Wenn die Perlenschnur reißt
Die Geschichte der Unabhängigkeitsbewegungen verlief in jedem Land, in jeder Region anders, manchmal geplant in Gestalt von Reformen, manchmal spontan als offener, gewaltsamer Konflikt. Schon nach dem Ersten Weltkrieg hoffte man in den Kolonien auf ein Ende der rassistisch-imperialistischen Unterdrückung. Forderungen nach lokaler Mitverwaltung bis hin zu nationaler Unabhängigkeit stützten sich einerseits auf Versprechen der Kolonialherren und Wilsons 14-Punkte-Programm, andererseits auf eigene Initiativen: z. B. Marcus Garvey und die Black-Consciousness-Bewegung oder Mahatma Gandhis gewaltfreie Widerstandsaktionen in Südafrika und Indien. Als am 20. Juli 1954 die 1. Indochinakonferenz endete, wurde Vietnam, nach Indien (1947) und Indonesien (1949), als dritte ehemalige Kolonie völkerrechtlich unabhängig.
Von ALAIN RUSCIO *
AM 20. Juli vor fünfzig Jahren unterzeichneten die Unterhändler Frankreichs und Vietnams in Anwesenheit von Vertretern der USA, Großbritanniens, der Sowjetunion und der Volksrepublik China auf der Indochinakonferenz in Genf ihr Waffenstillstandsabkommen. Unter der Schirmherrschaft der internationalen Gemeinschaft wurde ein verlustreicher Krieg vorläufig beendet. Wenige Wochen zuvor, am 7. Mai 1954, hatten sich die letzten französischen Verteidiger der Festung Dien Bien Phu ergeben – zermürbt und erschöpft nach einer Schlacht von 55 Tagen. Die Aufständischen – von den Kolonisatoren verächtlich-ignorant „Viets“ genannt – hatten eine der stärksten westlichen Armeen und ihre amerikanischen Alliierten besiegt.
Dieses Ereignis hatte eine enorme Wirkung auf die Stimmung in vielen Kolonialländern und besonders in den französischen Überseeprovinzen. Es war gelungen, einen militärischen Sieg über die regulären Truppen einer Kolonialmacht zu erringen. Am 1. November 1954, drei Monate nach der Konferenz in Genf, begann der algerische Befreiungskrieg. Ben Youcef Ben Khedda, der später (1961) Präsident der 3. Provisorischen Regierung der Republik Algerien (GPRA) wurde, erinnert sich: „Am 7. Mai 1954 brachte die Armee Ho Chi Minhs dem französischen Expeditionskorps in Vietnam eine katastrophale Niederlage bei. Bei uns wirkte diese Demütigung Frankreichs wie der Startschuss für die, die für einen sofortigen bewaffneten Aufstand waren (…) – ab diesem Zeitpunkt ging es nur noch darum, loszuschlagen.“1
Lange vor Dien Bien Phu gab es unter den nach Unabhängigkeit strebenden Eliten, aber auch unter den Armen viele Anhänger der von Ho Chi Minh 1941 gegründeten politischen und militärischen Widerstandsorganisation Vietminh, die zunächst gegen die japanische Besatzung im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte. Wenige Monate nach Kriegsende rief Ho Chi Minh am 2. September 1945 die „Demokratische Republik Vietnam“ aus. Nach Verhandlungen mit Paris unterzeichneten die Vertreter Frankreichs (Jean Sainteny) und Vietnams (Ho Chi Minh) am 6. März 1946 in Hanoi einen Vertrag, in dem die „Republik Vietnam“ als „freier Staat innerhalb der Union française“2 anerkannt wurde, mit „eigener Regierung, eigenem Parlament, eigener Armee und Finanzhoheit“. Es wurde zwar sorgfältig vermieden, den Begriff Unabhängigkeit zu verwenden, aber man konnte nichtsdestoweniger den Eindruck gewinnen, als beabsichtige Frankreich, zu seinen Kolonien neuartige Beziehungen anzubahnen.
