Autoritäre Gesten statt offener Diskussion
SOWOHL US-Präsident Bush als auch sein demokratischer Herausforderer John Kerry treten häufig in Florida auf. Denn unter den dortigen Exilkubanern hat ein Generationenwechsel begonnen: Ihre Jungwähler sind längst nicht mehr so republikanerfreundlich wie die Exilkubaner der ersten Stunde. Am 6. Mai hat Bush die Sanktionen gegen Kuba verschärft, Privatbesuche dorthin erschwert und Geldüberweisungen eingeschränkt. Die harte Linie soll die Wähler beeindrucken und den Druck auf Fidel Castro weiter erhöhen. In Kuba selbst gilt der Comandante auch vielen Funktionären als Hindernis für Reformen. Nach seinem Tod soll die Armee eine kontrollierte wirtschaftliche Öffnung herbeiführen.
Von JANETTE HABEL *
Anfang der Neunzigerjahre schien das Regime in Kuba am Ende zu sein. Denn die Sowjetunion – wichtigster Zuckerabnehmer und Erdöllieferant des Inselstaates – befand sich in Auflösung. Zugleich war das Land international fast völlig isoliert, während sich in den einstmals befreundeten sozialistischen Ländern auf der ganzen Welt neoliberale, offene Systeme etablierten.
Auf Kuba musste eine neue Wirtschaftspolitik her, um sich der veränderten Lage anzupassen. Ab 1994 erhielt sie Konturen: mit einer freien Marktwirtschaft für den Agrarsektor, der Legalisierung des Dollars und der Möglichkeit, mit ausländischer Kapitalbeteiligung Firmen zu gründen. Seit Ende der Neunzigerjahre ist das Wirtschaftswachstum spürbar. Doch die Reformen hatten tief greifende gesellschaftliche Umwälzungen zur Folge, wurde doch das seit der Revolution von 1959 prägende Wertesystem plötzlich regelrecht umgekehrt: Das doppelte Währungssystem spaltete die Bevölkerung in Kubaner mit und ohne Zugang zu so genannten Dollarläden. Insgesamt wurde der Lebensstandard von 1989 bis heute nicht wieder erreicht. Zwar ist das Wachstum des kubanischen Bruttoinlandsprodukts zwischen 2002 (1,2 Prozent) und 2003 (2,6 Prozent) gestiegen, aber die Generation, die in den vergangenen vierzehn Jahren die Hauptlast der schweren Jahre zu tragen hatte, ist am Ende ihrer Kräfte.
Dabei war die seit einigen Jahren praktizierte Politik der Importsubstitution durchaus erfolgreich. Mit den eigenen Rohölreserven kann Kuba seinen Strombedarf fast vollständig decken. Die Tourismusindustrie versorgt sich heute zu 70 Prozent mit lokalen Produkten, was die Kosten der Devisenbeschaffung deutlich senkt. Zugleich erlaubten Forschungserfolge neue Exportinitiativen. Biotechnologische Produkte werden nach Nigeria und Namibia exportiert, die demnächst in der Lage sein werden, eigene Medikamente gegen das HI-Virus herzustellen.
Dennoch ist Kubas Wirtschaftslage nach wie vor prekär. Wegen des gefallenen Weltmarktpreises für Zucker beschloss die Regierung im Jahr 2002, die Zuckerindustrie umzustrukturieren – auch auf die Gefahr sozialer Spannungen hin. Der Staat wickelte die Hälfte seiner unrentablen Raffinerien ab – das kostete 500 000 Menschen den Arbeitsplatz. Zwar versuchen die Behörden ihr Bestes: 100 000 Arbeiter werden umgeschult und beziehen weiter ihr volles Gehalt. Aber die vorgesehene Umsetzung von zehntausenden Industriearbeitern in die kleinbäuerliche Existenz scheitert zum Teil am fehlenden Geld für Saatgut, Dünger und für landwirtschaftliche Maschinen – abgesehen von der sozialen Verunsicherung, die diese Rückkehr zu einer vergangen geglaubten Tradition hervorruft. Die Leute fristen ihr Dasein in den bateys, den Unterkünften der Zuckerarbeiter, mit Hilfe der libretas, der Lebensmittelkarten, und mit kleinen Gelegenheitsarbeiten. „Das ist wie in den Eisenhütten von Lothringen in den Achtzigerjahren, nur ohne die Europäische Union“, kommentierte ein französischer Unternehmer.
Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist entmutigend. Seit 2001 sind die Auslandsinvestitionen zurückgegangen, zum Teil eine Folge des Helms-Burton-Act1 . Schuld daran ist aber auch die äußerst strenge Kontrolle der Wirtschaft durch die Behörden. So ist im letzten Jahr die Zahl der Joint-Venture-Unternehmen um 15 Prozent zurückgegangen. Der Tourismus nimmt zwar kontinuierlich zu, schafft aber nicht genügend Arbeitsplätze. Wie anfällig zudem diese „saubere Industrie“ ist, weiß man seit dem 11. September 2001 und dem Krieg in Afghanistan und im Irak.
Die Finanzlage Kubas ist wegen der fehlenden Devisen Besorgnis erregend. Die Auslandsverschuldung stieg im Jahr 2001 auf 10,9 Milliarden Dollar. Außerdem fordert Russland nicht weniger als 20 Milliarden Dollar – ein Betrag, der nur aufgrund des willkürlichen Wechselkurses von 1:1 zwischen dem kubanischen Peso und dem konvertierbaren Rubel zustande gekommen ist.2 Kubas Staatsschulden gegenüber Venezuela sollen bis Ende 2003 auf 891 Millionen Dollar angewachsen sein.3 Dank eines Abkommens über wirtschaftliche Zusammenarbeit aus dem Jahr 2000 liefert Venezuela an Kuba Rohöl und Raffinerieprodukte zu sehr günstigen Bedingungen. Dafür begleicht Havanna im Wesentlichen seine Schulden damit, Ärzte, Trainer und Lehrer nach Caracas zu schicken. Außerdem bekommen Studenten aus Venezuela Stipendien für kubanische Universitäten. Und Patienten werden aus Venezuela eingeflogen, damit sie hier behandelt werden können.
Wegen der akuten Geldnot wird seit letztem Jahr der Devisenhandel kubanischer Exportunternehmen kontrolliert. Nicht alle Wirtschaftsexperten halten diese Maßnahme für hilfreich. Manche sehen darin einen Rückfall in den staatlichen Dirigismus, wodurch die Reformen der vorangegangenen Jahre in Frage gestellt würden. Die aktuelle Rezentralisierung untergrabe die notwendige finanzielle Unabhängigkeit der Unternehmen. Wenn die Regierung mit dem Geld der Firmen soziale Projekte finanziert, so das Argument, können Unternehmen weder investieren noch verlässlich planen.
Diese Probleme werden in aller Offenheit diskutiert. Verschiedene Wirtschaftsexperten sind der Ansicht, das Potenzial der bisherigen Reformen sei ausgeschöpft und man müsse eine neue Strategie entwickeln. Pedro Monréal und Julio Carranza4 sehen das so: Kuba habe bei seinem Eintritt in das 21. Jahrhundert ein für karibische Inseln typisches Wirtschaftsprofil besessen: Tourismus und remesas – Überweisungen von Exilanten aus den USA –, Zucker und Bergbau. Allein über die natürlichen Ressourcen und die Wirtschaftskraft der Emigrierten sei Kuba in die Weltwirtschaft integriert. Um dies weiterhin zu gewährleisten, schlagen die beiden Wissenschaftler vor, müsse man einen „posttouristischen Wandel“ einleiten.
