Jung sterben in der Neuen Welt
Die Europäer machen sich große Sorgen darum, ob die traditionellen Sozialversicherungssysteme robust genug für eine immer älter werdende Gesellschaft sind. In den USA wächst die Bevölkerung deutlich und kontinuierlich – politisch besteht kein Handlungsdruck. Dabei ist vor allem das System der Krankenversicherungen, das nur noch einen Bruchteil der Bevölkerung erfasst, dringend reformbedürftig.
Von OLIVIER APPAIX *
IN manchen ländlichen Gegenden des alten Südens der Vereinigten Staaten und in den Armenvierteln der Großstädte ist die Lebenserwartung der Menschen fast genauso niedrig wie in Indonesien oder Guatemala. In den Indianerreservaten oder in den afroamerikanischen Vierteln der Ostküstenstädte, wie z. B. in Baltimore, werden Männer im Durchschnitt sechzig Jahre alt. In den reicheren Gegenden lebt man in der Regel zwanzig Jahre länger, ganz so wie in Westeuropa.1
In Kanada, wo es eine allgemeine Krankenversicherungspflicht gibt, lag der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt 1971 bei 7,4 Prozent (heute sind es 9 Prozent). In den USA hingegen hat sich dieser Prozentsatz in den letzten dreißig Jahren fast verdoppelt (von 7,6 Prozent 1971 auf 14,6). Und dabei verfügen 44 Millionen US-Amerikaner (Stand 2002), also immerhin ein Sechstel der Bevölkerung, über keine Krankenversicherung. Berücksichtigt man den Personenkreis, der zwischen 2002 und 2003 nur vorübergehend krankenversichert war, so steigt der Anteil der Bevölkerung mit keinem oder fast keinem Krankenversicherungsschutz auf rund 30 Prozent.2 Und daraus werden sogar 40 Prozent, wenn man die Menschen hinzuzählt, die nur einen geringfügigen Versicherungsschutz haben – und das sind heute doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren.3
Das Wirtschaftswachstum der 1990er-Jahre hat also in keiner Weise dazu beigetragen, dass sich die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung verbessert hätte. Im Gegenteil. Die überfüllten Notfallambulanzen und die Schließung zahlreicher Einrichtungen zeugen davon, dass es noch schlimmer geworden ist.
Als infolge der Einführung immer komplexerer Technologien, der zunehmenden Bürokratisierung des Gesundheitssektors und des allgemeinen Alterungsprozesses die Kosten der Krankenversorgung immer weiter anstiegen, setzten die Behörden auf die „Mechanismen des Marktes“. Über steuerliche Anreize sollten die US-Bürger dazu motiviert werden, private Krankenversicherungen abzuschließen. Man erfand dafür den Begriff managed care.4 So nahmen die Ausgaben in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre zwar nicht mehr so rasch zu, doch dafür wurde der allgemeine Zugriff auf Gesundheitsdienstleistungen erschwert.
Gesundheit lässt sich jedoch nicht mit einem alltäglichen Konsumprodukt vergleichen, das sich mittels der „Marktmechanismen“ effizient und gerecht verteilen ließe. Zwischen Produzenten und Verbrauchern von Gesundheitsdienstleistungen herrscht ein grundsätzliches Informationsgefälle. Denn das Gesundheitswesen ist sehr viel komplizierter geworden. Eine Studie der Universität Oregon hat ergeben, dass nur 11 Prozent der älteren Patienten in der Lage sind zu entscheiden, was für sie günstiger ist: die Behandlung direkt und sofort zu bezahlen oder eine private Krankenversicherung abzuschließen.5
Staatliches Handeln, das diese Probleme korrigieren könnte, bleibt auf Bevölkerungsgruppen beschränkt, die vom Erwerbsleben ausgeschlossen sind. Die Beschäftigten werden nämlich durch ihre Arbeitgeber krankenversichert, und diese treffen ihre Entscheidungen unter Wettbewerbsgesichtspunkten. So sparen zum Beispiel im Automobilsektor die kanadischen Hersteller je Stunde volle vier Dollar, weil die öffentliche Krankenversicherung billiger ist. Manche US-amerikanischen Fabrikanten sind schon fast so weit, ein Quäntchen Sozialismus zu fordern. Im November 2002 veröffentlichten Ford, General Motors und DaimlerChrysler eine gemeinsame Erklärung, in der es heißt: „Im Vergleich zur privaten Krankenversicherung, wie sie die amerikanische Automobilindustrie ihren Beschäftigten bezahlt, führt ein öffentliches Versicherungssystem zu einer merklichen Verringerung der Arbeitskosten.“6
Die Versicherungsprämien (die sich umgerechnet pro produziertem Auto auf rund 1 200 Dollar belaufen) weisen seit drei Jahren zweistellige Wachstumsraten auf, was zum Teil damit zu tun hat, dass die Versicherungsgesellschaften 20 bis 40 Prozent ihrer Betriebskosten für Verwaltung und Marketing aufwenden.7 Viele Unternehmen reduzieren daher entweder die Leistungsansprüche ihrer Beschäftigten oder verzichten ganz auf eine Kostenübernahme. 20 Millionen Vollzeitbeschäftigte sind bereits ohne Krankenversicherung, Tendenz steigend. Die Versicherungsgesellschaften wiederum schrecken nicht davor zurück, „unrentablen“ Kunden den Laufpass zu geben. Viele Versicherer orientieren sich inzwischen angesichts der harten Konkurrenz auf dem US-Markt auf profitablere Kundenkreise im Ausland.
