09.07.2004

Datteln oder Touristen

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Datteln oder Touristen

Der Bau eines Hauses dauerte im tunesischen Tozeur früher im Durchschnitt 15 Jahre, denn nur wenn die Dattelernte ertragreich gewesen war, konnte weitergebaut werden. Im heutigen Tozeur gibt es neben der Altstadt mit Lehmziegelbauten riesige Villen, Wellblechhütten und Hotelanlagen. Die eigentliche Oase ist seit Jahrhunderten ein einziger Wald von Dattelpalmen. Doch diese Oase ist bedroht.

Von CLAUDE LLENA *

TOZEUR ist eine kleine tunesische Stadt im Nordosten der Sahara, nicht weit von der Grenze zu Algerien. Außerdem ist Tozeur eine der berühmtesten Oasen der Welt. 200 Quellen bewässern hier einen grandiosen Palmenhain von mehr als 1 000 Hektar mit rund 400 000 Dattelpalmen – ein kleines grünes Paradies umgeben von Sandwüste (erg) und Steinwüste (reg).

Seit vielen Generationen ernährt die Dattelpalme den Menschen hier in Tozeur – der gleichsam als „Homo situs“ Teil des Biotops ist. Der Anbau von Obst und Gemüse (Salat, Mangold, Karotten, Tabak, Bananen und Datteln) sichert den sesshaft gewordenen Bewohnern eine ausgeglichene Ernährung.

Denn die keineswegs unbedeutende landwirtschaftliche Produktion basiert auf einem ausgeklügelten Bewässerungssystem – einer Erfindung aus dem 14. Jahrhundert. Mit Hilfe des gadus – das sind Wasseruhren, die nach dem Prinzip von Sanduhren funktionieren – kann die Bewässerung der Felder gleichmäßig dosiert werden. So stand allen Dattelbauern dank dieses Kanalisationssystems arabischen Ursprungs über viele Jahrhunderte das Wasser zur Verfügung, und zwar kostenlos. Eventuelle Streitigkeiten regelte ein unabhängiges Schiedsgericht, in das jeder gewählt werden konnte; die Bewohner der Oase genossen als Selbstversorger eine gewisse soziale Autonomie: So bot die Oase jedem das Notwendige zum Lebensunterhalt. Doch seit Anfang der 1990er-Jahre ist dieses fragile wirtschaftliche und soziale Gleichgewicht in Gefahr, weil die Regierung verstärkt auf den internationalen Tourismus setzt. Um die Urlaubsorte an der Mittelmeerküste zu entlasten, errichtete die tunesische Regierung in Tozeur einen internationalen Flughafen. In einem Dutzend großer Hotels der Luxusklasse (vier und fünf Sterne) wird den Touristen aus aller Welt der perfekte Urlaub geboten. Der Reiseveranstalter hat an alles gedacht: den Ritt durch die Wüste auf dem mehari (Reitdromedar) und am Abend das Berberfest mit folkloristischer Musik.

Mit den Einheimischen tritt der Tourist dabei nicht wirklich in Kontakt; der Besucher ist und bleibt à part. Er bewegt sich in der geschlossenen Welt des kommerziellen Tourismus, und die einzige Beziehung zu den Menschen aus der Region, die überhaupt zustande kommt, ist geschäftlicher Natur. Es gibt keinerlei andere Berührungspunkte.

Der Tourist, der hergekommen ist, um zu konsumieren, konsumiert natürlich auch Wasser, und das in immensen Mengen, folglich wurden neue Wasserleitungen gelegt und neue Brunnen gebohrt, nicht zuletzt auch, um die zu den Hotels gehörenden Rasenflächen und Gartenanlagen zu pflegen.

„Wer reist, ohne dem Anderen zu begegnen, der reist nicht – er wechselt nur den Aufenthaltsort“, schrieb die Reiseschriftstellerin Alexandra David-Neel Anfang des 20. Jahrhunderts. Wer sein Weltbild immer dabei hat, trifft in der Fremde nur auf die Bestätigung seines Weltbildes, weil er nicht die Gelegenheit ergreift, sich auf die lokale Kultur einzulassen und Eindrücke davon mit nach Hause zu nehmen.

