Asymmetrische Feindschaft
Die Bereitschaft junger Menschen, in einem Selbstmordattentat zu sterben und dabei möglichst viele Menschen mit in den Tod zu reißen, gibt zahllose Rätsel auf. Das Selbstmordattentat gilt als die letzte wirksame Waffe der Schwachen in einem asymmetrischen Krieg – das ist die einzige „moralische Legitimation“, die sich zu ihrer Verteidigung anführen lässt. Weltweit steigt die Zahl der Selbstmordanschläge, während die Zahl der „normalen“ terroristischen Attentate rückläufig ist. Auch wenn vielfach religiöse Motive angeführt werden, geht es zumeist um politische Interessen, und so ähnlich sich die Taten scheinen, so verschieden sind Motive und Zusammenhänge. Doch was genau unterscheidet den Anschlag auf das WTC von Selbstmordanschlägen der Tamil Tigers? Eine kurze Untersuchung über eine neue weltweite Erscheinung, über ihre Hintergründe und Auswirkungen.
Von PIERRE CONESA *
WIR haben keine Fliegerbomben und Raketen, keine Panzer, Flugzeuge und Helikopter. Uns bleibt doch gar keine andere Möglichkeit.“ Mit diesen Worten versuchte Scheich Abdallah Sahmi, der Führer des Islamischen Dschihad im Gaza-Streifen, in der Zeitung ABC vom 21. August 2001 eine Rechtfertigung der Selbstmordattentate. Damit ist allerdings noch nicht erklärt, warum immer mehr Selbstmordattentate verübt werden, während die Zahl terroristischer Anschläge zurückgeht. Selbstmordaktionen sind Ausdruck einer Ideologie, die sich offenbar ebenso leicht weitergeben und exportieren lässt wie die zugehörige Technik. Innerhalb weniger Jahre haben sie sich als billige, „intelligente Waffe“ für eine neue Terroristen-Generation etabliert.
Der Selbstmordanschlag ist ein Gewaltakt, der keine Rücksicht auf zivile Opfer kennt und darauf beruht, dass die ausführenden Terroristen den Tod finden. Der immer wieder bemühte Vergleich mit den japanischen Kamikaze-Kämpfern trägt zum Verständnis dieses neuen Phänomens wenig bei, denn die Japaner verstanden sich als Soldaten und ihre Angriffe richteten sich auf militärische Ziele. Im Zentrum der heutigen Anschläge steht jedoch die Opferbereitschaft – in einem zunehmend mythisch aufgeladenen Kontext.
Bis heute hat es in mehr als dreißig Ländern oder Krisengebieten Selbstmordanschläge gegeben.1 Vierunddreißig Länder mussten Anschläge auf ihre Einrichtungen im Ausland hinnehmen.2 Zwischen 1982 (als diese Form des Angriffs aufkam) und April 2000 zählte man durchschnittlich sechzehn Anschläge pro Jahr, inzwischen sind es neununddreißig.
Entstanden ist der Selbstmordanschlag als Kampfform im Krieg gegen eine Besatzungsmacht. Ursprünglich im Libanon (1982) gegen Israel und die „UN-Besatzer“ gerichtet3 , tauchte die Kampfform alsbald auch in anderen Ländern auf: 1987 in Sri Lanka, 1994 nach dem Blutbad in der Moschee von Hebron in Palästina, 1995 in der Türkei, im Juli 1999 in Kaschmir, 2000 in Tschetschenien (und 2002 in Russland), und seit 2003 im Irak. Diese Form des indirekten Angriffs richtete sich auch gegen als feindlich angesehene Ausländer: gegen die USA (2001 in Kenia und Tansania), gegen Australien (2002 in Indonesien), gegen Frankreich (in Pakistan und im Maghreb im April und Mai 2002). In Saudi-Arabien und Pakistan sind Selbstmordanschläge seit Jahren eine Waffe in den Kämpfen zwischen Bevölkerungsgruppen oder Religionsgemeinschaften, ähnlich seit 2003 auch im Irak. Und wie der Anschlag auf den afghanischen Kriegsherrn Schah Massud zeigt, werden Selbstmordanschläge mitunter auch zur Begleichung hochrangiger Zwistigkeiten eingesetzt. Der Anschlag auf das World Trade Center macht die „Globalisierung“ derartiger Gewalttaten deutlich: Attentäter aus sechs – und Helfer aus fünfzehn – Ländern waren beteiligt, die 3 052 Opfer stammten aus über hundert Ländern.
