11.06.2004

Manövrieren auf engstem Raum

zurück

Manövrieren auf engstem Raum

DIE Strategie der „aufgeklärten Moderation“ will der pakistanische Staatspräsident General Pervez Musharraf für sein Land verfolgen. Nach dem unerwarteten Regierungswechsel im Nachbarland Indien streben Delhi und Islamabad die Fortsetzung der begonnenen Aussöhnungspolitik an – deren Erfolg wird sich vor allem an der Entwicklung in der Unruheregion Kaschmir ablesen lassen. Doch Musharraf kann sich auch in dieser Frage nur mit äußerster Vorsicht bewegen. Seine Rolle im „Krieg gegen den Terror“ hat ihn anfällig gemacht für die Kritik der pakistanischen Islamisten, die er nicht frontal anzugreifen wagt.

Von JEAN-LUC RACINE *

Pakistan gehört zu den Ländern, in denen die Nachwirkungen des 11. September 2001 besonders deutlich zu spüren sind. Staatspräsident Musharraf kann sich dem Druck aus Washington nicht entziehen und hat in den drei für die USA wichtigen Bereichen einen Kurswechsel vollziehen müssen. Das betrifft erstens den „Krieg gegen den Terrorismus“ und al-Qaida in Afghanistan, der aufgrund des Wiedererstarkens der so genannten Neotaliban1 erneut aufgelebt ist. Es betrifft zweitens die Beziehungen zu Indien, um eine Deeskalation im Kaschmirkonflikt und die Wiederaufnahme des Entspannungsdialogs zwischen den beiden Atommächten zu ermöglichen, und drittens die Weitergabe von Atomwaffentechnologie (was freilich nicht offen ausgesprochen wird).

General Musharraf seinerseits versuchte, die pakistanischen Zugeständnisse zu minimieren: In der Kaschmirfrage blieb er bis 2003 hart, gegen die Taliban und al-Qaida ordnete er größere Militäraktionen an, die aber kaum erfolgreich waren. Und er bemühte sich, seine Macht abzusichern, indem er mit den Islamisten verhandelte, ohne die Interessen der wichtigsten Machtelite – der Armee – zu gefährden.

Die Kunst, noch den kleinsten Manövrierraum zu nutzen und alle Klippen zu umschiffen, beherrscht der Präsident und Militärchef nahezu perfekt. Seine Politik hat ihm die Gunst der Bush-Regierung eingebracht, aber auch die erbitterte Feindschaft terroristischer Gruppen, die im Dezember 2003 gleich zweimal versuchten, ihn zu ermorden. Indien hat sein Misstrauen gegen Musharraf nicht aufgegeben, und die Pakistaner fragen sich, wie lange er noch durchhalten wird.

Der Oberste Gerichtshof Pakistans hatte Musharrafs Staatsstreich vom Oktober 1999 abgesegnet. Doch zugleich machte er dem General, der sich 2001 durch eine Volksabstimmung als Staatspräsident bestätigen ließ, die Auflage, bis Ende 2002 Parlamentswahlen durchzuführen. Musharraf beugte sich, tat jedoch alles, um die wichtigsten parlamentarischen Kräfte zu schwächen. Die Muslimliga (PML) und die Pakistanische Volkspartei (PPP) waren ohnehin benachteiligt, weil ihre Führer (Nawaz Sharif bzw. Benazir Bhutto) im Exil waren. Der Präsident stützte die Qaid-e-Azam (PML-Q) eine Abspaltung der Muslimliga, und duldete die Bildung eines neuen „Aktionsbündnisses“ von sechs islamistischen Parteien, der Muttahida Majlis e-Amal (MMA).

Aus den Wahlen im Oktober 2002 ging die PML-Q mit 78 von 342 Sitzen als stärkste Partei hervor, gefolgt von Bhuttos PPP-P mit 63 Sitzen. Die Islamisten der MMA erzielten mit 45 Sitzen einen beachtlichen Erfolg. Nach langwierigen Verhandlungen konnte der neue Ministerpräsident Zafarullah Jamaili Khan (PML-Q) sein Kabinett nur knapp durchbringen – dank der Unterstützung von einigen Überläufern aus der PPP. Zwischen den Islamisten, die in der an Afghanistan grenzenden unsicheren North West Frontier Province (NWFP) eine Mehrheit errungen hatten, und dem Staatspräsidenten kam es zu heftigen Konflikten. Die populärsten Islamistenführer Qazi Hussain Ahmed, Emir der Jamaat-e-Islami (JI), und Fazlur Rahman, Chef einer Fraktion der Jamaat-e-Ulema-e-Islami (JUI), machten Front gegen die proamerikanische Haltung von „Busharraf“ und kritisierten, dass er als Präsident zugleich Generalstabschef blieb. Doch das waren eher Scheingefechte. Die in die politischen Machtstrukturen eingebundenen Islamisten suchten ihren Vorteil: In Balutschistan, der Provinz mit der längsten Grenze zu Afghanistan, koalierte die MMA mit Musharrafs PML-Q, um an der Provinzregierung beteiligt zu werden. Ein Jahr später erneuerte sie im Parlament Musharrafs Mandat als Staatspräsident. Solche taktischen Spielchen der MMA sind die Regel – die Macht wird ohnehin von der Armee ausgeübt.

