11.06.2004

Befunde aus dem Demokratielabor

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Befunde aus dem Demokratielabor

DER alte Gegensatz zwischen den Flamen und den Französisch sprechenden Wallonen, der das kleine Belgien traditionell strapaziert, wird inzwischen durch eine dritte „communauté“ relativiert: die belgischen Muslime – seit 1974 sind sie als Glaubensgemeinschaft staatlich anerkannt. Auch um ihre Stimmen werben die belgischen Parteien vor der Wahl zum Europäischen Parlament am 13. Juni. Mit einer Ausnahme: Der rechtsextreme Vlaams Blok hat sich neuerdings darauf verlegt, antiarabische Ressentiments zu bedienen, und spielt sich als Beschützer der in Belgien lebenden Juden und als Verteidiger der israelischen Regierung auf. Doch diese neuen Sympathien sind auch vielen belgischen Juden suspekt.

Von SERGE GOVAERT *

In Belgien haben „Volksgruppenkonflikte“ eine andere Bedeutung als in anderen Ländern Europas. Artikel 1 der Verfassung von 1993 definiert Belgien als einen föderalen Staat, der sich aus Volksgruppen (communautés) und Regionen zusammensetzt. Belgien zählt drei Gemeinschaften: die flämische, die französischsprachige und die deutschsprachige. 70 000 Belgier im Osten des Landes sprechen Deutsch. Zwischen der flämischen und der französischen Gemeinschaft gibt es häufig und immer wieder Reibereien, und das Zusammenleben war zum Teil erheblich erschwert.

Auf der anderen Seite bildet Belgien auch ein beeindruckendes Mosaik anderer nationaler Volksgruppen, die im Laufe der zahlreichen Einwanderungswellen ins Land kamen. Viele Zugewanderte haben seither die belgische Staatsangehörigkeit erworben. Knapp 10 Prozent der Bevölkerung Belgiens stammen aus dem Ausland.

In Saint-Josse-ten-Noode, einer der 19 Gemeinden im Großraum Brüssel, liegt der Ausländeranteil bei 70 Prozent. Dort sind die „gebürtigen Belgier“ im Gemeinderat und im Ratskollegium (Bürgermeister und seine Stellvertreter) seit kurzem in der Minderheit. In einem Land, in dem der Vorsitzende der größten französischsprachigen Partei, der Sozialist Elio di Rupo, Sohn eines italienischen Einwanderers ist, bedeutet das überhaupt nichts Besonderes. Und auch die aus anderen EU-Ländern stammenden Bürger dürften kaum noch als Ausländer wahrgenommen werden. Was in einer Gemeinde wie Saint-Josse-ten-Noode dennoch überrascht, ist die Tatsache, dass von den sieben Beisitzern des Bürgermeisters zwei von marokkanischen, einer von kongolesischen (ehemaliges Zaire) und ein weiterer von türkischen Eltern abstammt. In den belgischen Großstädten dagegen sind die größte Ausländergruppe die Araber.

Die Ausländer mit belgischer Staatsangehörigkeit bilden eine immer wichtigere Wählergruppe, die zudem immer schneller wächst. Seit 1984 das neue Staatsbürgergesetz verabschiedet wurde, ließen sich knapp 540 000 Ausländer einbürgern, davon rund ein Drittel seit dem Jahr 2000.

Seit den 1980er-Jahren sind die eingebürgerten Ausländer auch in Gemeinde- und Provinzräten vertreten. Im Brüsseler Regionalparlament stammen 8 der 75 Abgeordneten von marokkanischen oder tunesischen Eltern ab. In der Repräsentantenkammer (Parlament) sind 6 von 150 Volksvertretern Kinder marokkanischer, algerischer oder türkischer Eltern – fast alle gehören der sozialistischen oder der grünen Partei an. Manche von ihnen verdanken ihr Mandat den „Vorzugsstimmen“1 . Sie profitieren also wahrscheinlich von den Stimmen ihrer Herkunftsgruppe, die ihnen auf der Kandidatenlisten eine bessere Platzierung verschafft.

Die „ausländischen“ Abgeordneten bilden also eine neue communauté, deren Einfluss nicht zu vernachlässigen ist. Die meisten von ihnen – und das ist ihre auffälligste Gemeinsamkeit – sind muslimischen Glaubens. Obgleich die Abgeordneten maghrebinischer Herkunft nicht unbedingt praktizierende Muslime sind, muss man sie in gewisser Weise doch als politische Vertreter der muslimischen Wähler betrachten.

