13.02.2009

Im Namen der inneren Sicherheit

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Im Namen der inneren Sicherheit

Wozu Kolumbiens Regierung die Guerilla braucht von Paola Orozco Souël

Bogotá, Innenstadt. Am Eingang des kameraüberwachten Avianca-Hochhauses fragt der Portier mechanisch: Stockwerk, Grund des Besuchs, Ausweis, Telefonnummer. Dann stellt er einen Passierschein aus, der zum Durchqueren der Halle berechtigt. Man wird durchsucht, dann darf man einen Aufzug benutzen. Im 25. Stock stellt ein Wachposten noch einmal dieselben Fragen. Eine Sicherheitsschleuse zwischen zwei Panzerglastüren führt schließlich zu den Büros von Menschenrechtsgruppen, Gewerkschaften, politischen Parteien und NGOs. Manchmal werden Oppositionspolitiker, wenn sie im gepanzerten Auto durch die Stadt fahren, nicht nur von Leibwächtern, sondern auch von einem Krankenwagen begleitet. Könnte es sein, dass die von Präsident Álvaro Uribe 2003 ausgerufene „seguridad democrática“ (demokratische Sicherheit) nur ein Mythos ist?

Im Avianca-Haus sitzt Alirio Uribe Muñoz, Anwalt, spezialisiert auf Menschenrechtsverletzungen und die Aufklärung von Verbrechen der Militärs und der paramilitärischen AUC-Milizen. „Von der demokratischen Sicherheit“, sagt er, „haben in Wirklichkeit nur die kleinen Elite im Umfeld des Präsidenten, die Großunternehmer und die Vertreter internationaler Konzerne etwas.“ Wer sich hingegen bei der juristischen Aufarbeitung paramilitärischer Verbrechen zu eifrig zeigt oder an den Regierungsmethoden des Präsidenten etwas auszusetzen hat, kann, so Muñoz, „von Glück sagen, wenn sich seine Gegner mit Rufmord begnügen“. Todesdrohungen und Anschläge auf missliebige Personen gehören in Kolumbien zum Alltag. Die Aufklärungsrate liegt hier bei unter 10 Prozent.

Darüber erfährt man wenig in den kolumbianischen Medien. Anders verhält es sich, wenn es um Geiseln der Guerilla geht. „Ingrid ist frei“, jubelten die Zeitungen am 2. Juli 2008. „Betancourt trifft Sarkozy“, „Hl. Ingrid beim Papst“. Die Freude über Betancourts Befreiung ist natürlich groß und ebenso die Hoffnung für 18 weitere Geiseln der Farc. Am 28. November vergangenen Jahres demonstrierten Hunderttausende für ein Ende der Entführungen. „Colombia soy yo“, – „Ich bin Kolumbien“ – stand auf ihren weißen T-Shirts.1 Eine Demonstration gegen die Gewalt der Militärs im März letzten Jahres wurde dagegen von den Medien weitgehend ignoriert. Ein Vetter des Drogenbarons Pablo Escobar, Berater von Präsident Uribe, bezeichnete diese Demonstration als „eine „von der Farc unterstützte Aktion“. Die Aguilas Negras (schwarze Adler), eine Splittergruppe der AUC-Milizen, drohten Veranstaltern und Teilnehmern des Protestmarschs mit Mord.

„Wir dürfen nicht jedes Mal klein begeben, wenn wir vom Präsidenten oder von den Milizen bedroht werden“, sagt einer der Teilnehmer. Mehr als 300 000 Menschen nahmen in ganz Kolumbien an der Demonstration teil. Eine Woche später waren sechs der Organisatoren tot. Zehn Gewerkschafter starben noch im selben Monat bei Mordanschlägen. „Wir haben uns auch an Protestmärschen gegen die Farc beteiligt“, sagt ein anderer Teilnehmer. „Aber wir wollten eben auch ein Zeichen gegen die einseitigen Schuldzuweisungen setzen.“