Als vom 21. bis 26. März 1946 in Paris in der verfassunggebenden Versammlung über die Kolonialfrage debattiert wurde, bezogen sich zahlreiche Delegierte aus den überseeischen Provinzen – etwa Lamine Gueye (aus Französisch-Westafrika3 ) und Raymond Vergès aus Réunion – auf das Beispiel Indochina. Die Abgeordneten der Demokratischen Bewegung der madegassischen Erneuerung (MDRM) brachten sogar einen Gesetzentwurf ein, der exakt die Formulierungen des Abkommens von Hanoi enthielt: Madagaskar solle als „freier Staat mit eigenem Parlament“ usw. anerkannt werden. Natürlich fand diese Eingabe keine Mehrheit. Doch der Stein war ins Rollen gebracht, und für viele Vertreter aus den Kolonien wurde die Entwicklung in Vietnam zum Vorbild, obwohl Frankreich und die vietnamesischen Nationalisten ihre Verhandlungen noch nicht abgeschlossen hatten. So kehrte Ho Chi Minh unverrichteter Dinge von seiner Reise nach Paris zurück, wo er eigentlich den endgültigen Status seines Landes hatte aushandeln wollen.
In den Unabhängigkeitsbewegungen der anderen Kolonien genoss der gebildete, gütige und bescheidene Mann ein hohes Ansehen. Unter dem Namen Nguyen Ai Quoc („der Patriot“) hatte er in den 1920er-Jahren im Pariser Exil die Union Intercoloniale mit begründet und die Zeitschrift Le Paria herausgegeben. Und in den 1930er-Jahren hatte er der Kommunistischen Internationale angehört. Über die Grenzen seiner Heimat hinaus wurde sein patriotischer Einsatz für Vietnam geschätzt. Für viele Menschen im französischen Kolonialreich spielte Ho Chi Minh – allgemein „Onkel Ho“ (Bác Ho) genannt – als erfahrener Ratgeber eine wichtige Rolle. Jacques Rabemananjara, einer der damals jungen Führer der madegassischen MDRM, erinnert sich, was ihn damals bei einem Treffen mit Ho Chi Minh so beeindruckte: dessen Fähigkeit, trotz der Zugeständnisse (Verbleiben in der Union française) das Ziel (die Unabhängigkeit) nicht aus den Augen zu verlieren.
Frankreichs Politik in Indochina war tatsächlich zwiespältig: Der französische Gouverneur Südvietnams proklamierte am 1. Juni 1946 die selbstständige Republik Cochinchina (Südvietnam, Laos und Kambodscha). Gegen den Willen Ho Chi Minhs hatte Frankreich durchgesetzt, dass französische Truppen Vietnam kontrollierten. Nach einer ersten militärischen Konfrontation Ende November 1946 und einem Sabotageakt der Vietminh, den die Franzosen mit einem Massaker an 6 000 Vietnamesen bestraften, rief der militärische Chef der Vietminh, General Vo Nguyen Giap, zum Guerillakrieg auf.
Als sich am 5. Juni 1947 die „Delegierten der überseeischen Provinzen“ im Pariser Velodrom versammelten, um über das Thema „Die Union française in Gefahr“ zu debattieren, fiel immer wieder der Name Ho Chi Minh. Inzwischen gab es nicht nur den französisch-vietnamesischen Konflikt, sondern im März desselben Jahres war ein Aufstand in Madagaskar4 blutig niedergeschlagen worden. Viele der damaligen Redner wurden später Regierungsvertreter in den neu gegründeten Staaten Afrikas. Für das Rassemblement démocratique africain (RDA), damals Teil der kommunistischen Parlamentsfraktion, sprach Felix Houphouët-Boigny, später Präsident der Elfenbeinküste, für die französischen Kommunisten (PCF) der Dichter Aimé Césaire, für die Sozialisten (SFIO) der künftige senegalesische Parlamentspräsident Lamine Gueye. Und für das „Manifeste algérien“ von Ferhat Abbas trat ein Algerier auf, der „Scherif“ genannt wurde.
Die Äußerungen von Zeitzeugen lassen immer wieder deutlich werden, dass man in den Kolonien den Widerstand des Vietminh, der es wagte, die Schutzmacht Frankreich herauszufordern, mit großem Interesse verfolgte. Und natürlich bewegte auch die Studenten in Paris, die aus Kolonialländern kamen, die Frage, ob die „Liga für die Unabhängigkeit Vietnams“ den kräftemäßig überlegenen französischen Kolonialtruppen standhalten könne. Kritik am Kolonialismus war im studentischen Milieu der Zeit vor allem Sache der Kommunisten. In den Kolonialgebieten selbst verhinderten die strenge Zensur und Unterdrückungsmaßnahmen offene Solidaritätsbekundungen. Aber in verschiedenen Schriften des RDA in Schwarzafrika oder des PCF in Algerien wurde ausdrücklich auf den Kampf des vietnamesischen Volkes hingewiesen.