Nach Monréal und Carranza müsse Kuba den „Export reindustrialisieren“ und sich dabei auf hoch qualifizierte Arbeitskräfte stützen. Der Tourismus sei nur eine „vorübergehende Etappe“. Sie empfehlen eine Strategie, die sich „am Export technologieintensiver Produkte orientiert und radikal vom gegenwärtigen Entwicklungsmodell abweicht, das auf der Importsubstitution beruht“.
Sie kritisieren zudem die „Ambivalenz“ – um nicht zu sagen die Inkohärenz – offizieller Positionen, die behaupten, eine „dauerhafte Koexistenz verschiedener Systeme“ sei durchaus möglich. Monréal/Carranza halten es für unumgänglich, sich für einen Weg zu entscheiden. Ein erfolgreicher Umbau der kubanischen Wirtschaftsstruktur sei unwahrscheinlich, solange es keine „entscheidenden Veränderungen in den wirtschaftlichen Institutionen und bei den Eigentumsverhältnissen“ gebe. Unverzichtbar seien zudem „politische Entscheidungsstrukturen außerhalb des staatlichen Apparates, die wirkungsvoll zwischen den Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen vermitteln können“. Gemeint ist damit ein Angriff auf das Konfliktlösungsmonopol der Partei.
Die Regierung hingegen weist darauf hin, dass ihre Wirtschaftspolitik soziale Ziele verfolge. Sie erklärte die Verbesserung der Bildung zur obersten nationalen Aufgabe und erhöhte ihren Anteil am Haushalt von 6,3 Prozent im Jahr 1998 auf 9,1 Prozent im vergangenen Jahr. 700 Schulen wurden von Grund auf renoviert und mit Computern ausgestattet. Tausende Lehrer wurden ausgebildet – zur Zeit allein 16 000 Lehreranwärter für Kunsterziehung –, um die Schülerzahl pro Klasse auf höchstens 20 zu beschränken. Und die Sanierung der Krankenhäuser soll demnächst anlaufen.
Auch wenn solche Bemühungen für viele so genannte demokratische Länder Lateinamerikas beispielhaft sein könnten, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Teil der Bevölkerung Not leidet und große gesundheitliche Probleme hat. Von Unterernährung betroffen sind vor allem allein erziehende Mütter und ihre Kinder sowie ältere Menschen. In der Regel reichen die für einen Monat verteilten libretas, die nur die Versorgung mit einigen Grundnahrungsmitteln abdecken, für höchstens zehn bis fünfzehn Tage. Und die Preise auf den freien agro mercados sind hoch. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Angela Ferriol geht davon aus, dass etwa 20 Prozent der Bevölkerung in den Städten unter Armut leiden.5 Viele leben von der Hand in den Mund. Geschäfte auf dem Schwarzmarkt und gelegentliche Diebstähle gehören inzwischen zum Alltag.
Die kubanische Soziologin Mayra Espina hebt drei Faktoren der zunehmenden Ungleichheit in der Gesellschaft hervor: die größere Einkommensschere zwischen Arm und Reich, ihre regionale Konzentration in bestimmten Gegenden und das Aufkommen einer neuen sozialen Hierarchie, die sich am materiellen Reichtum als Symbol des Erfolges orientiert.6
Seit den Reformen, so Espina, spielten die Einkünfte der Angestellten im Staatsdienst nur noch eine untergeordnete Rolle gegenüber den – legalen oder illegalen – privaten Aktivitäten. Indes haben sich „die sozialen Dienstleistungen quantitativ und qualitativ verschlechtert“, schreibt sie. Zudem hätten die Wirtschaftsreformen und die Vielschichtigkeit der soziokulturellen Veränderungen dazu beigetragen, das politische Bewusstsein und die Identität der Betroffenen in Frage zu stellen. Diejenigen mit den meisten Schwierigkeiten gerieten noch mehr an den Rand der Gesellschaft, und die Spannungen zwischen Weißen und Schwarzen hätten sich verstärkt. Und die Ungleichheiten zwischen den Regionen werden immer größer. So sollen im Osten der Insel 22 Prozent der Bevölkerung mittellos sein.