Präsident Uribe ließ sich 2002 mit dem Versprechen wählen, gegen die bürgerkriegsartigen Zustände im Land vorzugehen. Er setzt konsequent auf eine militärische Lösung des Problems.2 Von 2002 bis 2007 sind dem Krieg 13 634 Zivilisten zum Opfer gefallen.3 Insgesamt wurden seit 1985 in Kolumbien 4 Millionen Menschen gewaltsam von ihrem Land vertrieben, davon 3 Millionen allein in der sechsjährigen Regierungszeit Uribes.4

Nach Ansicht des Rechtsanwalts Sergio Roldán hat diese massenhafte Vertreibung der Landbevölkerung Methode. „Wenn sich ein Bauer weigert, Kokapflanzen anzubauen, wird er von den Schergen der Drogenmafia aus dem Weg geschafft. Teile des Landes bilden heute einen strategischen Korridor, durch den Drogen und Waffen geschleust werden. Es ist durchaus auch im Interesse der Paramilitärs und der Farc, das von ihnen beherrschte Land zu entvölkern. Es geht um viel Geld. Deshalb hat der kolumbianische Staat hier ebenfalls seine Hand im Spiel.“

Das passt zur Einschätzung von Marco Romero, dem Vorsitzenden der Codhes, einer NGO, die sich für die Rechte der Vertriebenen einsetzt.5 Danach sollen inzwischen 6,8 Millionen Hektar Land in der einen oder anderen Form enteignet und von korrupten Beamten widerrechtlich verkauft worden sein. In der Region Chocó an der Pazifikküste leben vor allem afrokolumbianische Bauern. Sie sind in den letzten Jahren zu Tausenden vor der Gewalt geflohen. „Heute sind dort riesige Palmenplantagen geplant“, so Romero, „auf denen Biodiesel für den Weltmarkt produziert werden soll.“

Daniel Maestre aus der indianischen Gemeinde Kankouamo ist einer dieser Vertriebenen. Er nennt die Präsidentschaft von Álvaro Uribe „die brutalste, die wir Indios je erlebt haben“. Zwar haben sie seit der Verfassung von 1991 ein verbrieftes Recht auf ihr Land, es ist allerdings kaum möglich, es geltend zu machen. Mehr als 1 200 Indigene wurden in den vergangenen sechs Jahren nach Auskunft der kolumbianischen Indigenenvereinigung Onic von Paramilitärs, Guerilleros oder Angehörigen der Armee ermordet.6

Am 12. Oktober vergangenen Jahres demonstrierten rund 40 000 Indigene für „die Achtung unserer Lebensweise“ und forderten die Regierung zu Gesprächen auf. In der Gemeinde La María Piendamó ging die Polizei mit Gewalt gegen die Demonstranten vor, vier starben, Hunderte wurden verletzt. Die minga7 wehrte sich energisch gegen die Unterstellung des Präsidenten, sie sei mit den Farc verbündet.

Jessika Hoyos engagiert sich bei der Vereinigung Hijos y Hijas (Töchter und Söhne) dafür, dass solche Verbrechen nicht in Vergessenheit geraten. „Wir müssen das Andenken an unsere Eltern lebendig halten. Sie sind gestorben, und niemand hat sich dafür interessiert. Sie waren keine Terroristen, sondern Menschen, die durch ihre Arbeit und ihre Überzeugungen dieses Land voranbringen wollten.“ Doch Kolumbien, sagt sie, sei fest im Griff eines engstirnigen Freund-Feind-Schemas: „Wer nicht für Uribe ist, gilt als Landesverräter, als einer von der Guerilla.“

Präsident Uribe weigert sich, die politische Dimension des fast 60-jährigen Konflikts anzuerkennen. Für ihn reduziert sich das Problem auf eine „terroristische Bedrohung“. Um das Land zu befrieden, arbeitet die Armee seit langem Hand in Hand mit den Paramilitärs.