Belgien kennt die Trennung von Staat und Kirche, wie sie im laizistisch-republikanischen Frankreich fest verankert ist, nicht. Seit der Unabhängigkeit 1830 garantiert die Verfassung die Religionsfreiheit, der Staat bezahlt die Pfarrer und Priester anerkannter Glaubensgemeinschaften, gibt Geld für die Instandhaltung der Gotteshäuser und subventioniert den kirchlich erteilten Schulunterricht.

Seit 1974 ist neben dem katholischen, dem protestantischen, dem anglikanischen, dem jüdischen und dem christlich-orthodoxen Glauben auch der Islam staatlich anerkannt. Jahrelang beschränkte sich die Unterstützung durch den Staat jedoch auf die Möglichkeit, an öffentlichen Schulen Islamunterricht zu erteilen.

Angesichts der schätzungsweise 400 000 muslimischen Bürger sah sich der belgische Staat allerdings genötigt, noch mehr zu tun. Da der Islam keinen institutionalisierten Klerus kennt, beschloss man, Wahlen zu einem „Zentralen Kultusorgan“ zu veranstalten. Das Problem war dabei der Wahlmodus. Anstatt von den praktizierenden Gläubigen auszugehen und die Wahl über die Moscheen zu organisieren, entschied man sich für eine Repräsentation nach „ethnischer“ Zugehörigkeit. Gleichwohl besitzt der Staat seit 1998 in der „Exekutive der Muslime Belgiens“ – die in einem zweistufigen Wahlverfahren von allen sich selbst als Muslime verstehenden Personen gewählt wurde2 – einen zentralen Ansprechpartner. Zwar werden die Imame und die Instandhaltung der Moscheen noch immer nicht vom Staat bezahlt, doch im Prinzip steht dem nichts mehr im Wege. Dem Vernehmen nach haben mehr als 120 Moscheen beantragt, dieselben Finanzleistungen in Anspruch nehmen zu können wie die Kirchen und Synagogen.

Die Anerkennung dieses von einem relevanten Teil der belgischen Bevölkerung praktizierten Glaubens musste in einem schmerzlichen und langwierigen Prozess erworben werden. Hinzu kam, dass einige Personen, denen Beziehungen zum radikalen Islam nachgesagt wurden, aus Gründen der Staatssicherheit von der „Exekutive der Muslime Belgiens“ ausgeschlossen blieben. Was für ein eigenartiges Land: Da wird eine gerade erst anerkannte Religion einer Reihe von Regeln unterworfen, die anderen Konfessionen erspart bleiben, weil diese Religion ein institutionelles Gleichgewicht zu stören droht, das im Laufe der Jahre mit Bedacht und großer Vorsicht aufgebaut wurde. Das Ergebnis: Die muslimische Exekutive ist umstritten, unvollständig (mehrere Mitglieder haben zwischenzeitlich ihr Amt aus verschiedenen Gründen niedergelegt) und im Grunde ziemlich machtlos.

Die laicité à la Belge ist seit einiger Zeit einer harten Belastungsprobe ausgesetzt. Mit der wachsenden Bedeutung des Islam spielt die Religion im öffentlichen Raum (wieder) eine sichtbare Rolle. Darauf muss der Staat reagieren. Zumal sich Muslime neuerdings auch in den verschiedenen Parlamenten zu Wort melden. Zwar wahren die muslimischen Abgeordneten in ihren öffentlichen Stellungnahmen eine gewisse Zurückhaltung (wie bei der Ernennung von Religionslehrern oder in hygienischen und ökologischen Detailfragen des Hammelfests), doch zu heiklen Themen, wie etwa dem Kopftuchstreit, können sie nicht schweigen.

Der merkwürdige Wandel des Vlaams Blok

BEI den letzten Parlamentswahlen kam die radikalmuslimische „Partei Staatsbürgerlichkeit Wohlstand“ (PCP) in einigen Brüsseler Kommunen mit hohem Immigrantenanteil auf 3 Prozent der Stimmen. Im Vorfeld der Wahlen hatte die PCP für mehrere Mädchen Partei ergriffen, die in Laeken (Großraum Brüssel) von der Schule verwiesen wurden, weil sie sich weigerten, ihr Kopftuch abzulegen.