Mittlerweile gibt es die unterschiedlichsten Ziele: Einrichtungen der Vereinten Nationen, Touristenhotels (im kenianischen Mombasa), Nachtclubs (Bali), Synagogen (Djerba, Buenos Aires und Istanbul), ein Wohnviertel ausländischer Araber (Saudi-Arabien), eine Bank (Istanbul), ein Kriegsschiff (die „USS Cole“), ein Tanker (die „Limbourg“). Und es gibt eine große Zahl unschuldiger Opfer.
Auch die Landkarte der Anschläge hat sich inzwischen deutlich ausgeweitet. Fanden sie zunächst nur auf dem Gebiet des militärischen Gegners statt (Israel, Sri Lanka), so kam bald das Staatsgebiet einer verhassten Macht (USA) oder auch eines muslimischen Landes (Tunesien, Marokko), ja sogar von islamistisch regierten Staaten (Saudi-Arabien, Türkei) hinzu.
Weitgehend, doch nicht ausschließlich, ist der Selbstmordanschlag eine Erfindung der muslimischen Welt. Die hinduistischen Tamil Tigers4 in Sri Lanka übernahmen die Kampfform von der schiitischen Hisbollah im Libanon. Ihrem ersten Selbstmordanschlag fielen am 9. Juli 1987 vierzig Soldaten der Regierungstruppen zum Opfer. Seither haben sie viele Selbstmordattentate verübt: Fast 200 werden ihnen insgesamt zugeschrieben – weit mehr als den Palästinensern. Auch die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) griff, obwohl sie damals laizistisch und leninistisch war, auf das Mittel zurück, als sie militärisch geschwächt war und sich neu formieren wollte. Letztlich spielt das Motiv der Nachahmung eine ebenso große Rolle wie religiöse Überzeugungen. 1982 verübte die libanesische Hisbollah die ersten Selbstmordanschläge, erst 1994, nach mehr als einem Jahrzehnt und einem Umweg über Sri Lanka, griffen die Palästinenser das Mittel des Selbstmordanschlags wieder auf.
Die Attentäter selbst sind durchaus nicht nur Fanatiker aus den ärmsten Bevölkerungsschichten oder irregeleitete junge Leute, die womöglich auch noch unter Drogeneinfluss stehen. Die Attentäter vom 11. September 2001 stammten alle aus Familien der Mittelklasse, hatten studiert, und keiner von ihnen war zuvor wegen militanter Aktivitäten aufgefallen.
In manchen Fällen sind persönliche Gründe im Spiel, etwa bei der jungen palästinensischen Rechtsanwältin Hanadi Tayssir Dscharadat, die mit ihrem Attentat in Dschenin (Oktober 2003) den Tod ihres Bruders und ihres Verlobten rächen wollte, während solche Motive für die Selbstmordattentäter in Kaschmir5 – Studenten pakistanischer Koranschulen – oder für die indonesischen Islamisten, die australische Touristen in Bali umbrachten, nicht ausschlaggebend waren.
Die Zunahme dieser Art von Anschlägen erklärt sich vor allem aus dem Misserfolg anderer Formen des Terrorismus. In den Jahren 2000 bis 2002 machten Selbstmordanschläge nur 1 Prozent der palästinensischen Attentate aus – dabei kamen 44 Prozent aller Attentatsopfer bei Selbstmordanschlägen ums Leben. Allein im Jahr 2002 gab es in Israel mit 59 Toten fast so viele Opfer wie in den acht Jahren zuvor (62).
