Politik im Zeichen der fünf Ringe
Über die Olympischen Sommerspiele, die vom 13. bis 29. August in Athen stattfinden, werden die Medien ebenso ausgiebig berichten wie über weit wichtigere Weltereignisse, etwa über den Irakkrieg. Schnell wird darüber vergessen, dass die Olympischen Spiele ihre eigene geopolitische Geschichte haben.
Von PASCAL BONIFACE *
AN den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit, die 1896 ebenfalls in Athen stattfanden, nahmen Athleten aus 13 Nationen teil. Die weitaus meisten Teilnehmer waren Griechen, aber auch die USA und Deutschland, sowie Großbritannien, Frankreich und Ungarn stellten größere Delegationen. Die übrigen Länder waren jeweils nur mit ein oder zwei Athleten vertreten.1 Insgesamt zählten die Spiele weniger als 300 Teilnehmer in zehn Sportarten, das Publikum bestand vorwiegend aus Griechen und war außerordentlich patriotisch gestimmt.
Dieses Jahr werden quer durch die Zeitzonen insgesamt 4 Milliarden Fernsehzuschauer die 10 500 Sportler aus 201 Ländern2 im Fernsehen beobachten – ein wahrhaft globales Ereignis.
Die diesjährigen Spiele sind überschattet von der Angst, al-Qaida könnte als Überraschungsgast auftreten. Das erklärt auch die Mitwirkung eines ungewöhnlichen Teilnehmers, der zu keinem Wettkampf antritt, sondern für die Sicherheit der Spiele zuständig ist: die Nato.3 Etliche US-Athleten haben ihre Teilnahme aus Angst vor einem Anschlag bereits abgesagt, und die Hälfte der US-amerikanischen Bevölkerung ist überzeugt, dass es in Athen ein terroristisches Attentat geben wird.4 Das ruft sofort die Erinnerung an die Olympischen Spiele von 1972 in München wach, wo ein Kommando der Palästinenserorganisation „Schwarzer September“ neun israelische Sportler als Geiseln nahm und ermordete, nachdem ein Befreiungsversuch der deutschen Polizei fehlgeschlagen war. In den Augen einer Terrororganisation bieten die Olympischen Spiele womöglich eine willkommene Chance. Allein schon die Tatsache, dass die Verantwortlichen die ganze Zeit über mit der Möglichkeit eines Anschlags rechnen müssen, dürfte den Anhängern Ussama Bin Ladens eine gewisse Befriedigung verschaffen.
Strategische Überlegungen waren auch dem Initiator der neuzeitlichen Olympischen Spiele, Pierre de Coubertin, nicht fremd. Er wollte den jungen Franzosen mehr Wettbewerbsgeist beibringen, um den Vorsprung Deutschlands auf dem Gebiet der Körperertüchtigung aufzuholen, mit dem viele damals den deutschen Sieg im Krieg von 1870/71 erklärten.
In Deutschland sah man es ähnlich. 1913 war in einer deutschen Sportzeitung zu lesen: „Wer Sportstatistiken zu lesen versteht, der kann daraus in hinreichender Klarheit die Rangordnung unter den Völkern erkennen.“5 Die Stockholmer Spiele 1912 fungierten denn auch als Tribüne für politische Forderungen. Die Finnen, Tschechen, Slowaken und Ungarn zum Beispiel wollten, obwohl sie nicht unabhängig waren, als eigenständige Verbände teilnehmen und nicht unter der Fahne der Vielvölkerreiche, denen sie damals noch angehörten.
Doch ein wirklich internationales Sportpublikum entstand erst nach dem Ersten Weltkrieg, und erst jetzt versuchten die Regierungen, den Sport für politische Zwecke einzuspannen. Die Olympischen Spiele avancierten zum Prestigeereignis, das den ausrichtenden Staat ins internationale Rampenlicht rückte.