Als 2005 das Gesetz „Gerechtigkeit und Frieden“ verabschiedet wurde, schöpften die Familien vieler Opfer Hoffnung. Vorgesehen waren öffentliche Anhörungen nach dem Vorbild der südafrikanischen Wahrheitskommissionen. Die Verbrechen der Paramilitärs sollten aufgeklärt, die Verbände demobilisiert und deren Opfer entschädigt werden. Daran glaubt inzwischen niemand mehr.8

Parapolitik – das schmutzige Netzwerk

Die Angehörigen der Opfer haben sich nun in der Organisation Movice zusammengetan. Sie kämpfen weiter gegen das Vergessen und gegen die „vorsätzliche“ Straflosigkeit bei rechten Gewalttätern. Vor kurzem wurden vierzehn Anführer von AUC-Gruppen in die USA ausgeliefert, wo sie wegen organisierten Drogenhandels vor Gericht kommen. In Kolumbien wären sie wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt worden und hätten Einzelheiten über die Komplizenschaft zwischen Paramilitärs und hohen Politikern enthüllen können.

Schon jetzt sind über 70 hohe Beamte in das verstrickt, was man in Kolumbien „Parapolitik“ nennt. Zum Beispiel Jorge Noguera, der einst die rechte Hand des Staatschefs war: Als Chef der Geheimpolizei (DAS)9 ließ er seinen Apparat Hand in Hand mit den Paramilitärs arbeiten. So übergab er diesen eine Todesliste mit Namen von Gewerkschaftern, Universitätsprofessoren und Oppositionspolitikern.10 Und Guillermo Cossio, Staatsanwalt im Departement Antioquia, Bruder des Innen- und des Justizministers hatte so gute Verbindungen zu Drogenbossen und Paramilitärs, dass man ihn seiner Ämter enthob.

36 Parlamentsabgeordnete der Mehrheitspartei und zwei ehemalige Vorsitzende des Senats wurden aus ähnlichen Gründen verhaftet, gegen weitere 65 Abgeordnete wird ermittelt, ebenso gegen den ehemaligen Brigadegeneral Rito Alejo del Río, der nach Angaben des Milizenführers Ever Veloza („HH“) maßgeblich an der Ausbreitung der AUC in Teilen des Departements Antioquia mitgewirkt hat.

Paradoxerweise, so meint der Movice-Vorsitzende Iván Cepada, „machen die Erfolge der Justiz unsere Arbeit noch schwerer. Präsident Uribes Verbündete sind Personen, die enge Kontakte zur Drogenmafia und den Paras unterhalten. Wir geraten jetzt in ihr Schussfeld.“ Seit 2005, so Cepada, wurden 20 führende Mitglieder von Movice ermordet. Besonders in den Departements Sucre, Antioquia und Córdoba „üben die Paramilitärs eine regelrechte Schreckensherrschaft aus. Sie entscheiden, wer dort ein politisches Amt übernimmt, wer Rektor einer Universität wird oder Schlüsselposten in der Verwaltung besetzt. In einem dieser Gebiete befindet sich übrigens auch das Gut unseres Präsidenten, nicht weit vom Besitz des Para-Chefs Salvatore Mancuso.“ Trotz ihrer offiziellen „Demobilisierung“ sind die Paramilitärs in 22 von 32 Departements weiter aktiv.

Das inoffizielle Zentralorgan der Regierung ist – neben den landesweiten Fernehsendern RCN und Caracol – die Tageszeitung El Tiempo, die der Familie des Vizepräsidenten Francisco Santos und des Innenministers Juan Manuel Santos gehört. Unabhängige Journalisten haben es in einer solchen Medienlandschaft schwer. Antonio Morales, der nach der Rückkehr aus seinem sechsjährigem Exil die oppositionelle Zeitung Polo gegründet hat, sagt, dass die Schwierigkeiten schon mit Behinderungen des Vertriebs und dem erschwerten Zugang zum Werbemarkt anfangen. Der Fernsehmoderator Holman Morris wurde, als er in seiner Sendung „Contravía“ über Menschenrechtsverletzungen berichtete, von der Regierung beschuldigt, „terroristische Aktivitäten zu begünstigen“, was in Kolumbien einer verschlüsselten Morddrohung gleichkommt.