Obwohl die Selbstmordattentate die „wirksamste“ Art des Terrorismus darstellen – weil der Attentäter den Ort und den Augenblick für die Tat bestimmen kann –, bleibt die Bedeutung derartiger Kampfformen für das angegebene Ziel zweifelhaft. Sie bieten einige „Vorteile“. Man braucht keinen Rückzugsplan: Einige der Attentäter nehmen sich das Leben, wenn ihr Plan scheitert – die tamilischen Terroristen etwa hatten stets eine Zyankalikapsel bei sich. Zudem fordern Selbstmordattentate, wie eine Studie der Rand Corporation belegt6 , durchschnittlich viermal so viele Opfer wie klassische Attentate. Außerdem können sie den Gegner empfindlich treffen: mitten in seinem eigenen Territorium, in New York, Washington, Tel Aviv oder Moskau; auch Staatspräsidenten, Regierungschefs und andere noch so geschützte Personen sind nicht unangreifbar. Nach israelischen Schätzungen kostet die Durchführung eines solchen Attentats nicht mehr als 150 Dollar. Auch die Bilanz der Anschläge des 11. September ist auffällig: Sie haben knapp eine Million Dollar gekostet, aber den USA einen wirtschaftlichen Schaden von schätzungsweise 40 Milliarden Dollar zugefügt.
Es gibt immer weniger Einzeltäter: bei dem Anschlag in Marokko waren elf, bei den Anschlägen des 11. September neunzehn Täter beteiligt, und vierzehn tamilische Attentäter führten am 24. Juli 2001 den Angriff auf den Luftwaffenstützpunkt in Colombo aus.
Diese Form des Terrors ist inzwischen erschreckend verbreitet. Man kann zwei verschiedene Arten von Selbstmordattentaten unterscheiden: Die einen finden in lang andauernden Krisengebieten statt, die anderen richten sich gegen einen globalen Feind – „den Westen“, „die Juden“ und so weiter. Die erste Variante hat sich in vergleichbaren politisch-kulturellen Zusammenhängen – in Palästina wie in Sri Lanka, in Kaschmir wie in Tschetschenien – als Reaktion auf das seit Generationen andauernde Leiden der Bevölkerung entwickelt. Die Tschetschenen waren unter Stalin wegen der ihnen vorgeworfenen Kollaboration mit den Deutschen deportiert worden, die Palästinenser hatten die „Katastrophe“ der Vertreibung von 1948 zu erdulden7 , die Tamilen wurden unter der britischen Kolonialherrschaft zur Zwangsarbeit auf Plantagen deportiert, nach der Unabhängigkeit waren sie staatenlos, dann wurden sie zu Singhalesen und schließlich teilweise wieder zu Indern erklärt. Selbstmordanschläge sind stets Spätfolgen – zwei oder drei Generationen nach den ursprünglichen Katastrophen fordern die Nachkommen der Opfer die uneingelösten Hoffnungen ein.
Gewalt und Tod prägen dieses Milieu, nur so konnte allmählich der Märtyrer den Kämpfer als subkulturelles Leitbild ablösen. In einem Klima der Todesnähe, unter dem Eindruck der Gewalt von Besatzungstruppen und der Glorifizierung des Widerstands, wollen viele sich lieber aufopfern als weiterleben. Eine Studie des palästinensischen Psychiaters Ajad al-Sarraj (Begründer des Gaza Community Mental Health Programme)8 , brachte erschreckende Resultate: Ein Viertel der Jugendlichen in Gaza wünscht sich, als Märtyrer zu sterben. Viele wollen nicht mehr zur Schule gehen, weil sie Angst haben, dass, wenn sie nach Hause kommen, ihre Eltern verhaftet oder getötet worden sind oder das Haus der Familie zerstört wurde. „Während der ersten Intifada drohte Gefahr nur an den Orten, wo Soldaten und Steinewerfer aufeinander trafen“, erklärt Ajad al-Sarraj.9 „Heute kommt der Tod vom Himmel, und es kann jederzeit jeden treffen – das erzeugt eine permanente Panikstimmung.“
In die Rolle des Feindes schlüpfen
AL-SARRAJ arbeitet unter anderem mit palästinensischen Kindern, deren Gewaltbereitschaft sehr hoch ist. Manche von ihnen haben zusehen müssen, wie ihr Vater oder ein Bruder gedemütigt wurde. Al-Sarraj lässt die Kinder in Rollenspielen in die Rolle des israelischen Soldaten schlüpfen und spricht hinterher mit ihnen über die Erfahrung, die sie dabei machen. Das sll bewirken, dass ihre Gewaltbereitschaft nachlässt.