Die Bauern in Tozeur, deren Lage sich in der letzten Zeit ohnehin durch Dürreperioden und steigende Durchschnittstemperaturen verschlechtert hat, müssen mit den Hotels um das Wasser konkurrieren. Was früher rational bemessen und gerecht verteilt wurde, ist mittlerweile eine Ware wie jede andere geworden. Wer zahlen kann, bekommt Wasser für seine Felder. Da die Bewässerung eines Palmenhains pro Jahr und Hektar 150 Euro kostet, hat kaum ein traditioneller Landwirt durchhalten können. Wasser ist keine allgemeine Ressource mehr, sondern eine knappe, teure Ware.

Nach und nach wechselten die Arbeiter von der Landwirtschaft in die Tourismusbranche. Ehedem Teil des Biotops, sind sie nun Teil des Verwertungskreislaufs. Sie vollziehen den Wandel vom Homo situs zum Homo oeconomicus.

Besonders hart traf dieser Wandel die schwächsten Mitglieder der Gemeinschaft – die jungen Leute. Einige wenige fanden eine feste Anstellung (CDI) bei den Hotels und Reiseveranstaltern. Die meisten jedoch mussten sich mit Zeitverträgen (CDD) abfinden, und sind somit von der Konjunktur im Tourismusgeschäft abhängig. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ist die Branche jedoch in der Krise; Man lamentiert über das Ausbleiben der Touristen. Mit über 40 Prozent Arbeitslosigkeit ist die Gegend mittlerweile vollständig von außen abhängig geworden.

Diese Abhängigkeit spürt man zuallererst bei den Lebensmitteln. Was sonntags an Obst und Gemüse auf dem Markt angeboten wird, kommt von außerhalb, aus Anbaugebieten, die billiger produzieren können als die Oase Tozeur, aber kein ökologisches und soziales Gleichgewicht kennen. Wo einst der Palmenhain und die Selbstorganisation bestimmend waren, herrscht heute Profitdenken. Das kurzfristige wirtschaftliche Kalkül hat das Gleichgewicht der Gegend ins Wanken gebracht.

Außerdem spürt man die finanzielle Abhängigkeit: Der Tourismus ist zur einzigen Einkommensquelle geworden, weshalb die Gemeinde keine Rücklagen besitzt und an die internationalen Firmen der Tourismusbranche gebunden ist. Die Faszination der Wüste ließ sich eine Weile in den großen Medien gut verkaufen, doch der Billigurlaub kann die Angst vor dem Terrorismus nicht wettmachen. Die internationale Lage destabilisiert den Markt.

Zu guter Letzt ist auch kulturell die Abhängigkeit deutlich zu spüren. Der westliche Lebensstil hat Einzug gehalten, doch die durch den Massentourismus entstandenen Bedürfnisse kann die örtliche Produktion nicht befriedigen. Jede Touristengruppe, die durch die Oase läuft, ist umringt von einem Schwarm junger Tunesier, die alles dafür geben würden, um eine Münze, einen praktischen Gegenstand oder eine Adresse zu ergattern. So nähren sie ihre Illusionen, eines Tages auswandern zu können.1 Solch flüchtige Beziehungen haben die traditionelle Gastfreundschaft ersetzt.

Ahmed, der alte Schreiber der Stadt, hat den Wandel des Ortes miterlebt: „Noch vor einigen Jahren waren die jungen Leute hier durchaus gewillt, etwas für den Erhalt der Traditionen zu tun. Heute verzweifeln wir an der Jugend. Sie wollen nicht mehr auf den Feldern unserer Vorfahren arbeiten, sondern setzen alles daran, um in Kontakt mit den Touristengruppen zu kommen. Was sie suchen ist Geld, nicht Freundschaft – das sind zwei völlig verschiedene Sachen. Dabei ist jeder Muslim verpflichtet, Fremde aufzunehmen, und sie nach bestem Vermögen zu versorgen.“ Versucht denn niemand, den jungen Leuten die traditionellen Werte des Landes zu vermitteln? „Doch, natürlich, aber sie starren wie gebannt auf die westliche Welt.“

Alles in allem hat die örtliche Bevölkerung das Nachsehen: Eine schmale Schicht von Reichen vor Ort teilt sich den Batzen des Profits mit den Touristikunternehmen aus dem Norden. Doch alle glauben, dass das Geschäft mit den Urlaubern die einzige Perspektive für die Region ist. Alle sind dem Traumbild vom westlichen Fortschritt erlegen.

