Stichworte und Ausreden
Die Offensive gegen Gaza erinnert in vieler Hinsicht an den Libanonkrieg vom Sommer 2006, aus dem die israelische Führung offensichtlich einige Lehren gezogen hat. Diese Lehren betrafen allerdings nicht die langfristige Strategie Israels, denn sonst hätte man ja die so oft beschworene „schmerzliche Entscheidung“ treffen müssen, sich endlich an das Völkerrecht zu halten – als Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden mit den Nachbarländern.
Hingegen vermied die Regierung Olmert Fehler, die ihr 2006 in militärisch-taktischer und medienpolitischer Hinsicht unterlaufen waren. Eine rigorose Nachrichtensperre im eigenen Land und die Aussperrung von Journalisten aus Gaza ersparten den Fernsehzuschauern quälende Bilder vom Kriegsschauplatz. Und nach außen startete man eine umfassende Propagandaoffensive.
„Man gründete eine neue Informationsabteilung, um die Medien zu beeinflussen“, berichtete Chris McGreal im Observer. Nachdem der Angriff begonnen hatte, verbreiteten Scharen von Diplomaten, Lobbyisten, Bloggern und anderen Unterstützern „eine Reihe sorgfältig formulierter Schlüsselbotschaften“, die dafür sorgen sollten, „dass Israel als Opfer gesehen wird“.1 Treibende Kraft war der frühere UN-Botschafter Dan Gillerman, der meinte: „Ich habe noch nie erlebt, wie alle Teile einer sehr komplexen Maschinerie – Außen- und Verteidigungsministerium, Büro des Ministerpräsidenten, Polizei und Streitkräfte – derart koordiniert und wirksam zusammenarbeiten.“
Ein Schlüsselbegriff war dabei das Wort Selbstverteidigung: Kein Staat könne es hinnehmen, seine Bevölkerung dem Terror von Raketenangriffen über die Grenze hinweg ausgesetzt zu sehen. Das stimmt: Jede Regierung würde in einer solchen Situation reagieren – fragt sich nur, wie? Man kann über die Beendigung der Auseinandersetzung verhandeln, man kann aber auch die Kampfhandlungen ausweiten.
Seit 61 Jahren wurde in Tel Aviv am Beginn jedes Kriegs erklärt, man habe „keine Wahl“ – ein brera auf Hebräisch. Heute entspricht das weniger denn je der Wahrheit. Seit 1988 haben die Palästinenser das Nachbarland, das ihre Besatzungsmacht ist, anerkannt. 2002 machte die arabische Welt Israel ein umfassendes Friedensangebot: vollständige Normalisierung der Beziehungen im Austausch gegen den Rückzug aus den besetzten Gebieten. Und wenn Israel ein Recht auf Selbstverteidigung beanspruchen kann, dann muss das auch für die Palästinenser gelten.
Ein zweiter Schlüsselbegriff war Bruch des Abkommens: Es sei schließlich die Hamas gewesen, die den Waffenstillstand gebrochen habe. Dabei wird gern übersehen, dass die Operation „Gegossenes Blei“ nach Auskunft von Verteidigungsminister Ehud Barak sechs Monate lang vorbereitet wurde. Dass andererseits die islamistischen Kämpfer bis Ende Oktober den Waffenstillstand einhielten, steht sogar auf der Internetseite des Außenministeriums. Und dass die Angriffe im November wieder losgingen, hatte einen Anlass, der gern übergangen wird: Das Kommandounternehmen der israelischen Armee, bei dem am 4. November in Gaza sechs Hamas-Kämpfer getötet wurden.
Selten erwähnt wird auch, dass der Waffenstillstand mit der Aufhebung der Blockade und zur Öffnung der Grenzübergänge zum Gazastreifen einhergehen sollte. Diesen Teil des ägyptischen Vermittlungsplans akzeptierte Israel jedoch nicht, im Gegenteil: Gaza wurde vollständig abgeriegelt. Bereits vor der israelischen Militäroperation waren vier Fünftel der Bevölkerung direkt von den Hilfslieferungen der Vereinten Nationen abhängig, mit Beginn der Offensive wurden dann sogar Wasser, Treibstoff, Strom und Grundnahrungsmittel knapp.