In Belgien gibt es heute weit mehr Muslime als Juden. Im Mai 1940 wurden 70 000 Menschen jüdischen Glaubens gezählt. 24 000 Juden fielen der NS-Vernichtungspolitik zum Opfer, heute wird ihre Zahl auf 35 000 bis 40 000 geschätzt. Staatlicherseits werden sie aus nahe liegenden Gründen nicht erfasst. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind keine Juden mehr zugewandert.

Zahlreiche historische Untersuchungen zeigen, dass die jüdischen Einwanderer in den 1930er-Jahren mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten wie die marokkanischen und die türkischen Immigranten fünfzig Jahre später. Auch sie stießen damals auf Ablehnung und wurden diskriminiert. Der Zusammenprall unterschiedlicher Kulturen, eine gewisse Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt sowie vermeintliche oder tatsächliche Probleme im alltäglichen Zusammenleben führten zu Spannungen, die von den nationalistischen Parteien geschürt wurden. Vor allem in Flandern und Antwerpen entstanden in den Vorkriegsjahren antisemitische Bewegungen und Parteien, die für den Ausschluss der Juden aus dem öffentlichen Bildungs- und Gesundheitswesen, oder zumindest für ihre Gettoisierung in eigenen Institutionen plädierten.

Dieser Diskurs der Ausgrenzung und Stigmatisierung – der die flämischen nationalistischen Parteien wie den Vlaamsch Nationaal Verbond (VNV) mit Beginn der Besatzung 1940 in die Arme der Nazis trieb – unterscheidet sich nicht grundsätzlich vom heutigen Diskurs des Vlaams Blok, der im Wahlbezirk Antwerpen bei den letzten Parlamentswahlen rund 25 Prozent der Stimmen erringen konnte.

In seiner Anfangszeit, in den 1980er-Jahren, hatte der Vlaams Blok auch einige bekannte Kollaborateure in seinen Reihen, zum Beispiel Jef François, der 1941 als Befehlshaber der Zwarte Brigade (Schwarze Brigade) mit der deutschen Wehrmacht an der Ostfront kämpfte. Nach der Befreiung wurde er zum Tod verurteilt, kam aber nach acht Jahren wieder frei. Der Vlaams Blok fordert für alle Kollaborateure eine Amnestie und für die so genannten „Opfer der Repression“ im Gefolge der Befreiung sogar Entschädigungszahlungen. Zwar stimmte er für das Gesetz vom 23. März 1995, das „die Verleugnung, Verharmlosung, Rechtfertigung oder Billigung des vom deutschen nationalsozialistischen Regime während des Zweiten Weltkriegs begangenen Völkermords unter Strafe stellt“, doch einer der Antwerpener Führer der Partei, der Rechtsanwalt Rob Verreycken, hat vor Gericht den wohlbekannten flämischen Negationisten Siegfried Verbeke verteidigt.

Dass der Vlaams Blok bei der jüdischen Gemeinschaft Misstrauen auslöst, ist also unvermeidlich. Gleichwohl sucht er sich seit einigen Jahren systematisch bei den belgischen Juden lieb Kind zu machen, wofür er mindestens drei gute Gründe hat. Zum einen kann er damit ideologischen Balast aus der Vergangenheit abwerfen. Zum anderen gewinnt er an Respektabilität und kann sich im Parlament als Mitstreiter der traditionellen Rechten und der Liberalen im Kampf gegen den Antisemitismus profilieren. So wollte Guido Tastenhoye vom Vlaams Blok in einer gemeinsamen Anfrage mit dem liberalen Abgeordneten Claude Marinower von der Regierung wissen, wie sie auf „die antisemitischen Äußerungen des malaisischen Ministerpräsidenten Mahathir Mohamad“ zu reagieren gedenke und weshalb sie „die Veröffentlichung der EUMC-Studie3 über den Antisemitismus in Europa nicht genehmigen“ wolle. Und drittens kann sich der Vlaams Blok damit umso besser auf seinen eigentlichen Feind – die Araber – konzentrieren.