In der Sozialgeschichte der Vereinigten Staaten gehörte die Frage der Krankenversicherung nie zu den sozialpolitischen Prioritäten. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts intervenierte die mächtige American Medical Association (AMA), um staatliche Eingriffe in den Gesundheitssektor zu verhindern.8 Als Franklin D. Roosevelt 1932 zum Präsidenten gewählt wurde, gehörte zu seinem New-Deal-Programm9 zwar auch die Einführung einer im Umlageverfahren finanzierten Rentenversicherung, aber keine allgemeine Gesundheitsversorgung, sodass erste Initiativen in dieser Richtung von der Privatwirtschaft ausgingen. Dabei spielte der Arbeitskräftemangel während des Zweiten Weltkriegs eine entscheidende Rolle. Da die Regierung einen Lohnstopp verfügt hatte, begannen die Unternehmen, die knappen Arbeitskräfte mit dem Angebot sozialer Zusatzleistungen zu umwerben.
Erst 1965, als der demokratische Präsident Lyndon B. Johnson im Kongress über eine überwältigende Mehrheit verfügte, wurde mit „Medicare“ und „Medicaid“ endlich eine Art öffentliches Krankenversicherungssystem eingeführt. „Medicare“ übernahm die Hauptlast der Behandlungskosten für behinderte Patienten und Rentner über 65 Jahre; „Medicaid“ finanzierte die medizinische Versorgung für die Armen. Die durch Lohnabgaben und diverse Steuern finanzierten Programme versorgen derzeit rund 70 Millionen Menschen. Im Unterschied zu Medicaid übernimmt Medicare jedoch nicht die Kosten für verschreibungspflichtige Medikamente, auf die aber gerade ältere Menschen angewiesen sind, da sie häufig chronische Krankheiten haben, deren Behandlung mehrere hundert Dollar pro Monat kosten können.
Eine allgemeine Sozialversicherungspflicht gibt es nicht. Oft versichern sich nur Personen, die sich selbst als gefährdet betrachten. Das dadurch bewirkte Schrumpfen des Beitragsaufkommens treibt für den einzelnen Versicherten die Beitragssätze in die Höhe. Der sprunghafte Anstieg der Versicherungsprämien – 13,9 Prozent im Jahr 2003 – schreckt selbst viele besser verdienende Familien ab. Im US-Bundesstaat Maryland zum Beispiel verfügen 27 Prozent der nicht krankenversicherten Personen über ein jährliches Familieneinkommen von über 73 000 Dollar (rund 60 000 Euro).10 Da eine Rundumkrankenversicherung bis zu 800 Euro im Monat kosten kann, lassen sich die meisten Amerikaner, die über der Armutsgrenze leben und daher keinen Anspruch auf Medicare-Leistungen haben, gar nicht erst versichern.
In einem derart vielschichtigen, zersplitterten und weitgehend inkonsistenten Krankenversicherungssystem finden sich viele US-Bürger nur schwer zurecht. Millionen Kinder fallen zum Beispiel nur deshalb nicht unter das von der Clinton-Administration aufgelegte „Children Health Insurance Program“ für Bedürftige, weil ihre Eltern es entweder überhaupt nicht kennen oder aber nicht wissen, dass sie anspruchsberechtigt sind. Dasselbe gilt für Medicaid, wo viele Anspruchsberechtigte durch die bürokratischen Hürden abgeschreckt werden. Seit die Clinton-Administration 1996 die Verwaltung der Sozialprogramme unter dem Druck einer republikanischen Kongressmehrheit den Bundesstaaten übertragen hat, ist die Zahl der Leistungsempfänger um 40 Prozent zurückgegangen.