Das führt zum dritten Schlüsselbegriff Blockade: Die Politik der Blockade begann schon im Januar 2006. Damals gewann die Hamas die Parlamentswahlen, die das Nahostquartett gefordert hatte und die von mehr als 900 Beobachtern überwacht wurden. Statt dieses Resultat zur Kenntnis zu nehmen und den neuen Ministerpräsidenten als Gesprächspartner zu akzeptieren, boykottierte Israel die Palästinenserregierung mit dem Argument, die Hamas weigere sich, Israel anzuerkennen. Die USA und die Europäische Union schlossen sich dieser Haltung an. Die Blockade blieb auch dann in Kraft, als die im März 2007 gebildete Regierung der Nationalen Einheit aus Hamas und Fatah sich zur Schaffung eines Palästinenserstaats innerhalb der seit 1967 besetzten Gebiete bekannte.2
Ein viertes Stichwort ist Unverhältnismäßigkeit: Auf den Internetseiten des israelischen Außenministeriums schreibt Ben Dror Jemini: „Einige der übelsten Verleumder Israels haben behauptet, auf jeden getöteten Israeli kämen hundert getötete Palästinenser. Es heißt, eine Halbwahrheit sei schlimmer als eine Lüge. Aber hier haben wir es nicht mit einer Halbwahrheit zu tun, sondern mit bewusster Täuschung. Angesichts eines Monate und Jahre dauernden Raketenbeschusses auf die Zivilbevölkerung kann es nicht darum gehen, die Verluste aufzurechnen.“
Der Autor hätte nachrechnen sollen: In den drei Jahren vom Rückzug Israels aus dem Gazastreifen bis zum Beginn des jüngsten Krieges haben die Kassam-Raketen elf Israelis das Leben gekostet. Die israelische Armee war im gleichen Zeitraum für 1 700 Tote verantwortlich, die mehr als 1 200 Opfer der Operation „Gegossenes Blei“ nicht mitgerechnet. Der israelische Historiker Avi Schlaim meinte dazu: „Das biblische Gebot ‚Auge um Auge‘ ist brutal genug. Aber Israels irrsinnige Offensive gegen Gaza orientiert sich offenbar an dem Gebot ‚Auge um Wimper‘.“3
Ein fünftes Stichwort ist Ausgewogenheit: Unter ausgewogener Berichterstattung verstanden die meisten Fernsehsender – in Frankreich und anderswo – den Bildern von palästinensischen Zivilisten unter dem Beschuss von Panzern und F-16-Kampfflugzeugen stets Bilder von israelischen Zivilisten gegenüberzustellen, die in Sderot in Schutzräume flüchten. Die Zivilbevölkerung anzugreifen, ist ein typisches Merkmal des Terrorismus, in jedem Fall aber ein Verstoß gegen die Genfer Konvention. Dennoch fragt sich, ob es dasselbe ist, wenn selbstgemachte Raketen Schäden an einigen Häusern anrichten oder wenn Bomben und hochmoderne Artilleriegranaten Schulen zerstören, Krankenhäuser treffen und Lebensmitteldepots in Brand setzen.
Das führt zum Stichwort Zivilbevölkerung: Angesichts der Bilder aus Gaza versicherte die israelische Seite: „Die Hamas macht die Zivilbevölkerung zur Zielscheibe, wir tun alles, um sie zu verschonen.“4 Eine bizarre Behauptung, denn der Gazastreifen ist mit 1,5 Millionen Menschen auf 370 Quadratkilometern das am dichtesten besiedelte Gebiet der Welt. Nur wer noch nie dort gewesen ist, kann auf die Idee kommen, die Kämpfer könnten sich von der Zivilbevölkerung fernhalten.
So zu tun, als könnten Bomben die Spreu vom Weizen trennen, ist also ein makabrer Witz. Ein Drittel der Opfer des israelischen Angriffs waren keine Kombattanten, und ein Drittel war jünger als 18 Jahre, weil Panzer und Flugzeuge auch öffentliche Einrichtungen und Wohngebiete gezielt unter Feuer nahmen. Und dem Hinweis der israelischen Seite, man habe Flugblätter abgeworfen, um die Bombardierungen anzukündigen und die Bevölkerung zur Flucht aufzufordern, ist die die Frage entgegenhalten: Flucht wohin? Niemand kann den Gazastreifen verlassen, weder über Land noch übers Meer.