Die Statistiken spiegeln diese Entwicklung wider. 1998 waren noch 94 Prozent der Kubaner Angestellte des Staates, heute sind es 20 bis 25 Prozent weniger. Während das durchschnittliche Haushaltseinkommen zwischen 1991 und 1999 stagnierte oder nur leicht zugenommen hat, „sind die Einkommen von Familien, die in der Schattenwirtschaft tätig sind, um das Vierfache gestiegen“, wie Angela Ferriol betont. Im Februar dieses Jahres erschien ein Bericht in der Wochenzeitung Bohemia7 über die blühende Untergrundökonomie: Zwischen Januar und Oktober 2003 entdeckte die Polizei 181 illegale Werkstätten, 525 nicht angemeldete Fabrikationsanlagen und 315 Warenlager. Und ein beim Staat angestellter Wirtschaftsexperte meint, dass man „angesichts der Krise und der niedrigen Gehälter nicht viel gegen Veruntreuungen und Korruption machen kann“.
In ihrem Buch „Una nueva clase social en Cuba?“8 stellt Juana Conejero „Veränderungen in der Klassenstruktur“ der Gesellschaft fest. Abgesehen von den privaten Kleinbauern, den Betreibern von paladars, privaten Restaurants, und den Händlern, die mit kleinen Geschäften vom Tourismus profitieren, entstehe im Zusammenhang mit den Auslandsinvestitionen möglicherweise eine neue soziale Klasse von einheimischen Unternehmern. Dieser Frage ist auch schon der Soziologe Haroldo Dilla in einem äußerst umstrittenen Artikel über die neuen „Genossen und Investoren“9 nachgegangen. Gemeint sind damit die Manager von Firmen mit ausländischer Beteiligung oder auch von Staatsbetrieben, die vom Markt abhängig sind, und nicht nur dessen Erfordernisse, sondern auch dessen Ideologie übernommen hätten. Aus der Fusion der politischen Elite mit dem bizness, wie es auf Kuba heißt, könnte auf diese Weise eine neue soziale Schicht in der kubanischen Gesellschaft entstehen.
Denn in privaten Unternehmen oder Firmen mit privater Kapitalbeteiligung ist die Akkumulation von Kapital auf gesetzlichem Weg nicht möglich. Sie funktioniert also nur mit Hilfe von Korruption. Sie ist bisher noch begrenzt, aber aufgrund der Armut, der Währungsdualität und der Autonomie von Tourismusunternehmen dürfte sie kaum noch aufzuhalten sein. Die Regierung hat eine große Offensive gegen „diesen Krebs, der die Revolution zersetzt und gefährlicher ist als eine amerikanische Bombe“, in die Wege geleitet. Tatsächlich könnte hier eine soziale Basis für eine Opposition entstehen, die langfristig für das Regime bedrohlicher werden kann als alle Dissidentengruppen zusammen.
Die großen Tourismusunternehmen in Kuba besitzen großen Einfluss. Ihnen unterstehen jeweils mehrere hundert Betriebe. Das Tourismuszentrum Varadero erwirtschaftet allein 40 Prozent der Umsätze der Fremdenverkehrsholding Gran Caribe. Es hatte für 2003 Umsatzzuwächse von 25 Prozent gegenüber dem Vorjahr angekündigt.
Im vergangenen Jahr wurde Vega del Valle, Vorsitzender der staatlichen Hotelbetriebsgesellschaft Cubanacan, neben mehreren anderen Führungskräften seines Amtes enthoben. Als Chef eines Konzerns, auf den 40 Prozent aller Einnahmen in diesem Sektor entfallen, dessen Umsätze auf 800 Millionen Dollar geschätzt werden und der aus 15 Tochterfirmen, 23 Joint-Ventures und 9 Auslandsniederlassungen besteht, hatte sich Vega del Valle angeblich „schwere Managementfehler“ zuschulden kommen lassen. Dass im Zuge der Geldwechselkontrollen seit vergangenem Jahr auch Veruntreuungen aufgeflogen sind, wurde von den Behörden zwar dementiert. Immerhin musste aber auch der kubanische Minister für Tourismus seinen Hut nehmen.