Der französische NS-Forscher Jacques Semelin hat im Zusammenhang mit dem Völkermord von einer „Rationalität des Irrsinns“ gesprochen – aber eben von einer Rationalität.10 Und nach Emile Durkheim, der in seinem Buch „Der Selbstmord“ den egoistischen vom altruistischen Selbstmord unterscheidet, gehört die Selbsttötung mit dem Motiv der Rache zu den altruistischen Akten. Ein moderner Selbstmordattentäter gibt sein Leben für ein klar umrissenes Kollektiv, er folgt den Vorgaben eines ethnonationalistischen Anspruchs auf ein bestimmtes Gebiet. Und Leute, die potenziell bereit sind, diesen Akt zu vollziehen, finden sich gerade unter den gut ausgebildeten jungen Menschen, die eigentlich auf dem besten Wege sind, das Feld der Gewalt und des Leidens zu verlassen. Doch dann fühlen sie sich plötzlich „verraten“ und wählen den Opfertod.11 In letzter Instanz ist das Ziel ihres Kampfes ein politisches, auch wenn religiöse Motive genannt werden. Stets spielt die Bindung an die Eltern oder an eine Gemeinschaft hinein, und mitunter findet nach dem Selbstmord eine Feier statt, die an eine Hochzeit erinnert.
Auch wenn der Attentäter seinen Anschlag im Geheimen und ohne Wissen seiner Angehörigen vorbereitet hat, bezieht er sich zur Begründung seiner Tat häufig auf seine Familie – anders als die Attentäter vom 11. September. „Ich will das vergossene Blut der Palästinenser rächen, vor allem das Blut der Frauen, der Kinder und der Alten“, erklärte Machmud Achmed Marmasch, der im Mai 2001 bei seinem Selbstmordanschlag in Netanja umkam. „Ganz besonders geht es mir um Vergeltung für den Tod des kleinen Himam Hejo, der mich tief erschüttert hat (…) Ich weihe meine Tat in Demut den Gläubigen, die das Andenken der Märtyrer bewahren und ihr Werk fortsetzen wollen.“
Die immer wieder ergebnislosen Verhandlungsrunden kamen den Palästinensern wie Täuschungsmanöver vor und haben bei ihnen ein Gefühl der Ohnmacht erzeugt. Ihre ersten Anschläge in Israel führte die Hamas aus, um den Oslo-Friedensprozess zum Scheitern zu bringen – nachdem Israel begonnen hatte, neue Siedlungen auf dem für die Palästinenser vorgesehenen Territorium zu bauen. Auslöser war das Massaker vom Februar 1994 in der Ibrahim-Moschee von Hebron: Baruch Goldstein, ein jüdischer Siedler, erschoss damals dreißig Muslime während des Freitagsgebets.
Die traditionellen Formen der politischen Repräsentation sind in die Krise geraten, das gilt für das System der Clans (Beispiel Tschetschenien) ebenso wie für das Parteiengefüge in Palästina (PLO) oder die Kaschmir-Befreiungsfront (JKLF).12 Allgemeiner gesprochen bestärkt die Unfähigkeit der herrschenden Eliten, den Lauf der Dinge zum positiven zu verändern, die Märtyrer in ihrer Entscheidung. Die Rivalitäten zwischen traditionellen Parteien und Gruppierungen (in Palästina ebenso wie unter den Tamilen) schmälern das Vertrauen in diese Organisationen zusätzlich. Ein drastisches Beispiel ist die Kampagne der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) gegen die Tamil Eelam Liberation Organization (Telo), der 1985 fast alle Mitglieder dieser Gruppierung zum Opfer fielen. Anschließend (1986–87) vernichtete die LTTE auch ihre Rivalen von der Revolutionären Eelam Volksfront (EPLRF).