Auch die Teilnahme selbst war fortan von evidenter hoher Symbolik. Ein Ausschluss bescheinigte dem betreffenden Staat, dass er einer Einladung an die Festtafel des Sportes und der Freundschaft nicht würdig sei. So mussten 1920 Österreich, Bulgarien, Deutschland, Ungarn und die Türkei als Verlierernationen des Ersten Weltkriegs den Sommerspielen von Antwerpen fernbleiben. Umgekehrt galt die Tatsache, dass die Olympischen Spiele 1936 in Berlin stattfanden, als Beweis dafür, dass Deutschland nach der Niederlage von 1918 den Zutritt zur politischen Weltbühne wiedererlangt hatte.
Die Entscheidung für Berlin war vor 1933 gefallen. Doch das „neue Deutschland“ versuchte, das Ereignis zu nutzen, um der Welt die organisatorische wie sportliche Überlegenheit des Nationalsozialismus und der „arischen Rasse“ vorzuführen. Groß war daher die Enttäuschung, als schwarze Sportler aus den USA herausragende Erfolge feierten, allen voran der vierfache Goldmedaillengewinner Jesse Owens.6
Zu den ersten Spielen nach dem Zweiten Weltkrieg in London 1948 wurden Deutschland und Japan nicht eingeladen. In Helsinki 1952 war Deutschland wieder dabei, dazu erstmals auch Israel und die Sowjetunion.7 Die sowjetische Mannschaft wohnte allerdings nicht im offiziellen Olympischen Dorf, um Kontakte zum „Feind“ zu vermeiden und Sportler, die zu „desertieren“ gedachten, von ihrem Vorhaben abzuhalten. Für die Teilnehmer aus den östlichen Ländern wurde deshalb ein zweites Dorf errichtet.
Da das Internationale Olympische Komitee (IOC) die Volksrepublik China bereits anerkannt hatte (womit es der UNO einen Schritt voraus war), verließ Taiwan das Gremium aus Protest gegen die Teilnahme der „Rotchinesen“ an den Spielen in Helsinki. Dies hinderte die Volksrepublik freilich nicht, dem IOC 1958 den Rücken zu kehren. Unter Mao Tse-tung war dem Sport eine ausschließlich pädagogische und gesundheitspolitische Funktion zugedacht, und so war es verpönt, mittels sportlicher Erfolge nationalistische Gefühle zu wecken. Erst nach Maos Tod im Jahr 1976 wurde der Sport erneut in den Dienst nationaler Selbstbehauptung gestellt. Fortan legte China so großen Wert auf Medaillen, dass die Erfolge chinesischer Sportler stets unter starkem Dopingverdacht standen.
Das IOC betreibt seine eigene Geopolitik
SEIT 1981 ist Taiwan erneut, an der Seite der Volksrepublik China, im IOC vertreten. Und zwischen Nord- und Südkorea gab es seit der Entscheidung, die Olympischen Spielen 1988 in Seoul auszutragen, Gespräche über die Schaffung einer gemeinsamen Delegation, die bislang allerdings ohne Ergebnis blieben.
Der Sport kann den geopolitischen Gegebenheiten bis zu einem gewissen Grad vorauseilen, aber nicht allzu weit. Palästina ist, obwohl noch immer nicht staatlich verfasst, seit 1994 Mitglied im IOC. Für die Palästinenser bedeutet die Teilnahme an den Spielen einen ersten Schritt hin zu internationaler Anerkennung: In Athen werden sie unter ihrer eigenen Fahne ins Olympiastadion einziehen. Dass für die Olympischen Spiele 2000 nicht Peking, sondern Sydney den Zuschlag erhielt, wurde damals in China als Affront wahrgenommen, den das IOC offenbar dadurch wettzumachen suchte, dass das Land den Zuschlag für die Spiele 2008 erhielt.