Die Antwerpener Vlaams-Blok-Abgeordneten Gerolf Annemans und Guido Tastenhoye legen dieses Kalkül ganz offen dar: „Bei den Juden Belgiens und vor allem im Antwerpener Diamantenviertel und den angrenzenden Straßen herrscht große Besorgnis wegen des zunehmenden Antisemitismus einer Reihe radikaler einheimischer Muslime (…), Juden werden in aller Öffentlichkeit belästigt (…), jüdische Einrichtungen wurden bereits Opfer von Anschlägen (…), dies alles ist völlig inakzeptabel (…), Polizei und Justiz müssen hier mit aller gebotenen Schärfe reagieren.“

Der beste Verbündete beim Bemühen, die Antwerpener Juden für sich zu gewinnen, ist für den Vlaams Blok die „Arabische Europäische Liga“ (AEL) des Diyab Abou Jahjah. Der Antwerpener libanesischer Abstimmung versucht seit einigen Jahren, die Muslime von ganz Flandern für seine politische Bewegung zu gewinnen. Bei den Parlamentswahlen im Mai 2003 reichte es der AEL – die auf einer gemeinsamen Liste mit der radikalkommunistischen „Arbeiterpartei Belgiens“ (PTB) antrat – in Antwerpen zwar nur zu 0,9 Prozent der Stimmen, aber der Parteiführer ließ sich dadurch nicht entmutigen. Vor kurzem gründete er die „Moslim Democratische Partij“ (MDP), die bei den flämischen Regionalwahlen mit einer eigenen Liste antreten wird.

Seine große Stunde hatte Diyab Abou Jahjah Ende 2002, als es nach der Ermordung einen jungen Mannes nordafrikanischer Abstammung im Antwerpener Vorstadtbezirk Borgerhout zu gewalttätigen Ausschreitungen kam. Dabei wurde Jahjah kurzzeitig inhaftiert. Seine Gefolgsleute vergleichen ihn seitdem gern mit Malcolm X – und er lässt es sich gefallen. Sein erklärtes Ziel ist es, den Belgiern arabischer Herkunft ihren Stolz zurückzugeben. Dabei scheut er auch nicht vor gröbsten Vereinfachungen zurück: In Antwerpen, so Jahjah „machen Zionisten und Faschisten die Gesetze“. Da hat es der Vlaams Blok natürlich leicht mit der Behauptung, er allein sei in der Lage, die Juden vor solchen politischen Brandstiftern zu schützen.

Dazu gab es in den letzten Jahren reichlich Gelegenheit. Im Oktober 2000 war es im Anschluss an Ariel Scharons Auftritt auf dem Tempelberg in Jerusalem vor der israelischen Botschaft in Brüssel zu Protestkundgebungen gekommen. Henri Goldman, der damals mit anderen Mitgliedern der „Union des Progressistes Juifs de Belgique“ (UPJB) an der Demonstration teilnahm, erinnert sich: „Um 18.20 Uhr verließ ich die Versammlung und ging nach Hause. Ich hätte keine Minute länger bleiben können. Ein junger Araber in der ersten Reihe hatte geschrien: ‚Drecksjuden!‘. Einer der Organisatoren antwortete darauf über sein Megafon, es sei nicht richtig, so etwas zu sagen, auch nicht im Zorn, den alle teilen würden. Er begrüßte die Anwesenheit fortschrittlicher Juden, die ihre Solidarität mit den Palästinensern bekundeten. Aber der junge Mann blieb. Gegangen bin ich.“4

Im November 2001 wurde in einer überwiegend von Schülern maghrebinischer Abstammung besuchten Schule im Großraum Brüssel ein Lehrer mit jüdisch klingendem Namen eine Stunde lang von seinen Schützlingen übel beleidigt. Dabei flogen auch Stühle. Am 12. Dezember forderte der Abgeordnete Van den Eynde vom Vlaams Blok den Justizminister auf, er solle von seinem Weisungsrecht Gebrauch machen, um zu verhindern, dass die Staatsanwaltschaft den Vorfall zu den Akten legt.

Im März 2004 wurden in Anderlecht (Großraum Brüssel) acht Schüler des Gymnasiums Maimonid von arabischen Jugendlichen angegriffen, während sie in der nächstgelegenen Haltestelle auf die U-Bahn warteten. Seither hat die Schulleitung ihren Schülern untersagt, diese Haltestelle zu benutzen. Am 18. März warfen Unbekannte einen Molotowcocktail auf die Synagoge in der Clinique-Straße im Anderlechter Stadtteil Cureghem, der mehrheitlich von maghrebinischer und türkischer Bevölkerung bewohnt wird. Auch hier war es der Vlaams Blok, der die antisemitischen Handlungen an der Seite der Liberalen im Parlament an den Pranger stellte.