General Musharraf hatte nach dem 11. September 2001 rasch begriffen, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als seine Afghanistanpolitik umzupolen und beim „Krieg gegen den Terrorismus“ mitzumachen. Die Proteste der Islamisten verhallten: Pakistan wurde „Frontstaat“ und unterstützte die US-Truppen im Kampf gegen die Taliban. Als die traditionell antipakistanische Nordallianz Kabul erobert hatte und in der von den USA gestützten Regierung Karsai wichtige Posten erhielt, fühlte sich Islamabad allerdings übergangen: Man hätte gern mehr Paschtunen im Kabinett gesehen und befürchtete, Indien könnte unter der Hand seinen Einfluss in Afghanistan zurückgewinnen.

Als Verbündeter der USA musste sich Pakistan auch an der Jagd auf al-Qaida beteiligen, ging aber in den Stammesgebieten der Nordwest-Grenzprovinz eher halbherzig zu Werke. In diesem traditionellen Rückzugsraum für Flüchtlinge aus Afghanistan hatte die pakistanische Armee nie viel zu bestellen. Als die Streitkräfte jetzt einrückten – auch um die Stämme auf die neue Politik zu verpflichten – bekamen sie nur wenige Al-Qaida-Leute zu fassen. Die wichtigsten Festnahmen gelangen in pakistanischen Städten. Als 2003 im Osten Afghanistans neue Taliban-Gruppen aktiv wurden, machte Washington seinem „treuen Verbündeten“ allerdings unmissverständlich klar, dass er in Zukunft wirksamer vorgehen müsse.

Die Beziehungen zwischen Indien und Pakistan waren nach Musharrafs Machtübernahme zunächst schlechter, danach aber deutlich besser geworden. Noch vor seinem Staatsstreich hatte der General 1999 die Armee in das Kargil-Gebiet im indischen Teil Kaschmirs vorrücken lassen. Der „Kargilkrieg“ war zwar nur ein lokales Kräftemessen, aber er zerstörte die Ansätze einer Normalisierung zwischen den feindlichen Nachbarn2 und bewog Indien, eine neue Doktrin zu entwickeln, nach der ein begrenzter Krieg unter dem Schutzschirm der nuklearen Abschreckung führbar sei. Nach dem Anschlag auf das Parlament in Neu-Delhi am 13. Dezember 2001 marschierten indische Truppen an der gesamten Grenze zu Pakistan auf. Diese zehn Monate dauernde „Operation Parakram“ (Macht) mündete zwar nicht in einen offenen Konflikt, aber die internationale Gemeinschaft – die den Kaschmirkonflikt aufmerksam verfolgt – zeigte sich von dieser neuerlichen Zuspitzung sehr beunruhigt.

Am 12. Januar 2002 erklärte Musharraf, Pakistan wolle den heiligen Krieg nicht unterstützen, weder in Kaschmir noch anderswo. In Delhi blieb man skeptisch: Solange muslimische Kämpfer aus Pakistan nach Kaschmir einsickerten, kam eine Wiederaufnahme des Dialogs mit Islamabad nicht in Frage.

Bei den Wahlen im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir Ende 2002 errang eine neue politische Kraft überraschende Erfolge. Die muslimische Demokratische Volkspartei (PDP) stellte in Koalition mit der Kongresspartei den Ministerpräsidenten und kündigte Verhandlungen mit allen Konfliktparteien einschließlich der Separatisten an. Daraufhin beschloss man auch in Delhi, den Konfrontationskurs zurückzufahren. Am 18. April 2003 gab Ministerpräsident Bihari Vajpayee anlässlich eines Auftritts in Srinagar bekannt, dass Indien „zum dritten und letzten Mal“ Pakistan „die Hand zur Versöhnung reichen“ wolle.