Die Olympischen Spiele sind also häufig ein Spiegel geopolitischer Gegebenheiten. Neben dem Mittel des Ausschlusses gibt es auch das Mittel des politischen Boykotts. So erschienen Ägypten, der Irak und Libanon 1956 nicht zu den Spielen von Melbourne, um gegen die Besetzung des Suezkanals durch Frankreich, Großbritannien und Israel zu protestieren, während Spanien und die Schweiz ihre Teilnahme wegen des sowjetischen Einmarschs in Ungarn absagten. Die afrikanischen Staaten boykottierten die Spiele von 1976, da es ihnen nicht gelungen war, den Ausschluss Neuseelands zu erwirken, dessen Rugbymannschaft kurz zuvor im Apartheidstaat Südafrika gastiert hatte.
1980 organisierten die USA eine Boykottkampagne gegen die Spiele in Moskau; Grund war der sowjetische Einmarsch in Afghanistan. So blieb der Sowjetunion die angestrebte internationale Anerkennung verwehrt. Als sich Moskau revanchieren wollte und 1984 zum Boykott der Spiele von Los Angeles aufrief, blieben allerdings nur zwölf (kommunistische) Länder der Olympiade fern – ein klarer Misserfolg für die Sowjetunion.
Heutzutage erscheint ein Boykott der Spiele als eine stumpfe Waffe, denn kein Land will auf die Chance zu einem so herausragenden Medienauftritt verzichten. Dagegen ist der Ausschluss von den Spielen nach wie vor eine ziemlich wirksame Strafandrohung. Diese und andere Kompetenzen des IOC verleihen dieser Nichtregierungsorganisation besonderer Art eine nicht zu unterschätzende Macht. Das aus 115 Mitgliedern bestehende IOC wurde lange Zeit von Juan Antonio Samaranch geleitet. Der ehemalige Würdenträger des Franco-Regimes hatte sich heftig gegen die Absage der Olympischen Spiele 1980 in Moskau zur Wehr gesetzt. Neben Vertretern der internationalen Sportverbände und der Nationalen Olympischen Komitees gehören zum IOC weitere 70 kooptierte Personen, die zweifellos eher zum Jetset zu zählen sind als zur Welt des Sports.
Das IOC besitzt alle Rechte an der Organisation, der Vermarktung und der medialen Verwertung der Spiele. Es finanziert sich aus Fernsehrechten und Partnerschaften mit multinationalen Sponsoren und verfügt über ein Budget von 2,8 Milliarden Dollar, was dem Bruttosozialprodukt eines Landes wie Mali entspricht. Auch das IOC ist gegen Skandale nicht gefeit. Als anlässlich der Winterspiele 2002 in Salt Lake City mehrere IOC-Mitglieder der Korruption beschuldigt wurden, sah sich das Komitee genötigt, sieben Mitglieder auszuschließen, vier weitere legten ihr Amt nieder.
Das IOC ist nach eigenem Bekunden eine apolitische Organisation – was ihm zu Recht niemand abkauft. Seine Entscheidungen – über die Anerkennung der Nationalen Olympischen Komitees oder den Austragungsort der nächsten Spiele – sind wesentlich politisch motiviert. Zweifellos werden geopolitische Überlegungen auch bei der im Juli 2005 anstehenden Frage, wer den Zuschlag für die Spiele 2012 erhält, eine erhebliche Rolle spielen. Für Paris, das zusammen mit vier anderen Städten zur Wahl steht, stellt sich insbesondere die Frage, ob der Regierungswechsel in Spanien die Chancen Madrids erhöht hat. Paris setzt dabei insgeheim auf die internationale Popularität der französischen Politik und hofft, bei der endgültigen Entscheidung im nächsten Jahr die Nase vorn zu haben.8
Was den Medaillenspiegel betrifft, so liegen bestimmte Nationen traditionell in Führung, wobei sich in letzter Zeit eine breitere Streuung der Medaillen abzeichnet.9 Auch für kleine Länder kann sich manchmal bei Olympischen Spielen der Traum erfüllen, dass für die Dauer eines Endlaufs oder Endspiels die ganze Welt auf ihre Vertreter schaut. So war zum Beispiel die winzige Karibikinsel Saint-Kitts-et-Nevis dank der Goldmedaille von Kim Collins beim 100-Meter-Lauf der Leichtathletik-Weltmeisterschaft 2003 für einen kurzen Augenblick lang in aller Munde.