Hätte Israel wirklich etwas zum Schutz der Menschen tun wollen, die in Gaza in der Falle saßen, hätte man wenigstens dem Roten Kreuz die Arbeit erleichtern können. Antoine Grand, der Vertreter des Roten Kreuzes in Gaza, hat erklärt: „Es dauerte oft sechs bis zwölf Stunden, bis wir von den Israelis nach einem Bombenangriff die Erlaubnis für einen Einsatz bekamen. Das hat die ohnehin katastrophale humanitäre Situation natürlich weiter verschlimmert.“5 Noch schwerer wiegt, dass Israel auch Bomben mit weißem Phosphor eingesetzt hat, wie heute zweifelsfrei feststeht.6 So handelt keine Armee, die das internationale Recht im Krieg achtet. Der Historiker Zeev Sternhell nannte diesen Krieg „den gewaltsamsten und brutalsten unserer Geschichte“.7
Ein weiterer Schlüsselbegriff ist Hass: Israels Außenministerin Tsipi Livni äußerte sich wiederholt betroffen über den wachsenden „Hass gegen Israel“. Aber wer sät diesen Hass? Ist es verwunderlich, dass der Anblick zerfetzter Leichen von Frauen, Kindern und alten Menschen den Zorn gegen die israelische Führung weckt oder gar pauschal gegen die Israelis, die immerhin in ihrer großen Mehrheit hinter der Militäroperation stehen? Natürlich kann man solche Pauschalurteile nicht gutheißen, denn sie basieren auf dem Prinzip der Kollektivschuld, die nicht einmal den Deutschen zugewiesen wurde. Aber man muss doch zur Kenntnis nehmen, wer sie auslöst. Uri Avnery hat das sehr wohl verstanden: „Was sich ins Bewusstsein der Welt einprägen wird, ist das Image von Israel als blutrünstigem Monster, das bereit ist, jeden Augenblick Kriegsverbrechen zu begehen, und nicht bereit ist, sich an moralische Einschränkungen zu halten. Dies wird langfristig gesehen schwerwiegende Konsequenzen für unsere Zukunft, für unsere Position in der Welt haben und für unsere Chancen, in Frieden und in Ruhe zu leben. Am Ende ist dieser Krieg auch ein Verbrechen gegen uns selbst, ein Verbrechen gegen den Staat Israel.“8
Was Avneri beschreibt, hat allerdings Folgen nicht nur für die Israelis, sondern für alle Juden. Natürlich ist die Gleichsetzung von beiden keineswegs gerechtfertigt: Franzosen jüdischer Religion oder Kultur sind für die Verbrechen der israelischen Armee so wenig verantwortlich wie muslimische Franzosen für die Taten von al-Qaida. Niemand darf so eindimensional auf die religiöse oder kulturelle Facette seiner Identität reduziert werden. Und gerade die verantwortlichen Vertreter der „Gemeinschaften“ sollten eine solche Reduzierung nicht fördern. Es ist deshalb ein erstaunlicher Widerspruch, wenn der Präsident des Rats der jüdischen Institutionen in Frankreich dazu auffordert, den „Konflikt nicht nach Frankreich hineinzutragen“, zugleich aber seine „rückhaltlose Solidarität“ mit Israel erklärt.9
Antisemitismus ist hier deshalb ein Stichwort, weil die Ereignisse in Gaza auch zum Vorwand für eine Reihe schwerer Angriffe auf Synagogen oder auf Juden wurden (und für weniger schwere, aber unverzeihliche Beleidigungen oder Schmierereien). In Erinnerung an die zweite Intifada sollten die Medien dabei wachsam und vorsichtig geworden sein: Damals folgte auf die Welle des Antisemitismus (2001 bis 2003), für die zu Unrecht die Jugendlichen aus Migrantenfamilien verantwortlich gemacht wurden10 , alsbald eine antiarabische und antimuslimische Bewegung. Beide Tendenzen konnten aber durch staatliche Gegenmaßnahmen und eine antirassistische Bewegung eingedämmt werden.
Übrigens wurde bei den Solidaritätskundgebungen für einen gerechten Frieden niemand zum Rassenhass aufgestachelt, wenn auch die heftigen Gefühle in einigen Fällen in unverantwortliches Handeln umschlugen.
Schließlich zum Schlüsselbegriff Frieden: Israel hat erklärt, die schweren Schläge gegen die Hamas würden einen Frieden mit den „gemäßigten“ Kräften leichter machen. Das überzeugt nicht. Die Operation „Gegossenes Blei“ mag die Hamas militärisch geschwächt haben, doch politisch hat sie die Islamisten in Palästina und in der weiteren Region gestärkt. Wie die Hisbollah im August 2006 wird die Hamas jetzt ihren Heldennimbus in der gesamten arabisch-muslimischen Welt aufbessern können. Zudem fragt man sich, warum die Regierung Olmert, wenn sie ernsthaft an Verhandlungen mit der palästinensischen Autonomiebehörde interessiert ist, sich nicht an die im November 2007 in Annapolis gegebenen Zusagen gehalten hat: Abbau der Straßensperren, Stopp der Siedlungstätigkeit, Einstellung der gezielten Tötungsaktionen.
Mit der politischen Stärkung der Hamas und der weiteren Diskreditierung der Autonomiebehörde – also der Fatah – haben die israelische Strategen ihre Ziele zweifellos erreicht: Die Entstehung eines palästinensischen Staates wurde abermals verzögert, wenn nicht auf Dauer unmöglich gemacht.
Dominique Vidal
Aus dem Französischen von Edgar Peinelt