13.02.2009

Algerien – ein Staat steht still

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Algerien – ein Staat steht still

von Ali Chibani

Alle Wege nach Larbaa Nath Irathen führen bergauf, sagt ein kabylisches Sprichwort. Es geht auf schmalen, kurvenreichen Straßen die Berghänge entlang, auf denen das Grün der Eschen, Oliven- und Obstbäume im blendenden Licht hervortritt. Leider stören jedoch die vielen wilden Müllkippen die Schönheit der Landschaft: Überall liegen Flaschen, Plastiktüten und sonstige Abfälle herum. Ob hier auf dem Land oder in den Städten – die Umweltzerstörung in Algerien sagt viel über den Zustand der algerischen Gesellschaft aus.

Auch im Städtchen Larbaa Nath Irathen (LNI) in der Kabylei, von den Franzosen einst Fort National genannt, entstehen viele Neubauten. Doch weil sich fast immer ein paar Reiche oder hohe Beamte einige Wohnungen sichern, nimmt die Wohnungsnot dennoch nicht ab – den Normalbürgern bleibt nichts anderes übrig, als immer wieder möglichst energisch dagegen zu protestieren.

In LNI, wo verfallende Bauten aus der Kolonialzeit das Bild beherrschen, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Auf den Straßen hängen junge Arbeitslose herum. Hittiste heißen sie hier, das ist das arabische Wort für „Mauer“, weil sie den ganzen Tag an irgendeiner Wand lehnen. Es fällt schwer zu glauben, was die Regierungen seit über einem Jahrzehnt unermüdlich behaupten: die Arbeitslosigkeit betrage nicht mehr als 12 Prozent.

„Seit Bouteflika an der Macht ist, gibt es tatsächlich mehr Arbeitsplätze“, meint Omar Achour, 23 Jahre alt und arbeitslos. Er sitzt den ganzen Tag im Schatten hinter seiner tavla, einer alten Vitrine, und verkauft Zigaretten, Schnupftabak und Süßigkeiten. Zwei Männer bleiben stehen und kaufen zwei Zigaretten. Omar erhebt sich und lässt die Münzen in eine verrostete Geldkassette fallen. „Ich hätte so gern eine Arbeit“, meint er und setzt sich wieder. „Wenn ich das nicht schaffe, muss ich vielleicht auswandern.“ Das Visum für Frankreich hat er längst beantragt, aber noch nicht erhalten. So geht es vielen jungen Algeriern; man nennt sie harragas. Das Wort aus dem maghrebinischen Arabisch bedeutet „die brennen“ und bezeichnet Leute, die alles zurücklassen, um unter Lebensgefahr in irgendeinem dubiosen Boot nach Europa zu gelangen.

„Die meisten Frauen, die aus Algerien wegwollen, beantragen ein Visum für ein Studium, oder sie heiraten einen Migranten“, meint Sofia. Die 27-Jährige glaubt nicht an einen Rückgang der Arbeitslosigkeit. „Ich sehe nur, dass immer mehr Menschen arbeitslos sind. Schauen Sie sich doch all die jungen Leute an, die nicht wissen, wohin. Nicht einmal die Studierten finden Arbeit.“ Sofia hat einen Job in einer „Telefonboutique“: „Für mich ist es wichtig, dass ich nicht den ganzen Tag zu Hause herumhocke. Ich arbeite hier von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags, ohne Mittagspause, und verdiene gerade mal 5 000 Dinar im Monat.“1

So geht es vielen algerischen Frauen – sie werden ausgebeutet. „Als Frau kannst du über den Lohn nicht verhandeln. Die Unternehmer geben uns Jobs zu Bedingungen, die ein Mann nie akzeptieren würde.“ Meine Gesprächspartnerin ist um die dreißig, sie arbeitet in einer sozialen Einrichtung und verdient 3 000 Dinar im Monat (umgerechnet 30 Euro). „Damit komme ich nicht weit. Selbst das Fahrgeld bezahlen meine Eltern.“ Der Regierung wirft sie zwar vor, „die Öleinnahmen zu verschwenden“, von Präsident Bouteflika hat sie jedoch eine erstaunlich positive Meinung: „Ich höre von vielen Leuten Gutes über ihn. Vor allem hat er Hilfsprogramme für arbeitslose Jugendliche eingeführt und armen Familien geholfen, eine Wohnung zu bekommen.“