Gustavo Petro, ein Abgeordneter der linken Partei Polo Democrático Alternativo (PDA) im Senat, legt eine Mischung aus Optimismus und Todesverachtung an den Tag: „Obwohl wir Mordanschläge fürchten müssen und der Willkür dieses Präsidenten ausgesetzt sind, gibt es in den Städten nach wie vor eine aktive Opposition. Nicht einmal Uribe und seine Paramilitärs können jeden umbringen, der auf der Straße demonstriert. Sie können nicht jedem, der wählen geht, eine Waffe unter die Nase halten.“ In den drei größten Städten des Landes – Bogotá, Medellín und Cali – regieren inzwischen linke Bürgermeister. „Sogar in César und Magdalena“, so Petro über zwei Hochburgen der AUC, „gab es mehr leere Stimmzettel als Stimmen für den einzigen Kandidaten der Paras.“

In letzter Zeit kommt es auch häufiger zu friedlichen Demonstrationen gegen die Politik der Regierung. Doch die Angst vor Repressalien und Gewalt ist immer noch groß. „Unter einer so autoritären und intoleranten Regierung geht jede unbewaffnete Opposition ein großes Risiko ein“, sagt Carlos Gaviria, Vorsitzender der PDA. „Uribe versteht Opposition nicht als einen notwendigen Bestandteil der Demokratie.“

Um sich ein drittes Mal wählen zu lassen, trägt sich der Präsident nun offen mit dem Gedanken, die Verfassung zu ändern. Schon einmal ist es ihm gelungen, Parlamentarier zu korrumpieren und eine Änderung durchzusetzen, die ihm 2006 die Wiederwahl ermöglichte.11

Nach Aussage vieler Zeugen hat der Staatschef anscheinend auch für eine unabhängige Justiz wenig übrig. „Die Exekutive setzt uns mit wirtschaftlichen und politischen Mitteln unter Druck“, sagt Esperanza Delgado, Vorsitzende der Gewerkschaft der Justizmitarbeiter Asonal in Valle del Cauca. „Manche Staatsanwälte werden vom Generalstaatsanwalt ernannt und der wiederum vom Präsidenten selbst. Und diese Leute müssen tun, was man ihnen sagt, sonst werden sie abgesetzt oder ermordet. Und was die „Parapolitik“ betrifft, da haben wir Beweise und Zeugen genug für Verurteilungen. Doch anstatt die Gerichte ihre Arbeit tun zu lassen, greift sie der Präsident bei jeder Gelegenheit an.“

Offenkundig war die Einmischung des Präsidenten im Fall seines Vetters, des Senators Mario Uribe: Der wurde im April 2008 zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilt und vier Monate später vom stellvertretenden Generalstaatsanwalt „aus Mangel an Beweisen“ freigelassen. Staatsanwalt Ramiro Marín, der Uribe verhaften ließ, trat daraufhin von seinem Amt zurück – „nicht weil Mario Uribe in Freiheit ist, sondern weil in dieser Angelegenheit die Unabhängigkeit der Justiz mit Füßen getreten wurde. Es gab genügend Beweise, um die Haft und Verurteilung Uribes zu begründen.“12

Während die Richter versuchen, sich mit Hilfe der Gesetze gegen den Absolutismus des Präsidenten zu wehren, tragen hohe Beamte und Anführer der Paras belastendes Material zusammen gegen „diese verantwortungslosen Putschisten, die den Terrroristen in die Hände spielen“ (Uribe). „Solche Auswürfe sind für uns lebensgefährlich“, schimpft Esperanza Delgado. „Sie zerstören auch die Glaubwürdigkeit unserer Institution und unserer Arbeit. Wenn sogar der Präsident die Justiz verhöhnt – was erwarten wir dann eigentlich von den Verbrechern?“

Bomben gegen unabhängige Ermittler

Als Folge dieser Zustände haben im ganzen Land bereits Generalstreiks der Justizbeamten stattgefunden. Die Empörung ist groß: Im vergangenen September kam es zu einem 44-tägigen Streik für die Unabhängigkeit der Justiz und die Anpassung der Gehälter, hinter dem mehr als 80 Prozent der Justizbeamten standen. Der Präsident verweigerte wie üblich jeden Dialog und reagierte mit einer Notstandsverordnung.