„Vor ein paar Jahren“, erzählt der zwanzigjährige Beschir, der auf einer Bank im Stadtzentrum sitzt und auf Touristen wartet, „habe ich noch zusammen mit meinem Vater in der Palmenplantage gearbeitet. Aber das war hart und reichte oft nicht zum Leben. Jetzt, mit dem Tourismus, hat die Landwirtschaft hier in Tozeur keine Chance mehr. Wir sind auch nicht mehr bereit, diese Arbeit zu machen. Mit den Touristen kann man viel besser Geld verdienen.“ Und wenn die Touristen ausbleiben? „Na ja, wenn sie nicht mehr kommen, muss man halt abwarten. Es wird schon wieder aufwärts gehen!“

Parallel zu diesen gesellschaftlichen Verfallserscheinungen kann man beobachten, wie die Wüste sich allmählich die Oase zurückholt. Heute wird nur noch ein Viertel des früheren Bodens bewirtschaftet, viele Bäume sterben ab, weil sie nicht mehr gepflegt und bewässert werden. Zwischen den Palmen sieht es oft aus wie auf einer Müllhalde – überall liegen die Plastikflaschen der Touristen.

Im vergangenen Jahr nun wurde ein wahrhaft pharaonisches Projekt begonnen, das die Ausmaße der früheren Dattelpalmenbewirtschaftung vollends unbedeutend erscheinen lässt: ein riesiger Golfplatz mitten in der Wüste. Doch wenn es die Hälfte des Jahres im Schatten über 50 Grad heiß ist, kann man einen derart großen Rasen nicht pflegen, ohne die Grundwasservorräte anzuzapfen. Das aber dürfte katastrophale Folgen haben.

Regionen, die ihre traditionellen Strukturen missachten und die Organisation ihres gegenwärtigen und zukünftigen Lebens einer Minderheit überlassen, sind gefährdet. Hier in Tozeur war man früher stolz auf die eigene Kultur, und die Region war landwirtschaftlich weitgehend autonom. Die Umwandlung der Oase in eine Touristenattraktion hat die Tradition negiert. Die entstandene Tourismusindustrie orientiert sich an den Bedürfnissen des Westens. Golf unter Palmen spielen zu können nutzt allein einer kleinen Minderheit von Investoren2 ; die Freuden, die es bringt, sind lächerlich und obszön angesichts der Wirklichkeit, die es schafft.

Während man auf die Touristen wartet, die sich nicht mehr in ausreichender Zahl einstellen, steigt der Alkoholkonsum, obwohl dies im Islam verboten ist. Die Menschen verschmerzen den Verkauf ihrer Zukunft und ihrer Palmenhaine nur schwer. Nicht selten versammeln sich die örtlichen Säufer ausgerechnet unter den Dattelbäumen. Vielleicht suchen sie Schatten, vielleicht wollen sie sich verstecken, aber vielleicht haben sie sich auch dorthin zurückgezogen, um einen letzten Tribut an den Ort zu entrichten, der einst der Stolz der Region war, bevor er zum Symbol der eigenen „Entzauberung“ (Max Weber) wurde.

deutsch von Edgar Peinelt

* Forscher und Dozent für Sozialwissenschaften an der Universität Montpellier III

Fußnoten: 1 Siehe Pierre Vermeren, „Schiffbruch der Illusionen“, Le Monde diplomatique, Juni 2002. 2 In seiner Arbeit „Au-delà du capitalisme sénile“, Paris (PUF) 2002, weist Samir Amin auf die prekäre Position der Wohlhabenden in der „Kompradoren-Bourgeosie“ hin: „Das globale Nod-Süd-Gefälle dürfte sich verstärken. Und damit riskieren die Mächtigen in der Hierarchie der Kompradoren in den Ländern des Südens, ihre längst gefährdete Vormachtstellung zu verlieren.“

Le Monde diplomatique vom 09.07.2004, von CLAUDE LLENA