1949 reiste der Schriftsteller Maurice Genevoix durch Afrika und veröffentlichte – wie damals üblich – seine Eindrücke in einem literarischen Reisebericht. „Wo ich auch war“, schreibt er, „ ob in Tunesien, Algerien, Marokko, Senegal, Sudan, Guinea, Elfenbeinküste oder Niger – man hatte schnell begriffen, dass die Ereignisse in Indochina von entscheidender Bedeutung waren. Und das Schweigen zu diesem Thema war beredter als alle Worte.“5
In ganz Nordafrika verfolgte man sehr aufmerksam die Vorgänge in Vietnam. Anfang 1949 schrieb Pham Ngoc Thach, ein prominentes Mitglied im Kabinett von Ho Chi Minh, an Abd el-Krim6 , den alten Führer der aufständischen Rif-Kabylen, der damals im Exil in Kairo lebte. Der Vietnamese bat den Marokkaner, sich mit einem Aufruf an die maghrebinischen Soldaten in der französischen Indochina-Armee zu wenden. Dieser war dazu gern bereit: „Ein Sieg des Kolonialismus, und sei es am anderen Ende der Welt, ist für uns eine Niederlage und ein Scheitern unserer Sache. Und der Sieg der Freiheit, wo auch immer auf der Welt, ist unser Sieg und ein Zeichen, dass wir der Unabhängigkeit näher gekommen sind.“
Im Jahr darauf schickten die marokkanischen Kommunisten auf Wunsch des Vietminh – der die Kontakte mit Hilfe des PCF knüpfen konnte– ein Mitglied ihres Zentralkomitees als Berater zu Ho Chi Minh. Mohamed Ben Aomar Lahrach, im Maghreb als „General Maarouf“ bekannt und von den Vietnamesen „Anh Ma“ getauft, spielte längerfristig eine wichtige Rolle. Er rief seine Landsleute in der Kolonialarmee immer wieder zur Fahnenflucht auf und organisierte die marxistische Schulung von Gefangenen oder Freiwilligen aus Nordafrika.7
Motiviert durch die fortgesetzten Niederlagen der französischen Armee in Indochina, solidarisierten sich die Kolonisierten der Union française mit den Widerstandskämpfern in Vietnam. In den algerischen Hafenstädten Oran und Algier, nicht im französischen Mutterland, fanden die ersten Streiks von Hafenarbeitern gegen die Verschickung von Kriegsgerät nach Indochina statt.
Natürlich machten sich auch die Entscheidungsträger in Frankreich ihre Gedanken über die neue Lage. Sie versuchten, der Solidarität der Kolonisierten eine neue Solidarität der Kolonisatoren entgegenzusetzen. Maurice Genevoix war in seinem afrikanischen Reisebericht zu dem Schluss gekommen: „Wenn die Perlenschnur reißt, werden nacheinander alle Perlen fallen. Das französische Empire ist nur eine davon.“ In Frankreich zog man daraus den Umkehrschluss. Bei den Verfechtern des Kolonialkriegs verband sich die Entschlossenheit, mit der man an der Union française festhielt, mit einem tief verwurzelten Antikommunismus. Sie setzten darauf, dass ein Sieg seine ansteckende Wirkung entfalten würde: besser in Indochina mit aller Härte vorgehen als überall Gewalt einsetzen müssen. So erklärte Georges Bidault, Außenminister in mehreren Regierungen der frühen 1950er-Jahre, die Union française solle als „Einheit“ verstanden werden – Kapitulation in einem ihrer Gebiete werde den Zusammenbruch des gesamten Systems nach sich ziehen.8 Und einige ultrakonservative Veteranen der früheren Kolonialpartei verkündeten im Brustton der Überzeugung, allein durch „hartes Durchgreifen“ in Indochina könne man mit dem „Pseudonationalismus der Eingeborenen“ fertig werden.
Aber es gab auch andere Stimmen in der französischen Politik. Pierre Mendès-France erklärte bereits im Herbst 1950 den Krieg in Indochina für verloren. Man fürchtete, eine Niederlage würde einen Schneeballeffekt auslösen. Frankreich war militärisch nicht mehr gerüstet, gegen eine Vielzahl von Aufständen zu bestehen. Also galt es, die Lage nüchtern zu beurteilen: Auf lange Sicht bedrohe der Krieg in Asien „unsere Zukunft in Afrika, und nur die zählt“, schrieb damals François Mitterrand. Er empfahl den radikalen Schnitt, die Abtrennung des kranken Glieds, bevor der ganze Organismus infiziert werde: „Man muss den Fall Indochina isolieren“, erklärte er. Es ist auch ganz und gar kein Zufall, dass die sogenannte „Indochina-Affäre“ vom Kabinett Mendès-France/Mitterrand abgeschlossen wurde. So konnte man sich ganz auf Algerien konzentrieren9 .