Zur Einschüchterung der Justiz tragen Aktionen nicht nur von Polizei und Armee bei, sondern auch solche von anonymen Terrorgruppen. In der Nacht des 31. August verwüstete eine Bombe den Justizpalast der Stadt Cali. Dabei starben vier Menschen. Außerdem lösten sich Ermittlungsakten in Rauch auf. „Wir fühlen uns nicht mehr sicher“, sagt eine Staatsanwältin. „Der Präsident hat sofort verkündet, es handle sich um einen Anschlag der Farc. Das ist bloße Behauptung. Ich hatte jedenfalls Akten mit Beweismaterial gegen Drogenhändler, Paramilitärs und Politiker zusammengestellt. Die Gerichtsverhandlungen sollten noch in derselben Woche beginnen. Jetzt ist von all dem nichts mehr übrig. Mein Büro ist völlig verwüstet.“

Uribes Kampf „gegen den Terrorismus“ scheint vor allem den Zweck zu haben, das wirtschaftspolitische Scheitern seiner Regierung zu verbergen. Die Arbeitslosigkeit steigt, die Wirtschaft stagniert, 70 Prozent der Kolumbianer leben in Armut, und die Flächen des Kokaanbaus vergrößern sich stetig.13 Für Uribe gibt es kaum einen Anlass, Gespräche mit der Guerilla aufzunehmen. „Ohne die Farc hätte seine Politik überhaupt keinen Sinn mehr“, sagt der Gewerkschafter Luciano Sanín. „Er braucht die terroristische Bedrohung, um die Maßnahmen seiner ‚demokratischen Sicherheit‘ zu rechtfertigen. Wie sonst könnte man vertreten, dass Kolumbien 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für das Militär ausgibt und kein Geld für soziale Investitionen übrig hat?“

Nach Ansicht des Präsidenten „destabilisieren Gewerkschaften den Staat“. Gewerkschafter fühlen sich bedroht. „Die politische Kultur Kolumbiens hat Gewerkschaften nie akzeptiert“, sagt Sanín. In den letzten 22 Jahren wurden 2 684 ihrer Mitglieder ermordet, 473 davon in der Regierungszeit von Álvaro Uribe, 41 im vergangenen Jahr.14 Eine Intervention der kolumbianischen Gewerkschaften beim US-amerikanischen Kongress hat mit dazu geführt, dass die Demokraten in Washington sich weigerten, das Freihandelsabkommen zwischen Kolumbien und den Vereinigten Staaten zu ratifizieren. Dieses Abkommen war ein wichtiges politisches Ziel Uribes. „Er will den neoliberalen Traum verwirklichen: billige und willige Arbeitskraft ohne Rechte und ohne Gewerkschaften“, meint der Gewerkschaftsführer Tarcisio Mora.

Die Arbeiter im Valle del Cauca schneiden Zuckerrohr mit der Machete – vierzehn Stunden täglich an sieben Tagen der Woche, für etwa 147 Euro im Monat. Am 15. September vergangenen Jahres begannen fast 18 000 Arbeiter einen Streik, um bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Nach 56 Tagen Streik kam unter Beteiligung des Arbeitsministers eine Vereinbarung zustande. Die Regierung sprach von einer „kriminellen, von den Farc gesteuerten Protestaktion“, und die Armee verletzte bei ihrem Einsatz gegen die Streikenden 100 Personen.