„Algerien soll ein soziales Land sein? Alles Augenwischerei!“ Hocine Lounis ist der Bürgermeister von Larbaa Nath Irathen und Mitglied der Berberpartei Rassemblement pour la culture et la démocratie (RCD). Er hält die staatlichen Beschäftigungsmaßnahmen schlicht für „Ausbeutung“. 1994 wurde ein „Programm zur Vergütung von Tätigkeiten im öffentlichen Interesse/IAIG“ eingeführt. Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind jeweils auf ein halbes Jahr befristet und werden mit 3 000 beziehungsweise 2 700 Dinar vergütet. „Ich muss also einen jungen Hochschulabsolventen oder eine Fachkraft für 3 000 Dinar im Monat beschäftigen. Zum Abbau der Arbeitslosigkeit trägt das überhaupt nichts bei. In meinem Bürgermeisteramt sind 80 Prozent der Sachbearbeiter über das IAIG-Programm angestellt. Das bedeutet, dass wir hier alle sechs Monate 80 Prozent unserer Mitarbeiter entlassen müssen.“ Die Bürgermeister werden nachgerade gezwungen, gegen die Vorschrift zu verstoßen. „Natürlich stelle ich immer wieder dieselben Leute ein. Soll ich etwa eine Witwe auf die Straße setzen, die in einer Schulmensa arbeitet und nur dieses kleine Einkommen hat, um sich und ihre Kinder durchzubringen?“

Hocine Lounis war schon von 1997 bis 2002 Bürgermeister, 2007 wurde er erneut ins Amt gewählt. Er sieht seine Befugnisse zunehmend beschnitten: „Der Staat will verhindern, dass sich die Bürgermeister für die Leute einsetzen. Auf Bauvorhaben oder die Reform der lokalen Steuervorschriften hat man als Vorstand der Gemeinde keinerlei Einfluss mehr – der Bürgermeister ist nur noch ein Anhängsel der Verwaltung. Die Aufsicht hat alles in der Hand.“

Gemeint sind damit die Ministerien und die Präfekten der Regierungsbezirke (wilayas). Sie entscheiden über Vorhaben und ihre Umsetzung, auch wenn sie von den Notwendigkeiten vor Ort wenig wissen. „Alle Parteien, alle Bürgermeister in Algerien kritisieren diese Verhältnisse“, meint Hocine Lounis. „Der Staat beruft sich auf den Ausnahmezustand, um mehr Zentralisierung durchzusetzen.“

Aber nicht nur der Staat ist schuld am Niedergang der Gemeindeverwaltungen. Auch die Bürgermeister und ihre Stellvertreter tragen maßgeblich dazu bei. So herrscht überall in der Verwaltung Korruption. Ohne „Beziehungen“ geht gar nichts. In Algerien haben viele das Gefühl, ständig Erpressungen ausgesetzt zu sein. Sei es eine dringend benötigte Bescheinigung, sei es ein übereifriger Staatsdiener, der einem im Nacken sitzt – wer nicht eine irgendwie „höhergestellte Persönlichkeit“ kennt, muss in die Tasche greifen.

Er habe im Befreiungskrieg für „ein anderes Algerien gekämpft“, meint der 76-jährige Dda Idir.2 „Überall herrscht Ungerechtigkeit. Wenn du niemanden kennst, der dir helfen kann, hast du keine Rechte. Wer einen Beamten in der Ortsverwaltung kennt, wird bevorzugt behandelt und bekommt, was er will – mit den richtigen Beziehungen kann man alles erreichen. Ich weiß von Leuten, die eine Pension für Kriegsveteranen bekommen, obwohl sie während des Krieges die ganze Zeit zu Hause saßen.“