Zur Zeit des Kalten Kriegs spiegelte sich die Ost-West-Rivalität auch in den olympischen Wettkämpfen wider: Washington wie Moskau sahen die internationale Sportkonkurrenz als eine Chance, die Überlegenheit ihrer Gesellschaftsordnung unter Beweis zu stellen. Auch die Rivalität zwischen den beiden Teilen Deutschlands hatte bei den Spielen stets eine besonders kräftige Färbung.
Die Sowjetunion war schon 1956, bei ihrer zweiten Olympiateilnahme in Melbourne, in der Goldmedaillenwertung gegenüber den USA mit 37 zu 32 in Führung gegangen und hatte diese auch in Rom 1960 mit 43 gegenüber 34 US-Goldmedaillen behauptet. Nach diesem athletischen „Sputnik-Schock“ legten sich die USA besonders ins Zeug und erkämpften sich 1964 in Tokio mit 36 zu 30 eine Führung, die sie 1968 in Mexiko-Stadt auf 45 zu 29 ausbauten. In München errangen die kommunistischen Länder dann 1972 einen doppelten Sieg: die Sowjetunion gewann 50 Goldmedaillen gegenüber 33 der USA, während die DDR die Bundesrepublik mit 20 zu 13 schlagen konnte. Diese Überlegenheit des Ostens wurde 1976 in Montreal bestätigt, während die Moskauer Spiele von 1980 vom Westen boykottiert wurden. Auch bei den letzten Spielen vor dem Mauerfall, 1988 in Seoul, triumphierten die kommunistischen Länder. Die Sowjetunion lag mit 55 Goldmedaillen an der Spitze, gefolgt von der DDR mit 37 Goldmedaillen. Die USA kamen mit 36 Goldmedaillen nur auf den dritten Platz.
Wie bei allen sportlichen Wettkämpfen mag man den Chauvinismus bedauern, den die Spiele immer wieder bedienen. Doch in begrenztem Ausmaß ist die nationale Konkurrenz ein Element der Spannung, die bei sportlichen Wettbewerben nun einmal dazugehört – vorausgesetzt, sie bleibt auf die Sportstätten begrenzt. Im sportlichen Wettstreit ist der „Andere“ ein unerlässlicher Widerpart, mitunter auch einer, dessen Glanzleistungen uns emotional ebenfalls packen. Damit können die Spiele – ohne dass wir den moralisierenden Argumenten des IOC auf den Leim gehen müssen – ein Fenster zur Welt öffnen, einen neuen Blick auf andere Völker ermöglichen.
Vielleicht stimmt es sogar, dass Sport so etwas wie Krieg ist. Aber es handelt sich um einen – wie es die alten Griechen verstanden – ritualisierten Krieg, einen Krieg ohne Waffen, ohne Blutvergießen, ohne Tote. Sport kann damit auch eine Art Erziehung zum Frieden sein. Wie der Sportsoziologe Eric Dunning10 bemerkt, „bieten auf internationaler Ebene Sportereignisse wie die Olympischen Spiele und die Fußballweltmeisterschaft in Friedenszeiten die einzigen Gelegenheiten, bei denen ganze Nationalstaaten regelmäßig und sichtbar eine Einheit bilden können“.
deutsch von Bodo Schulze
* Leiter des Institut de Relations Internationales et Stratégiques (IRIS), Paris; Autor von „La Terre est ronde comme un ballon“, Paris (Seuil) 2002, und „La France contre l‘Empire“, Paris (Laffont) 2003.