Das Motiv für viele Selbstmordattentate ist die Perspektivlosigkeit. Für viele junge Menschen zählt die Religion oder die Idee des Märtyrertodes heute mehr als die patriarchalischen Strukturen. „Mit dem Koran gegen den Vater“, lautete die Formel, mit der die Soziologin Pénélopé Larzillière den Konflikt zwischen Wahhabismus und sufischen Bruderschaften zusammenfasste. Der Glaube spielt eine wichtige Rolle, aber als auslösendes Moment genügt oft das allgemeine Klima von Todes- und Opferbereitschaft.
Zunehmend sind Frauen an den Anschlägen beteiligt, bei den Palästinensern ebenso wie bei der syrischen Volkspartei PPS, die bei zwölf Selbstmordanschlägen fünf Frauen einsetzte. Die LTTE gründete sogar eine Freiwilligenbrigade für Frauen, die „Schwarzen Tigerinnen“. Manchmal wählen junge Frauen diesen Weg, weil sie von Soldaten der Besatzungsarmee vergewaltigt wurden – zur Demütigung durch die Besatzer kommt in solchen Fällen der Ehrverlust innerhalb der eigenen Gesellschaft. Und in der persönlichen Motivation mischt sich dann der Widerstand gegen die Besatzungsmacht mit dem Aufbegehren gegen die Männerherrschaft.13 Wafa Idriss, die erste palästinensische Selbstmordattentäterin, war von ihrem Mann verstoßen worden, weil sie keine Kinder bekommen konnte, und musste in Schande in die elterliche Familie zurückkehren. Nur durch eine radikale Auflehnung gegen die soziale Ordnung – den Opfertod – glaubte sie diese Schmach tilgen zu können. Es gibt viele solcher Fälle: die Palästinenserin Ahlam Araf Tamimi, die am 9. August 2001 ein Attentat verübte, oder die Tamilin Dhanui, die Rajiv Gandhi ermordete – beide hatten „gesündigt“ und waren unverheiratet schwanger geworden. „Meine Tat richtete sich gegen die Besatzung“, erklärte Fatma al-Said, die nach der Ermordung zweier israelischer Soldaten verhaftet wurde. „Aber ich wollte auch meiner Familie beweisen, dass ich nicht weniger wert bin als meine Brüder, die an die Universität gehen durften, während mir das Studium verwehrt wurde.“14
Die Frage, ob man bei Selbstmordattentaten Unschuldige mit in den Tod reißen darf, ist zumindest hin und wieder ein Streitpunkt. Der von der russischen Regierung nicht mehr anerkannte Präsident Tschetscheniens Aslan Maschadow hat Attentate auf Zivilisten ebenso verurteilt wie der saudische Großmufti Scheich Abdal-Asis al-Scheich und der Mufti Mohammed Sajid al-Tantawi von der Kairoer Al-Aschar-Universität.
Die weltweiten Anschläge mögen religiös motiviert erscheinen, doch letztlich dienen sie politischen Zwecken. Nur ernsthafte politische Bemühungen um Ausgleich werden sie eindämmen können. Die Strategie der Terrorismusbekämpfung durch Gewalt und Kollektivbestrafung ist zum Scheitern verurteilt. „Wir werden den Krieg zu ihnen nach Hause bringen“, erklärt ein Offizier der israelischen Armee. „Dann müssen sie in ihren Häusern kämpfen, und nicht bei uns. Wir führen unsere Einsätze auf ihrem Gebiet aus, und wir sind ihnen überlegen.“15 Seit Beginn der zweiten Intifada sind dreimal so viele Palästinenser wie Israelis getötet worden, und dennoch konnte Ariel Scharons Politik der harten Hand Israel nicht schützen: Auch die Zahl der israelischen Opfer liegt heute dreimal so hoch wie vor fünfundzwanzig Jahren.
Es sind derartige Gewaltstrategien, die den Boden für Selbstmordattentate bereiten. Algerien zum Beispiel kennt solche Anschläge nicht16 , obwohl es nach 1991 einen mörderischen Bürgerkrieg erlebt hat. Dass der Algerienkonflikt noch relativ jung ist, erklärt nicht, warum diese Form des Attentats hier nicht existiert.