Dafür gibt der Staat gewaltige Summen aus, vor allem in Wahlkampfzeiten. Als Kriegsveteran oder Sohn eines schahid3 erhält man allerlei Vergünstigungen: finanzielle Vorteile, Befreiung von bestimmten Steuern, Sonderangebote im Reisebüro … Die Regierungsparteien Front de libération nationale (FLN) und Rassemblement national démocratique (RND) verteilen diese Privilegien, um Wähler zu gewinnen und zu binden. Folglich begegnet man auch „Kriegsveteranen“, die viel zu jung sind, um im Befreiungskrieg (1954–1962) gekämpft zu haben. Präsident Bouteflika hat bereits – wenn auch nicht persönlich, sondern durch den für die Kriegsveteranen zuständigen Minister – solche Betrugsmanöver missbilligt. „Bouteflika sagt vieles, was richtig ist“, meint Dda Idir. „Aber leider löst er seine Versprechen nicht ein.“

Bouteflika hatte einige Erwartungen geweckt, als er im April 1999 seine Präsidentschaft antrat. Er hielt Reden auf Französisch und in algerischem Arabisch4 , er bezog sich öffentlich auf die Amazigh-Traditionen5 , er interessierte sich für die Alltagsprobleme der Leute und machte seinen Ministern Druck, sie anzugehen – er war ein Hoffnungsträger.6

Die Begeisterung legte sich schnell, als sich herausstellte, dass der Präsident seine Zeit am liebsten im Ausland verbrachte. Die Protestbewegung in der Kabylei (den „Schwarzen Frühling“ im April und Mai 2001) ließ er blutig niedergeschlagen, 26 Menschen wurden erschossen (fünf in Larbaa Nath Irathen) und tausende verletzt.7

Heute kommt es fast täglich irgendwo im Staatsgebiet zu „Aufständen“. Auf die Versprechungen des Präsidenten gibt man nichts mehr, seine Reden und die der anderen Politiker finden keine Zuhörer. „Politik interessiert mich nicht“, meint ein Rentner: „Ich muss mich darum kümmern, dass genug zu essen da ist.“ Er sitzt im Café in der Ortsmitte, wo Dreißigjährige mit Siebzigjährigen Karten spielen. Bestellt hat er nichts. „Meine Rente reicht nicht, um meine fünf Töchter zu ernähren, die alle keine Arbeit haben. Manchmal gibt es etwas zu essen, manchmal müssen wir eben Geduld haben.“

Diese Geduld müssen die meisten Menschen aufbringen. Die Preise für Lebensmittel steigen wie nie zuvor. Ein 25-Kilo-Sack Grieß kostet 800 Dinar, fünf Liter Speiseöl 650 Dinar, ein Kilo Salat 130 Dinar. Mit einem Durchschnittseinkommen kommt man kaum über die Runden. Am schlimmsten ist es im Monat Ramadan: Dann wird auf unverschämte Weise Profit gemacht, alles ist plötzlich doppelt oder dreimal so teuer. „In Algerien kann sich alles von einem auf den anderen Tag ändern – außer unserer Not“, klagt der Rentner. Dass seit langem eine Verfassungsreform geplant ist, davon weiß er nichts.

Ein anderer Rentner, der viele Jahre in Frankreich gearbeitet hat, trinkt am Tresen eine Limonade. Er will sich zunächst nicht äußern, dann macht er seinem Ärger doch Luft. „Unseren Regierenden habe ich nichts mehr zu sagen. Sie wissen Bescheid, aber sie tun nichts, um unsere Lage zu verbessern … Aber vom französischen Staat würde ich gern mal hören, warum er die Rente für unsere Ehegatten gekürzt hat.“ Schon seltsam, dass jemand nicht von seiner eigenen, sondern einer fremden Regierung Hilfe erhofft. Dass sich in den letzten zehn Jahren die Sicherheitslage verändert hat, weiß allerdings auch er. „Wir fürchten uns mehr vor Verbrecherbanden als vor dem Terrorismus. Hier kann man wegen 10 Dinar umgebracht werden. Wie ist es so weit gekommen? Keine Ahnung – aber vielleicht ist das ja so gewollt?“

„C’est voulu!“ – „Das ist Absicht!“ In der Kabylei hört man das – auf Französisch – in den letzten Jahren immer öfter. Dem Staat wird unterstellt, er habe die neuen Phänomene – das Bandenunwesen, den Drogenhandel, die Prostitution – begünstigt und die Al-Qaida-Gruppen in den Maghreb gelockt, um die Bevölkerung gefügig zu machen: Sie soll die Rückkehr der Gendarmerie akzeptieren, die nach dem Schwarzen Frühling von 2001 abgezogen wurde.