Ersetzt wurden die beiden durch Offiziere, die zuvor das Tourismusunternehmen Gaviota geleitet hatten – als größte Wirtschaftsmacht auf der Insel sind die Revolutionären Streitkräfte zunehmend in den Bereichen Tourismus, Landwirtschaft, Industrie, Transportwesen, Kommunikation und Elektronik aktiv. Das Militär besetzt Schlüsselpositionen in der Regierung und in der Führung der Kommunistischen Partei. Abgesehen vom Politbüro untersteht auch die ideologische Abteilung des Zentralkomitees einem Soldaten – Oberst Rolando Alfonso – und das Kubanische Institut für Radio und Fernsehen (ICRT) wird von Oberst Ernesto Lopez geleitet. Solche hohen Offiziere haben ein Wirtschaftsstudium nach den Vorgaben des kapitalistischen Managements absolviert. Nun treiben sie die marktwirtschaftlichen Reformen und die „Vervollkommnung“ der staatseigenen Unternehmen voran. Sie arbeiten an einer Umstrukturierung, die dank größerer Entscheidungsspielräume die Rentabilität und Effizienz dieser Betriebe verbessern soll.
In der zunehmend vielschichtiger werdenden kubanischen Gesellschaft existiert politische Homogenität nur zum Schein. Wie soll man über die Akzeptanz von Vielfalt und das staatliche Gebot von Gleichheit sprechen, wie über das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und dem Kollektiv? Solche Diskussionen können nicht öffentlich ausgetragen werden. Der junge Historiker Armando Chaguaceda Noriega, der an der Universität von Havanna lehrt, hat – zuerst im Internet – einen Artikel veröffentlicht, um „die Diskussion unter Kollegen anzuregen“10 . Es sei doch irrig anzunehmen, eine Gesellschaft verfüge über einen „genetischen Code für Einmütigkeit“. Er stellt fest, dass es in großen Teilen der Gesellschaft immer noch eine linke Geisteshaltung gebe, die sich allerdings in zwei Strömungen wiederfindet. Es existiere eine „internationalistische antikapitalistische Linke, die das Recht auf Rede- und Meinungsfreiheit reklamiert“, und daneben „eine reformistische Linke, für die – innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft – die wirtschaftliche Entwicklung im Vordergrund steht“.
Längst hätte ein Kongress der KP stattfinden sollen
NACH Noriegas Auffassung ist das Problem der Ersteren, dass sie sich vom Alltag der Leute zu weit entferne, wohingegen bei Letzterer die Gefahr bestünde, dass sie – unbeabsichtigt – die Akkumulation von Kapital fördern würden. Daher empfiehlt Noriega ein Bündnis zwischen beiden, um dem „Wiedererstarken konservativer Kräfte im Staatsapparat“ etwas entgegenzusetzen.
8,2 Millionen Kubaner, 98 Prozent der Wahlberechtigten, haben im Juni 2002 einer Änderung von Artikel 3 der Verfassung zugestimmt. Danach ist fortan „der Sozialismus und das revolutionäre politische und soziale System, das in dieser Verfassung niedergelegt ist, unwiderruflich, und Kuba wird nie wieder zum Kapitalismus zurückkehren“. Die Wähler konnten nur mit Ja stimmen, Ablehnung war nur durch Nichtteilnahme möglich. So lautet die Antwort der Führung auf die Forderung nach wirtschaftlichen und politischen Reformen, die unter dem Namen „Varela-Projekt“ bekannt geworden sind, angeregt durch den christlichen Aktivisten Oswaldo Payá. Für das Varela-Projekt kamen 11 000 Unterschriften zusammen. Gefordert werden unternehmerische Freiheit, die Legalisierung privater Geschäfte, ein freier Arbeitsmarkt, allgemeine Wahlen und politischer Pluralismus.