Äußerst beunruhigend ist dagegen die zweite (neuartigere) Kategorie der Selbstmordanschläge, deren bisheriger Höhepunkt die Angriffe auf das World Trade Center in New York waren. Der Feind wird als globaler immer wieder neu imaginiert und „verdinglicht“: „Die Juden, die Kreuzfahrer und die Heuchler“ heißt das in den Worten von Ussama Bin Laden, der dabei alle möglichen Angriffsziele in einen Topf wirft und sich auch um die Religionszugehörigkeit der potenziellen Opfer nicht schert. Am 21. Mai 2003 strahlte der arabische Fernsehsender al-Dschasira einen Aufruf von Aiman al-Sawahiri – der „Nummer zwei“ von al-Qaida – an alle Muslime aus, „die Amerikaner zu bekämpfen“ und „die Westler von der arabischen Halbinsel, der ‚heiligen Erde des Islam‘ zu vertreiben“. „Die Kreuzfahrer und die Juden verstehen nur die Sprache des Todes, des Blutbads und der brennenden Häusertürme“, hieß es weiter. „Entscheidet euch, Muslime, die Botschaften der USA, Großbritanniens, Australiens und Norwegens anzugreifen, ebenso wie die Firmen dieser Länder und ihre Angestellten.“
Innerhalb der Netzwerke, denen die Selbstmordanschläge normalerweise zugeschrieben werden, sind inzwischen drei Kämpfergenerationen aktiv. Neben den „Afghanen“, den Veteranen des Krieges gegen die Russen (wie Ussama Bin Laden, der Türke Adnan Ersöz oder der Londoner Prediger Abu Qatada), gibt es eine jüngere Gruppe von „Bosniern“ und „Tschetschenen“, Aktivisten wie der Türke Azad Ekinci, der die Anschläge in Istanbul vorbereitet hat, die Brüder David und Jérome Courtailler oder Menad Benchellali, Sohn eines Imams aus Lyon, der einen Anschlag mit Nervengift auf die russische Botschaft in Paris geplant hat. Diesen erprobten Kämpfern möchte eine dritte Generation nacheifern: Junge Leute um die zwanzig wie etwa der Brite Richard Reid (der Mann mit dem Sprengsatz in der Schuhsohle).
Der Nachwuchs sei, so der türkische Islamismus-Experte Rusen Cakin, in „namenlosen Grüppchen“ organisiert, die durch ein religiöses Wahnsystem und durch die Ideologie der Aufopferung zusammengehalten werden. Ihre Mitglieder sind bereit, für ein verherrlichtes fernes Ziel zu sterben: Den Sieg des Islam, die Wiedererrichtung des Kalifats und die erneute Einheit aller Muslime. Die salafistische Bewegung bietet das Beispiel, wie im verklärenden Bezug auf das Goldene Zeitalter des Islam das Rad der Zeit angehalten werden soll.
Den Feind verdinglichen
DIE Kriegerideologie bietet den Vorteil, dass man einen verdinglichten Feind festlegen kann, der ganz und gar böse ist und als Grund aller Übel und Bedrängnisse gelten kann: die Amerikaner, die Israelis, die Franzosen (aus Sicht der Nordafrikaner). Auf eine eigene Nationalität erheben diese Kämpfer keinen Anspruch mehr, sie reklamieren vielmehr eine Art globaler Identität: die Zugehörigkeit zur weltweiten Umma, der Gemeinschaft der Gläubigen.
Die meisten der Attentäter stammen aus multikulturellen oder entwurzelten Familien, manche haben sogar mehrere Staatsangehörigkeiten. Neben die Moschee als Ort der Zusammenkunft tritt für sie nun das Internetcafé. Die Selbstmordkandidaten schaffen sich so ihre eigene symbolische Weltkarte: Überall, wo sie sind und wo man „legitime“ Anschläge durchführen kann, ist in ihrer Vorstellung islamischer Boden.