Pakistan reagierte wohlwollend – nicht zuletzt unter dem Eindruck des Irakkriegs. Nach ausgiebigen informellen Kontakten kündete die Rückkehr der Botschafter erstmals eine neue Annäherung an. Nach weiteren vertrauensbildenden Gesten erklärte Islamabad schließlich am 23. November den einseitigen Waffenstillstand an der UN-Demarkationslinie in Kaschmir. Daraufhin verkündete auch Indien von sich aus eine Waffenruhe.

Nach dem Treffen von Vajpayee und Musharraf beschlossen beide am 6. Januar 2004 einen „umfassenden Dialog“ über alle strittigen Fragen3 , also auch über den Kaschmirkonflikt.4 Musharraf versicherte, künftig dürfe „kein unter pakistanischer Kontrolle befindliches Territorium als Basis für terroristische Aktivitäten genutzt werden“. Zwei Wochen zuvor hatte er erklärt, sein Land werde womöglich nicht auf den UN-Resolutionen von 1948 bestehen, die eine Volksabstimmung in Kaschmir fordern. Das waren zwei entscheidende Zugeständnisse an Indien.

Wie geplant begannen die Verhandlungen im Februar 2004. Trotz einiger Misstöne5 und obwohl es zunächst um zweitrangige Probleme ging, schien vorsichtiger Optimismus erlaubt. Die Zukunft Kaschmirs stand offiziell noch gar nicht zur Debatte. Während Islamabad sich nach wie vor gegen die von Indien verfolgte Legitimierung der De-facto-Teilung Kaschmirs sperrt, führt Delhi bereits Gespräche mit hochrangigen Vertretern einer Fraktion der Separatistenbewegung, die sich 2003 gespalten hat.

Der indisch-pakistanische Dialog kam also wieder in Gang. Doch zugleich tauchte ein neues heikles Problem auf: die Weitergabe von Atomwaffentechnologie. Nachdem sich der Iran zur Zusammenarbeit mit den Kontrolleuren der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) bereit erklärt hatte, mussten die Pakistaner Anfang Februar 2004 einräumen, dass sie tatsächlich Nukleartechnologie an Libyen, den Iran und Nordkorea geliefert hatten.

Aber das Regime fand einen eleganten Ausweg, indem es den Hauptverantwortlichen zu einem öffentliches Schuldeingeständnis bewegen konnte: Abdul Qadir Khan – der „Vater der pakistanischen Atombombe“ – erklärte, die Lieferungen seien ohne Wissen der Behörden erfolgt. Die Staatsführung konnte sich von dieser durch Profitgier motivierten „privaten Initiative“ distanzieren, war zugleich aber bereit, dem Missetäter zu „vergeben“. Dass die US-Regierung dieses Lügenmärchen akzeptierte und Musharraf sogar ein vorbildliches Verhalten attestierte, demonstriert die hohe Flexibilität, mit der Washington je nach Interessenlage agiert. Auch Indien spielte mit: Um den Normalisierungsprozess nicht zu gefährden, ließ man die Sache auf sich beruhen.

Wohl als Beweis des guten Willens – und um die peinlichen Bekenntnisse von Abdul Qadir Khan zu überdecken – startete Islamabad Mitte Februar seine erste militärische Großoffensive im Stammesgebiet von Waziristan. Ihr Höhepunkt war ein zwölftägiges Gefecht nahe Wana, wobei parallel dazu Verhandlungen mit mehreren Stammesführern liefen. Die damals groß verkündete Gefangennahme von Aiman al-Sawahiri, „Nummer zwei“ von al- Qaida, erwies sich freilich als voreilige Falschmeldung.

Am 30. März stellte die Armee die Kampfhandlungen ein, nachdem sie 46 Soldaten verloren und militärisch nicht allzu viel erreicht hatte. Dennoch fühlte sich US-Außenminister Colin Powell bereits am 18. März bei seinem Besuch in Islamabad zu der Erklärung bemüßigt, er werde dem Kongress vorschlagen, Pakistan zu den „wichtigsten Verbündeten außerhalb der Nato“ zu zählen.6 In Delhi war man empört: Diese Klassifizierung bedeutet vor allem eine Ausweitung der Waffenlieferungen, die Pakistan von den USA bezieht, seitdem Washington die Sanktionen aufgehoben hat, die 1998 wegen der Atomwaffentests und 1999 wegen des Staatsstreichs verhängt worden waren.