Indem das Regime den Sozialismus für unwiderruflich erklärte, wurde die Debatte von vornherein im Keim erstickt. Das hat die Verheißungen des Marktes für manche Teile der Gesellschaft nur noch begehrenswerter gemacht. Seit vor vier Jahren der kleine Elián nach Kuba zurückgekehrt ist11 , hat „die Schlacht der Ideen“ – O-Ton Fidel Castro – sprich die politischen Kampagnen, Dauerdemonstrationen und die Kontrolle der sozialen Organisationen – das ersetzt, was man eigentlich unter öffentlicher Debatte versteht. Der Abstand zwischen der Bürokratie und der Bevölkerung wächst – Armando Chaguaceda Noriega nennt es „die Verengung des Spielraums für politische Partizipation“. Die Partei taugt offenbar nicht mehr als politisches Forum. Schon vor zwei Jahren hätte der letzte Kongress der Kubanischen Kommunistischen Partei stattfinden sollen. Er steht bis heute noch nicht einmal auf dem Programm.
Wie stark der Widerspruch zwischen dem politischen Schein und der sozialen Wirklichkeit Kubas ist, offenbart sich in allen Schichten der Gesellschaft. „Für viele, darunter auch die Söhne der höchsten Politiker, ist der einzige Ausweg und der einzige Traum, das Land zu verlassen“, stellt die katholische Kirche fest. Denn nachdem sie in ihrer Heimat eine durchaus anspruchsvolle Ausbildung absolviert haben, finden die jungen Akademiker nur selten eine Arbeit, die ihrer Qualifikation entspricht.
Auch die rigide Zensur der Medien und der restriktive Zugang zum Internet werden zunehmend kritisiert. Trotz gegenteiliger Behauptungen der Behörden sind diese Hindernisse „keineswegs nur technischer Natur“12 . Zwar stimmt es, dass der Verfall des Telefonnetzes und die geringe Zahl der verfügbaren Anschlüsse den Zugang ins Internet erschweren. Und es stimmt auch, dass Washington offen angekündigt hat, man werde auch das Internet nutzen, um das kubanische Regime zu destabilisieren. Doch all das kann nicht die Tatsache rechtfertigen, dass der Staat die Verbindungen überwacht, dass man sie nur über Institutionen oder am Arbeitsplatz herstellen darf und dabei „die geltenden Regelungen beachten“ muss. Die Behörden sind „entschlossen, mit aller Härte gegen Illegale vorzugehen“, hat der Minister für Informatik und Kommunikation erklärt. Strafbar macht sich damit jeder, der sich auf anderem Weg den Zugang ins Internet verschafft.
Auch in Künstlerkreisen ist eine gewisse Enttäuschung spürbar. Laut dem Schriftsteller Abilio Estévez13 bleibt für die tonangebende Generation die Gesellschaft durchaus ein Thema, das aber mit „einem Blick voll Bitterkeit und Skepsis“ betrachtet wird. Durch sein eigenes Werk zieht sich die Sehnsucht nach der Vergangenheit. Die Revolution und der Katholizismus, sagt Estévez, hätten eines gemeinsam: Letzterer „opfert die Gegenwart im Namen des Himmels und des Paradieses; die Revolution opfert die Gegenwart im Namen der Zukunft. Aber die Zukunft interessiert mich nicht. Mich interessiert, wie ich heute lebe.“14
Im Gegensatz zu den Künstlern werden Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen und Politikwissenschaftler hingegen einer schärferen Kontrolle ausgesetzt. Nachdem 1996 das gesamte Leitungsgremium des Forschungszentrums für Amerikastudien versetzt worden war,15 werden in der Zeitschrift Temas vorsichtig Möglichkeiten sondiert, wie man sich untereinander austauschen kann. In diesem Zusammenhang muss man auch die Repressionen von 2003 sehen. „Es hat mir wehgetan, diese Leute in den Tod zu schicken, aber es musste sein“, erklärte Fidel Castro später in einem Interview, das Oliver Stone gefilmt hat,16 und gestand damit nicht nur seine persönliche Verantwortung für die Todesurteile ein, sondern auch das Fehlen einer unabhängigen Justiz. Um die Revolution zu retten und „um die Welle des Terrorismus zu brechen, musste man das Übel an der Wurzel packen“.