In Brüssel wie in Antwerpen profiliert sich der Vlaams Blok als bedingungsloser Fürsprecher des israelischen Staates, der die „westliche Demokratie“ an vorderster Front gegen die „arabische Bedrohung“ verteidige. Damit stellt sich der Vlaams Blok an die Seite jüdischer Gruppierungen wie der „Zionistischen Organisation Belgiens“ (OSB), die sich zur uneingeschränkten Unterstützung der Regierung Scharon bekennen. Auch diese Gruppierungen haben ihre politische Repräsentanz. Bei den Parlamentswahlen 2003 engagierten sie sich für Frédérique Ries-Goldbergs, eine Kandidatin der französischsprachigen Liberalen (MR). Die ehemalige Fernsehansagerin unterstrich in ihrem Wahlkampf, sie führe „einen permanenten Kampf für die Verteidigung eines historisch und moralisch mit Belgien verbundenen Landes, für die Verteidigung Israels, ein Kind des Zionismus und der Entschlossenheit eines Volkes“. Bei Radio Judaica, dem Sender dieser Strömung, hat man keine Skrupel, die Aktivisten der UPJB und andere antizionistische Juden als „Hofjuden“ zu denunzieren, die keine Juden seien, „sondern vielmehr einem anderen Klub angehören, dem internationalen Klub der verkommenen Subjekte“.

Die heftigen Konflikte zwischen den verschiedenen Gemeinschaften, die im Alltag immer häufiger vorkommen, machen sich auf der politischen Bühne allerdings nur verdeckt bemerkbar. So hat sich etwa bei den Sozialisten und den Grünen die Neigung verstärkt, die israelische Regierung mit Argwohn zu betrachten, seitdem sie immer mehr Wähler – und politische Repräsentanten – unter den Belgiern maghrebinischer und türkischer Herkunft findet. Weshalb ein führender Politiker der Brüsseler Liberalen den Sozialisten schon vorgeworfen hat, „in den Moscheen auf Stimmenfang zu gehen“. Doch die Grenzlinie verläuft keineswegs eindeutig zwischen den linken und den rechten Parteien. Bei bestimmten Themen kommt es immer wieder auch zu parteiinternen Spannungen. Das gilt etwa für die Kopftuchfrage oder wenn sich ein Kandidat eindeutig propalästinensisch oder proisraelisch äußert – und dadurch einen Teil der Wählerschaft abschrecken könnte.

Die Konflikte zwischen den ethnisch-religiösen Gruppen überlagern andere Bruchlinien, die sich durch die belgische Gesellschaft ziehen. Dies sind Konflikte, die sich nicht eins zu eins in den politischen Raum übersetzen lassen. Mit einfachen Antworten wartet in diesem komplizierten Geflecht niemand auf – außer den flämischen Rechtsextremisten. Genau deswegen aber lässt die belgische Politik im Umgang mit diesen Problemen auch so große Vorsicht walten.

deutsch von Bodo Schulze

* Geschäftsführer des Centre de Recherches d’Informations Sociopolitiques (Crisp), Brüssel.

Fußnoten: 1 Das belgische Wahlrecht erlaubt dem Wähler, für eine Parteiliste zu stimmen, womit er die Reihenfolge der Listenkandidaten akzeptiert. Er kann aber auch einen oder mehrere Kandidaten ankreuzen. Mit Hilfe dieser so genannten Vorzugsstimmen kann sich ein Kandidat innerhalb der Liste hocharbeiten und in das betreffende Parlament gelangen. 2 Wahlberechtigt war dabei, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat, sich als Muslim bezeichnet und seit mindestens einem Jahr in Belgien wohnt. Dazu Lionel Panafit, „Die Ethnisierung der belgischen Muslime“, Le Monde diplomatique, Juni 2000. 3 Die „Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ (EUMC) gab einen Bericht in Auftrag, der im März 2003 vorlag. Die Kommission verzögerte die Veröffentlichung mit der Begründung, die statistische Basis der Untersuchung sei unzureichend. 4 Henri Goldman, „Oublier Jérusalem?“, Brüssel (Labor) 2002.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2004, von SERGE GOVAERT