Obwohl er eine Zivilregierung zulassen musste, hat General Musharraf es verstanden, schrittweise seine Macht zu festigen. Die Frage bleibt, ob er seine ambivalente Strategie wirklich aufgeben will. Einem seiner Vorgänger, General Zia ul-Haq, war es in den 1980er-Jahren gelungen, im Bündnis mit den USA gegen die sowjetischen Besetzer Afghanistans den Islam und die Mudschaheddin für die Interessen Pakistans zu instrumentalisieren. Damals ging es vor allem darum, Afghanistan zu kontrollieren und die atomare Aufrüstung voranzutreiben. Als 1989 in Kaschmir der Aufstand gegen Indien begann, eröffneten sich neue Möglichkeiten: Auch an dieser zweiten Front konnte, durch geschickte Zusammenarbeit mit kaschmirischen Gruppen, der Einfluss Pakistans in der Region gestärkt werden.

Diese Taktik ist nicht nur durch den Sturz des Taliban-Regimes obsolet geworden. Weil Indien wirtschaftlich und militärisch an Gewicht gewonnen und sich den USA angenähert hat, kann trotz der nuklearen Abschreckungspotenziale heute von einem Machtgleichgewicht in der Region kaum noch die Rede sein. Nach dem 11. September 2001 traten die Widersprüche in der pakistanischen Politik schärfer hervor. Indien durfte sich darüber empören, dass Pakistan fortdauernd islamistische Gruppierungen in Kaschmir unterstützte, was so gar nicht zu den offiziellen Bekenntnissen zum Bündnis mit den USA und zur Bekämpfung der al-Qaida passte. Pakistan erlebte nicht nur die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten und die Anschläge auf Ausländer. Ende 2003 zeigten die beiden Attentate auf Präsident Musharraf eindeutig, dass mit einer Politik, die sich mit niemandem anlegen will, kein Staat mehr zu machen ist. Islamabad hatte 2002 alle militanten Gruppierungen verboten, aber nicht verhindert, dass sie sich neu formierten. Und nun wendet sich ausgerechnet eine dieser Fraktionen mit der Waffe des Terrors gegen die Machthaber.

In Pakistan selbst wuchs nach diesen Zwischenfällen der Druck auf das Regime, endlich konsequent gegen islamistische Extremisten vorzugehen. Zugleich versuchte die internationale Gemeinschaft, durch verstärkte Wirtschaftshilfe die Destabilisierung des Landes zu verhindern, das über Atomwaffen verfügt. Bislang konnte Musharraf als Staatspräsident seine Generäle ebenso in Schach halten wie die parlamentarisch gezähmten Islamisten. Doch wie die Partie ausgeht, ist offen.

Mit seinem Bekenntnis zu einem modernen gemäßigten Islam versucht Musharraf, den pakistanischen Gründungsmythos zu beschwören. Das „Land der Reinen“, mit seinen 150 Millionen Einwohnern, wurde einst als Vorbild für die gesamte muslimische Welt gegründet. Das aktuelle Erscheinungsbild Pakistans wird dem nicht mehr gerecht. Offen ist auch, ob Pakistan gegen Indien bestehen kann, das die Rolle einer Vormacht in der ganzen Region anstrebt.

deutsch von Edgar Peinelt

* Forschungsdirektor am CNRS (Centre d’études de l’Inde et de L’Asie du Sud de l’EHSS), Autor u. a. von „La Question identitaire en Asie du Sud“, Paris (Editions de l’EHESS) 2002, sowie von „Cachemire. Au péril de la guerre“, Paris (Autrement) 2002.

Fußnoten: 1 Als „Neotaliban“ werden jene Gruppierungen bezeichnet, die neuerdings im Osten Afghanistans aktiv sind und denen Verbindungen zu den exilierten alten Machthabern nachgesagt werden. 2 Im Februar 1999 trafen sich die Ministerpräsidenten Indiens und Pakistans in Lahore, um die Grundlinien einer Beendigung der Atomwaffentests zu vereinbaren. 3 Das Treffen der beiden Präsidenten fand im Januar 2004 in Islamabad statt, am Rande der Konferenz der Südasiatischen Vereinigung für Regionale Zusammenarbeit (SAARC), auf der die schrittweise Einführung einer Freihandelszone beschlossen wurde. 4 Beim Gipfeltreffen in Agra im Juli 2001 hatte es wegen der Unstimmigkeiten über Kaschmir keine gemeinsame Erklärung gegeben. 5 Zweimal musste das Präsidententreffen verschoben werden, das die Eröffnung einer Buslinie zwischen dem indischen und pakistanischen Teil Kaschmirs – ein Projekt von hoher symbolischer Bedeutung – absegnen sollte. 6 Dennoch weigern sich Pakistan und Indien, ohne UN-Mandat Truppen in den Irak zu entsenden.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2004, von JEAN-LUC RACINE