Am 3. Mai, dem Welttag der Pressefreiheit, verlieh die Unesco den Guillermo-Cano-Preis an Raul Rivero, den zu zwanzig Jahren Haft verurteilten kubanischen Dichter und Journalisten. Seine Gefangenschaft zeigt das Regime von seiner hässlichsten Seite. Man kann die Menschenrechte nicht auf die sozialen Rechte beschränken, indem man diese zu den einzig realen Menschenrechten erklärt, gegenüber denen die Personenrechte rein formeller Natur seien. Demokratische Freiheiten sind nicht zuletzt aus funktionalen Motiven unverzichtbar, bedingen sie doch wirtschaftliche Effizienz und können den Missbrauch von Macht abwehren. Aber auf Kuba ist dieses Thema tabu. Die Probleme sind eben nicht nur ökonomischer, sondern auch politischer Natur.
„Alle wollen wirtschaftliche Reformen, außer Fidel“, erklärt ein hoher kubanischer Funktionär. Wie viele andere in der politischen Führung glaubt auch er, dass es nach Castros Tod schwierig sein wird, die notwendigen Kursänderungen vorzunehmen, ohne den Einfluss zu verlieren. Die Führungsriege bereitet sich schon darauf vor – unter der Regie von Fidels Bruder Raúl, dem Verteidigungsminister, müsste der Übergang von der wirtschaftlich einflussreichen Armee gestützt werden. Aber die politische Stabilität wird von der Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen abhängen. Die Möglichkeit dazu besteht: Auch im Politbüro der Kommunistischen Partei sitzen hohe Staatsbeamte, altgediente Parteikader und Offiziere, die eine kontrollierte wirtschaftliche Öffnung durchsetzen wollen.
Wer wird die Richtung vorgeben, wenn der „Vater der Revolution“ nicht mehr lebt? Im gegnerischen Lager, so die Exilantin Martha Frayde, „fehlt dem Land eine geeinte Opposition. Der politische Widerstand ist zersplittert.“17 Im Gegensatz zu dem katholischen Aktivisten Payá wehrt sich die Kirche im Moment dagegen, eine politische Rolle im Land zu übernehmen, auch wenn sie sich – zurückhaltend – auf Payá bezieht. Doch unter gewissen Umständen könnte sie in einer Phase der nationalen Aussöhnung wichtig werden.
Und was werden die Vereinigten Staaten tun? Sobald Castro verschwunden ist, werden sie auf die Wiedereingliederung der kubanischen Eliten setzen, um für stabile Verhältnisse zu sorgen. Sie haben kein Interesse an chaotischen Zuständen. Denn die Ankunft hunderttausender Flüchtlinge an ihrer Südküste wäre ein Sicherheitsproblem von nationaler Größenordnung. Außerdem drängelt die amerikanische Agrarlobby, die bereits jetzt am meisten von Kubas Einkäufen profitiert,18 das Embargo aufzuheben. Der radikale Flügel der Exilanten in Miami wird auf seinem „Rückkehrrecht“ bestehen und auf politische Vergeltung sinnen. Aber für die Kubaner, die geblieben sind und sich mit den alltäglichen Krisen plagen, steht etwas anderes im Vordergrund, nämlich eigenständig, wie Noriega es in seinem Internetbeitrag formulierte, „demokratische Strukturen zu entwickeln, die das System so dringend benötigt“.19
deutsch von Herwig Engelmann
* Hochschullehrerin am Institut des hautes études d‘Amérique latine (IHEAL) in Paris.