsatz, der 1946 die EDF-Gründer motiviert hatte. Der heutige EDF-Chef François Roussely meint beruhigend: „Der gesamte Betrieb beruht auf dem Prinzip des Lastenausgleichs, das überall in Frankreich gleiche Strompreise garantiert. Dieser Gleichheitsgrundsatz wird nicht angetastet.“19
Ministerpräsident Jean-Pierre Raffarin schlug sogar die Einführung eines Sozialtarifs vor, der sozial freilich nur dem Namen nach ist und gegenüber der heutigen Regelung eher einen Rückschritt darstellt. Ein öffentliches Dienstleistungsunternehmen ist nicht dem Profitprinzip verpflichtet und muss daher in der Lage sein, alle Bürger mit Strom zu versorgen. Jetzt aber, so Yves Salesse, „gibt der Staat ein Interventionsinstrument aus der Hand“.
Gegen diesen Ausverkauf mobilisiert die Gewerkschaft des Energiesektors, und zahlreiche Beschäftigte folgen dem Aufruf gegen eine Privatisierung, die für Frankreich das Ende öffentlicher Versorgungsunternehmen bedeuten würde. Und diesmal ist nicht Brüssel daran schuld: Die EU-Verträge verpflichten die Mitgliedstaaten zwar zu Wettbewerb, mit keinem Wort aber dazu, ihre öffentlichen Dienstleistungsunternehmen zu privatisieren.
Der Countdown läuft. Die Sozialistische Partei hat die Privatisierung verurteilt. Doch erinnern wir uns: Ihr Minister Dominique Strauss-Kahn erklärte im Mai 1997, die Linke werde private Kapitalbeteiligungen an France Télécom nie genehmigen. Was sie aber fünf Monate später widerrief.
deutsch von Bodo Schulze
* Journalist