Wir haben es hier mit einer erstaunlichen Form von „Glokalisierung“ zu tun. Die Solidarität unter den Kämpfern hat lokale Wurzeln, oft stammen sie – vergleichbar mit Jugendbanden – aus derselben Stadt oder sogar demselben Viertel, kennen sich seit Jahren. Ihre Kontaktleute sind dagegen weltweit unterwegs und sorgen dafür, dass zwischen den einzelnen Gruppierungen keine Verbindungen aufkommen, ja, sie verbauen mögliche Kontakte regelrecht. Die marokkanische Islamistengruppe al-Sirat al-Mustaqim, („Der rechte Weg“), der acht der vierzehn Terroristen von Casablanca angehörten, war halb eine Sekte und halb leine okale Gang aus dem Armenviertel Sidi Moumen – ihr Imam (Richard Robert) dagegen kam aus Frankreich.
Zum Islam bekehrte oder islamisch „wiedergeborene“ Westler17 können sowohl zur Ausspähung künftiger Anschlagsziele eingesetzt werden – wie Richard Reid in Israel – als auch falsche Dokumente beschaffen, indem sie wie Zacarias Moussaoui einen Pass als verloren melden und neu ausstellen lassen. Häufig reisen die Aktivisten nach Pakistan, Afghanistan oder Kaschmir. Am Geld fehlt es nicht: Nach Angaben von Scotland Yard verfügt das Netzwerk der 4 000 islamischen Vereinigungen und ihrer 50 Banken jährlich über einen Etat von drei Millionen Pfund aus den Almosen (zakat) der Muslime. Die Reisen und das Internet tragen dazu bei, den Kampf zu internationalisieren.
Prägend für diese Milieus ist die Bereitschaft, das eigene Leben hinzugeben. Ein Beispiel für die mythischen Vorstellungen, durch die eine Selbstaufopferung selbst für absurde Ziele sinnvoll erscheinen kann, waren die Selbstverbrennungen von Mitgliedern der iranischen Volksmudschaheddin (MKO), als ihre Vorsitzende Mariam Radschawi im Juni 2003 vom französischen Inlandsgeheimdienst DST verhaftet wurde. Solche Phänomene kennt man aus anderen Zusammenhängen. Kollektivselbstmorde gab es unter den Gefangenen der PKK ebenso wie bei verschiedenen Sekten, die den jüngsten Tag erwarteten und sich von Feindschaft und Unverständnis bedroht sahen: Erinnert sei an den Massenselbstmord der Templer unter Jim Jones in Guyana 1978 oder an den der Davidianer unter David Koresh 1993 im texanischen Waco oder an die Massenselbstmorde der Sonnentempler 1994 und 1995 in der Schweiz und in Frankreich.
Für das Versprechen, ihr Los zu bessern – ob auf Erden, nach dem Sieg der gerechten Sache, oder im Jenseits – steht den Militanten ein Führer, ein Guru, ein Emir ein, der als einzige Legitimationsquelle oft nur sein Charisma hat. Richard Robert, der „Imam mit den blauen Augen“, Planer der Attentate von Casablanca (Marokko), stammt aus der Gegend von St. Etiènne. Der Personenkult erzeugt eine quasireligiöse Verehrung der Führungsperson, der man darum auch das Opfer des eigenen Lebens schuldig ist: Das gilt für Mariam Radschawi ebenso wie für Ussama Bin Laden, PKK-Führer Abdullah Öcalan oder Riduan Isamuddin alias Hambali, den militärischen Chef der indonesischen Jamaa Islamija. Oder für Vellupilai Prabha–ka–ran18 : Der im Untergrund lebende LTTE-Führer lädt die Todeskandidaten als Belohnung für ihren künftigen Einsatz zum Abendessen ein – manchmal schenkt er ihnen auch sein Porträtfoto.