Einschätzungen wie die von Mendès-France wurden jedoch ignoriert, und im Frühjahr 1954 kam es zur Katastrophe in Dien Bien Phu. Vieles deutet darauf hin, dass diese Niederlage in den französischen Kolonien und Provinzen zwischen Algier, Dakar und Antananarivo mit großer Begeisterung aufgenommen wurde.
Am 11. Mai 1954, vier Tage nach der Niederlage, gab der gaullistische Abgeordnete Christian Fouchet bekannt, dass in Marokko viele Franzosen anonyme Briefe erhalten hätten, in denen es hieß: „Casablanca wird euer zweites Dien Bien Phu.“ Und die algerischen Nationalisten waren entschlossen, die Vorbereitungen für den bewaffneten Aufstand voranzutreiben.10
Dien Bien Phu gehört in die Geschichtsbücher: Für Frankreich als Lektion darüber, wie das Beharren auf einem anachronistischen Zustand in der Katastrophe enden kann; für Vietnam bedeutet es schlicht die wiedergewonnene nationale Unabhängigkeit. Darüber hinaus wurde diese Schlacht weltweit als Wendepunkt begriffen, als der Beginn neuer Auseinandersetzungen. Die Kesselschlacht von Tonkin war noch in frischer Erinnerung, als im algerischen Aurès-Gebirge der nächste Konflikt aufflammte. Und kaum ein Jahr später schlossen sich auf der Konferenz von Bandung die „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon) zu einem neuen Bündnis zusammen, aus dem sich später die Bewegung der blockfreien Staaten formierte.11
Zwei Zeitgenossen aus damals feindlichen Lagern kommen nachträglich zu ganz ähnlichen Schlüssen: Ferhat Abbas, der Führer der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, schrieb 1962: „Dien Bien Phu war mehr als ein militärischer Erfolg. Diese Schlacht ist bis heute ein Symbol – das Valmy der Kolonialvölker. Durch sie bekräftigten die Menschen Afrikas und Asiens ihr Selbstbewusstsein gegenüber Europa. Und durch sie wurden die Menschenrechte weltweit gestärkt. Frankreich verlor in Dien Bien Phu die einzige Rechtfertigung seiner Präsenz – das Recht des Stärkeren.“12
Jean Pouget, ehemals Offizier der Kolonialarmee, resümierte anlässlich des 20. Jahrestags der französischen Niederlage erbittert, aber treffend: „Der Fall von Dien Bien Phu markiert das Ende der Kolonialzeit und den Beginn der unabhängigen Staaten der Dritten Welt. Heute gibt es in Asien, Amerika und Afrika keinen Aufstand, keine Revolution oder Revolte, die sich nicht auf den Sieg von General Giap beruft. Dien Bien Phu ist der 14. Juli der Entkolonisierung.“
Und so war es auch: Am 6. November 1955 wird im Abkommen von La Celle-Saint-Cloud die Entlassung Marokkos in die Unabhängigkeit für den 3. März 1956 fest gelegt. Der Sultan kehrt aus dem Exil zurück und übernimmt 1957 als König Mohamed V. die Herrschaft.
Am 20. März 1956 wird Tunesien unabhängig.
Zählte Afrika im Jahr 1959 erst neun souveräne Staaten – Äthiopien, Liberia, Ägypten, Libyen, Sudan, Marokko, Tunesien, Ghana und Guinea –, so folgten im nächsten Jahr neue unabhängige Staaten mit Kamerun (1. Januar), Togo (27. April), Mali (20. Juni), Somalia (1. Juli), Dahomey (später Benin, 1. August), Niger (3. August), Obervolta (später Burkina Faso, 5. August), Elfenbeinküste (7. August), Tschad (11. August), Ubangui-Chari (später Zentralafrikanische Republik, 13. August), Gabun (17. August), Senegal (20. August) und Madagaskar (14. Dezember).
Am 18. März 1962 ist mit den Verträgen von Evian der Algerienkrieg und die französische Kolonialherrschaft in Nordafrika zu Ende. Am 1. Juli 1962 wird Algerien unabhängig.
deutsch von Edgar Peinelt
* Historiker. Autor von „Credo de l‘homme blanc“ (Vorwort von Albert Memmi), Brüssel (Complexe) 2002; 2004 erscheint, in Zusammenarbeit mit Serge Tignères, „Dien Bien Phu, mythes et réalités. Les échos d‘une bataille“, Paris (Les Indes savantes).