„Von 19 Millionen kolumbianischen Arbeitnehmern“, sagt Mora, „haben nur 5 Millionen eine soziale Absicherung, und nur 850 000 sind gewerkschaftlich organisiert. Lediglich in einem von hundert Unternehmen gibt es einen Tarifvertrag.“ Die Gewerkschaften beklagen, dass die Regierung in den vergangenen fünf Jahren die Anerkennung von mehr als 500 gewerkschaftlichen Organisationen verweigert hat. „In diesem Land“, sagt Sened Nio, der Vorsitzende der kolumbianischen Lehrergewerkschaft, „ist es einfacher, eine Guerilla zu gründen als eine Arbeitnehmervertretung.“

Kolumbien ist ein Land im Krieg. Es erfordert gehörigen Mut, unter diesen Bedingungen mit gewaltlosen Mitteln seine Rechte einzufordern und sich am Aufbau einer wirklichen Demokratie zu beteiligen. Dennoch herrscht daran kein Mangel – und alle hoffen auf die Unterstützung internationaler Organisationen. „Mit den Medien, den Waffen und dem Geld der Reichen können wir nicht mithalten“, sagt Lilia Solano, eine Menschenrechtsaktivistin. „Vielleicht ist es kollektiver Irrsinn, aber den Widerstand gegen all dieses Unrecht werden wir nicht aufgeben.“

Fußnoten: 1 Zum Vergleich: An den Solidaritätsbekundungen für die Geiseln vom 20. Juli nahmen 4 Millionen Menschen teil. 2 Siehe Carlos Gutiérrez, „Kolumbien: Vernichten oder verhandeln“, Le Monde diplomatique, April 2008. 3 Le Monde, Paris, 27. September 2008, vgl. www. amnesty.at/presse/2008/Amnesty_Kolumbien_ Zahlen&Fakten.pdf. 4 Nach Auskunft der NGO Codhes (Consultoría para los Derechos Humanos y el Desplazamiento) wurden allein im Jahr 2007 rund 305 000 Menschen gewaltsam von ihrem Land vertrieben. Siehe www.codhes.org. 5 Siehe Anmerkung 4. Zitiert nach: El Nuevo Herald, Miami, 15. Oktober 2008. 6 Laut Onic verfügen von 1 355 000 Indios – sie gliedern sich in 102 Volksgruppen, sprechen 64 Sprachen und machen 4 Prozent der Bevölkerung aus – 45 Prozent über kein eigenes Land. 80 Prozent leben in bitterer Armut. Mehr als 54 000 wurden gewaltsam vertrieben. 7 Traditionelle indigene Versammlung. 8 Nach Auskunft des Anwaltskollektivs José Alvear Restrepo wurden von den rund 31 600 demobilisierten Kämpfern nur 100 gerichtlich belangt. Kein Einziger wurde verurteilt. 9 Politische Polizei und Nachrichtendienst in einem. 10 Nach Aussagen eines hohen Beamten der DAS, Rafael García, hat Noguera 2004 einen Plan zur Destabilisierung von Venezuela ausgearbeitet und gemeinsam mit Rodrigo Tovar alias „Jorge 40“, einem Anführer der Paras, bei den Präsidentenwahlen 2002 den Wahlbetrug organisiert, mit dem Uribe im ersten Wahlgang die Mehrheit erzielte. 11 Da die Verfassung von 1991 eine Wiederwahl des amtierenden Präsidenten verbot, soll Uribe die Abgeordnete Yidis Medina bestochen haben, damit sie der Abänderung zustimmte. Sie konnte nur dank Medinas Stimme verabschiedet werden. 12 „La para-política está amenazada“, Semana, Bogotá, 1. September 2008. 13 Das Programm zur Erfassung des Kokaanbaus durch die Vereinten Nationen (Simci) gab bekannt, dass im Juni 2008 der Anbau wieder die Ausdehnung des Jahres 2002 erreicht hatte. 14 Nach Zahlen der gewerkschftlichen Bildungsinitiative Escuela Nacional Sindical (ENS).

Aus dem Französischen von Herwig Engelmann

Paola Orozco Souël ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 13.02.2009, von Paola Orozco Souël