Die Leute haben in der Tat alle Angst. In den 1990er-Jahren konnte man in der Kabylei aus dem Haus gehen, wann man wollte. Heute erzählt Karim, Fahrer eines Sammeltaxis: „Ich höre jetzt im Winter schon um 18 Uhr auf, wegen der Banditen mit ihren falschen Straßenkontrollen. Da wirst du das Auto los und alles, was du besitzt.“

Dass Karim tagtäglich sein Leben aufs Spiel setzt, liegt jedoch nicht nur an den Banditen, die auch in anderen Regionen ihr Unwesen treiben. „Die Straßen in Algerien führen direkt zum Friedhof“, bemerkt dazu ein Polizeikommissar. Karim weiß, warum hier so viele Unfälle passieren: „Die Straßen sind zu schmal und in einem miserablen Zustand. Es gibt zu wenig Verkehrsschilder, und niemand hält sich an die Regeln. Und die Leute haben keine Angst vor dem Tod – weil sie vom Leben nichts mehr erwarten!“

Zwischen dem Staatsapparat und der algerischen Nation hat sich nicht ein Graben aufgetan, sondern eine Wüste gebildet – und schon längst macht sich niemand mehr auf den Weg, um herauszufinden, wie es auf der anderen Seite dieser Wüste aussieht. In den zehn Jahren unter Präsident Bouteflika hat eine bürgerliche Elite ihren Zugang zu den Korridoren der Macht ausgebaut, während die unteren Schichten verarmten. Soweit man das beurteilen kann, sind die Islamisten heute stärker als in den 1990er-Jahren. Die „reuigen“ und aus dem Gefängnis entlassenen Terroristen bekamen Arbeit und staatliche Unterstützung, während die Opfer der fundamentalistischen Barbarei keine Hilfe erhielten. Die Tragödie nimmt immer bizarrere Züge an: Nach dem „Zivilpakt“8 , aus dem das „Projekt der nationalen Versöhnung“ hervorgegangen ist, haben sich viele Jugendliche als reuige Terroristen ausgegeben, nur um in den Genuss staatlicher Unterstützung zu kommen.

Fußnoten: 1 Das Durchschnittseinkommen in Algerien liegt bei 15 000 Dinar (150 Euro). 2 „Dda“ ist eine respektvolle Anrede für Ältere. 3 Schahid („Zeuge“) bezeichnet die „Märtyrer“, die im Befreiungskampf gestorben sind. Etwa 250 000 Männer sind als „ehemalige Mudschaheddin“ registriert oder haben Anspruch auf diesen Titel. 4 Bouteflikas Vorgänger benutzten nur das Hocharabisch, eine Literatursprache, die auch die arabischsprachigen Algerier nicht verstehen. 5 Amazigh ist der legendäre Stammvater der Berber. 6 In seinem Buch „Bouteflika, une imposture algérienne“ (Alger (Le Matin) 2003) hat Mohamed Benchicou, Chefredakteur der algerischen Tageszeitung Le Matin, ein wenig schmeichelhaftes Bild von Bouteflika gezeichnet. Er wurde dafür zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, seine Zeitung durfte nicht mehr erscheinen. 7 Siehe Farid Alilat und Shéhérazade Hadid, „Vous ne pouvez pas nous tuer, nous sommes déjà morts“, L’Algérie embrasée, Paris (Edition numé-ro 1) 2002. 8 Laut einem Gesetz von 1999 gehen „reuige“ Terroristen straffrei aus, wenn sie nicht an Mordtaten beteiligt waren. Sie erhalten sogar Arbeit und staatliche Unterstützung. Ehemalige regionale Führer der Groupes Islamistes Armés (GIA) stehen unter Polizeischutz. Siehe Lahouari Addi, „Algerien: Verordnete Versöhnung“, Le Monde diplomatique, April 2006.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Ali Chibani ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 13.02.2009, von Ali Chibani