Ihre Anschlagsziele wählen die Gruppen im globalen Rahmen: Die Vereinten Nationen, das Rote Kreuz, das World Trade Center, Banken … Ihre Methoden werden immer skrupelloser, so genannte Kollateralschäden werden billigend in Kauf genommen – sogar der Angriff auf Muslime ist nicht länger tabu. Das Vorgehen legitimiert sich aus der Verurteilung aller „Heuchler“, seien es die als „Halbjuden“ denunzierten Schiiten oder die „schwachen“ Gläubigen, denen ein ausschweifendes Leben nach westlichem Vorbild unterstellt wird. Bei den Anschlägen auf die Wohnsiedlung Mohaja in Riad am 8. November 2003 kam kein einziger Westler um, die Opfer stammten aus neunzehn Ländern, überwiegend aus dem Nahen Osten. Und unter den neunzehn Opfern des Anschlags auf eine Synagoge in Istanbul waren nur fünf türkische Juden. Wie der Schweizer Journalist und Chefredakteur von Radio France Internationale Richard Labevière zutreffend festgestellt hat, kann das Al-Qaida-Netz, das Washington inzwischen überall am Werk sieht, längst als „Feind mit Kultstatus“ gelten.
Die Attentate in Istanbul symbolisierten die Abkehr vom traditionellen politischen Islam: Adnan Ersöz, Begründer der türkischen Hisbollah, ist ein „Afghane“, während Azad Ekinci, der die jungen Selbstmordattentäter im Internetcafé von Bingol anwarb und ihnen ihre Instruktionen gab, zur zweiten Generation, den „Bosniern“ und „Tschetschenen“, gehört. Diese Selbstmordanschläge galten einem Land, das im Irakkrieg den USA die Unterstützung verweigerte und wo eine aus dem politischen Islam hervorgegangene Partei an der Regierung ist. Recep Erdogan, türkischer Ministerpräsident und Vorsitzender der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), erklärte nach den Anschlägen: „Dieser Angriff auf unsere jüdischen Mitbürger galt der gesamten Türkei!“ Tatsächlich markieren die Anschläge den Bruch zwischen jenen „verfassungskonformen“ politischen Islamisten, die seit den 1980er-Jahren auf den Erfolg bei Wahlen setzten, und den kleinen versprengten Gruppen, aus deren Reihen nun die Attentäter der neuen Generation kommen.
Natürlich bestehen Zusammenhänge zwischen dem ersten und dem zweiten Typus des Selbstmordattentäters. Die erste Generation lieferte der zweiten die symbolische Vorgabe: den Mythos des islamischen Märtyrertums. Doch sie unterscheiden sich in ihrem Vorgehen. Der Plan eines „weltweiten Kriegs gegen den Terrorismus“ ist genau die falsche Politik, weil er die verschiedenen Gruppierungen und Handlungsweisen nicht auseinander hält. Ob in Tschetschenien, Palästina oder anderswo – der ethnisch-national und religiös grundierten Bereitschaft zum Selbstmordanschlag wird man nur mit politischen Verhandlungen begegnen können. Als Israel seine Truppen aus dem Libanon abzog, sah sich die Hisbollah in ihrer (schon in den letzten Jahren der Besatzung getroffenen) Entscheidung bestätigt, von der Praxis der Selbstmordanschläge Abstand zu nehmen. Die Anschläge der Hisbollah hatten im Übrigen ausschließlich militärischen Zielen gegolten.
In der Regel fordert das brutale Vorgehen von Besatzungstruppen – ob indisch, russisch, srilankisch oder israelisch – weit mehr Opfer als alle Attentate. Es legitimiert zugleich den Terrorismus als die Waffe der Schwachen; und es dient als Rechtfertigung, die Zivilbevölkerung nicht mehr als unschuldige Opfer zu sehen: Sei es, weil Zivilisten selbst eine bewaffnete Gruppe bilden (wie die israelischen Siedler), sei es, weil sie (wie die russischen Einwohner Tschetscheniens) so tun, als wüssten sie nichts von den Massakern an der autochthonen Bevölkerung. Außerdem sorgen die Übergriffe der Besatzer für den nötigen Rückhalt der Terroristen in der Bevölkerung und sichern den Nachschub an Selbstmordkandidaten.
deutsch von Edgar Peinelt
* Autor von Dommages Collatéraux, Paris 2002