In der Politik hat man seit kurzem begriffen, dass der Einsatz für die Übernahme von Arzneimittelkosten durch Medicare ein gutes Wahlkampfthema ist. Schließlich sind die Rentner zuverlässigere Wähler als die Armen. So organisieren die Gouverneure der an Kanada grenzenden US-Bundesstaaten regelmäßig Rentnerreisen auf die andere Seite, wo die Arzneimittelpreise um 30 bis 40 Prozent unter dem US-amerikanischen Niveau liegen.
Viele Menschen registrieren verbittert, dass die Pharmaindustrie – führender ökonomischer Sektor seit zwanzig Jahren – unverdrossen immense Profite einfährt. Doch seit 1994 der Versuch gescheitert ist, den Zugang zur Krankenversicherung auszubauen, scheint die politische Klasse alle weiteren Bemühungen aufgegeben zu haben. Denn dazu wäre eine echte Revolution gegen die Interessen der diversen Lobbygruppen vonnöten.11 Immerhin unterzeichnete US-Präsident Bush im Dezember 2003 ein Gesetz, nach dem der Staat ab 2006 für die Zahlungsempfänger von Medicare die Kosten für bestimmte Medikamente übernehmen soll. Das ist nur als Reaktion darauf zu verstehen, dass unter den Senioren der Zorn über die hohen Rezeptkosten immer mehr zunimmt.
Allerdings erweist sich das Gesetz bei näherem Hinsehen als großzügiges Geschenk für die Pharmaindustrie, die keinerlei Beitrag zur staatlichen Rückvergütung der Arzneimittelkosten zu leisten hat. Die Budgetbelastung, die für die ersten zehn Jahre zunächst mit 400 Milliarden Dollar veranschlagt wurde, musste bereits kurz darauf um 30 bis 40 Prozent nach oben revidiert werden – ein Trend, den das Weiße Haus damals verheimlicht hat, um die Verabschiedung des Gesetzes nicht zu gefährden.
Jeder versucht den Unzulänglichkeiten des Krankenversicherungssystems auf seine Weise zu begegnen. So frisieren 39 Prozent der Ärzte ihre Diagnosen, damit ihre Patienten einen besseren Versicherungsschutz bekommen. Gleichzeitig schließen die Ärzte ihrerseits Versicherungen ab, die die Prozesskosten übernehmen, falls sie zum Beispiel wegen einer Fehldiagnose angezeigt werden. Die Prozessfreudigkeit im Gesundheitswesen hat die Versicherungsbeiträge in manchen Bundesstaaten derart in die Höhe getrieben, dass einige Ärzte in andere Gegenden abwandern mussten. Am härtesten trifft es die Patienten, die von der Politik und den Medien unbeachtet bleiben: die Armen unter den Indianern, den Afroamerikanern und den neuen Immigranten.
Die Lobby der Pharmaindustrie, die in Washington ungeheuren Einfluss hat, zögert nicht, gerichtlich gegen Bundesstaaten vorzugehen, die den Preis für Arzneimittel reglementieren wollen.12 Der höchste Gerichtshof entschied im Mai 2003 allerdings zugunsten des Bundesstaats Maine, der den entscheidenden Schritt gewagt hatte. Andere Bundesstaaten – Oregon, Wisconsin und Maryland – fassen ähnliche Maßnahmen ins Auge. Doch die Lobbyisten der Pharmaindustrie wissen, wie man solche Diskussionen im Keim erstickt. Als die Wähler in Massachusetts im Jahr 2000 per Referendum über die Einführung einer allgemeinen öffentlichen Krankenversicherung zu entscheiden hatten, brachten die Initiatoren der Volksbefragung für ihre Kampagne lediglich einige tausend Dollar auf. Die Gegenseite, im Wesentlichen von privaten Versicherungsgesellschaften finanziert, hatte 5 Millionen Dollar in der Hinterhand.
Und so konnte man sich bald nicht mehr vor den Fernsehspots retten, in denen sich weiß gekleidete Männer und Frauen über den „Angriff auf unsere Freiheit“ empörten. Gemeint war die Einmischung von big government in einen Bereich, der nach Ansicht der würdig empörten Weißkittel der persönlichen Wahlfreiheit vorbehalten sein soll. Meinungsumfragen hatten 55 Prozent Jastimmen vorausgesagt, am Ende stimmten 55 Prozent mit Nein.
deutsch von Bodo Schulze
* Gesundheitsökonom und freier Berater, USA.