13.08.2004

Possenreißer und gequälte Witwen

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Possenreißer und gequälte Witwen

MIT ihren etwa 1.000 Filmproduktionen jährlich gilt die indische Filmindustrie mit Zentrum Bombay als die größte der Welt. Die Inder sind begeisterte Kinogänger, leben mit ihren Filmhelden, wollen sich von Pathos und Schrecken mitreißen und von Gesangs- und Tanzeinlagen aufmuntern lassen – und legen keinen großen Wert auf filmischen Realismus. Im Gegenteil: Ausgesprochen unwahrscheinliche Wunder sowie Deus-ex-Machina-Eingriffe sind erwünscht, nicht zuletzt weil sie die gesellschaftliche Hierarchie nicht antasten.

Von ELISABETH LEQUERET *

Ein ganz gewöhnliches Kino in einem einfachen Viertel von Madras in Südindien – wie die meisten Kinos im Land ist es mit seinen über tausend Plätzen immens groß und rappelvoll. Der Ansturm auf die Plätze war enorm, in der letzten Reihe knarren die zusätzlich aufgestellten Stühle. Niemand will heute Nachmittag „Pennin Manadai Thottu“ (wörtlich: „Rührt das Herz einer Frau“) verpassen, einen lokalen Blockbuster. Der Soundtrack zum Film dudelt schon wochenlang in den Straßen der Hauptstadt des südöstlichen Bundesstaats Tamil Nadu. Ein Baby weint, und einige nur schemenhaft zu erkennende Gestalten breiten anscheinend ein Familienpicknick aus. Zwei Männer gehen nach draußen, um auf der Freitreppe noch eine zu rauchen. Es ist ein ganz normaler Sonntag in einem Kino in Indien.

Abgesehen von ihrem anekdotischen Charme ist diese eine Momentaufnahme sehr bezeichnend für das Verhältnis, das man in Indien zum Kino hat. Aus der Sicht eines westlichen Beobachters, der an das Halbdunkel und eine eher andächtige Stille im Kinosaal gewöhnt ist, verfolgen indische Kinobesucher das Leinwandgeschehen zwar mit größter Inbrunst, aber auch mit einer gewissen Lässigkeit.

Lärm, Gemurmel, ständiges Hin und Her – wer jemals eine Filmvorführung in Bombay, Madras oder Bangalore (den drei Zentren der Filmproduktion auf dem Subkontinent) miterlebt hat, erinnert sich an das lebhafte Gewusel im Saal: allgemeine Anteilnahme und zustimmendes Murmeln, wenn der Held dem Bösewicht Paroli bietet und ihm einen Fußtritt verpasst; Beifall, wenn ein gedemütigter Vater – endlich! – ausholt und seiner nichtswürdigen Tochter eine Ohrfeige verpasst; Rührung und Begeisterung über die Tanz- und Gesangseinlagen, die das Publikum mitreißen. Hemmungslos spornt es die Figuren auf der Leinwand an, lobt oder tadelt sie.

Zum festen Bestandteil der indischen Kultur ist der Film wohl auch deshalb geworden, weil er keine „reine“ Kunstform ist. Die Inder haben diese Kunst, die in einem Zeitraum von drei Stunden Darstellung und Erzählung, Tanz und Gesang, intime Romanze und epischen Atem miteinander zu vereinen vermag, von Anfang an geliebt und verehrt. Mit seiner Kultivierung des Überbordenden, der Vermischung und Verwandlung der Genres wurde der Film nie als eine neue Form wahrgenommen, sondern als natürliche Erweiterung der traditionellen Künste – Marionettentheater, Kathakali1 , Laterna magica. „Indien war von jeher ein riesiger Bilderbasar“, so Joël Farges2 , Produzent von Adoor Gopalakrishnan, einem Filmemacher aus Kerala. „Von den Mandalas der Dschaina bis zu den Thangkas – buddhistischen Rollbildern aus Tibet –, von den Schattenspielen bis zu den klassischen Bharata-Natyam-Tänzen bringt es seit seiner Frühgeschichte Bilder seiner Götter und Darstellungen der um sie gesponnenen Geschichten hervor.“

Das „Shambarik Khadolika“ (wörtlich: „die Lampe des Possenreißers bei Einbruch der Nacht“), das Schauspiel der Laterna magica, führt bereits 1894 bewegte Bilder vor, die vom Schattenspiel und Marionettentheater inspiriert sind. Ihr Erfinder, Mahadeo Patwardhan, bediente die Technik, während einer seiner Söhne halb singend, halb erzählend die Handlungen der Figuren vortrug. Zwei Jahre später kam in Bombay der Kinematograf der Brüder Lumière an, die als die eigentlichen Pioniere der bewegten Bilder gelten. Maurice Sestier, der Vertreter der Brüder Lumière, organisierte am 7. Juli 1896 zunächst im Nobelhotel Watson, danach im Novelty-Theater im Stadtzentrum die ersten Filmvorführungen. Luxussessel und billige Plätze, ein Vorhang, um die Schauspielerinnen den männlichen Blicken zu entziehen, und schon damals ein großes Orchester – es wurde ein voller Erfolg. „Die Filmindustrie ist so sehr Teil der Industrie unseres Landes, dass die Inder hundert Jahre nach der Erfindung der Brüder Lumière niemals auf die Idee kämen, der Film könnte tatsächlich einmal aus dem Ausland gekommen sein“, bestätigt der Produzent Suresh Jindeel.3

Der Film konnte nicht zuletzt deshalb zur Lieblingsfreizeitbeschäftigung der Inder werden, weil er das Wunderbare der hinduistischen Kosmologie aufgreift und in neuer Form zum Ausdruck bringt. Die Zuschauer erleben jeden Film als weite Reise (bei mindestens zwei, oft über drei Stunden Länge) und lassen sich mit Begeisterung auf Fiktionen ein, die hemmungslos den großen Fundus der Mythen und Legenden plündern. Den mythologischen Filmen verdankt die Filmindustrie von Bombay übrigens ihre ersten großen Publikumserfolge, besonders dem ersten einheimischen Spielfilm „Raja Harishchandra“ („Der König Harishchandra“ von Dadasaheb H. Phalke, 1912).

Das Genre des mythologischen Films ist heute so gut wie verschwunden, aber viele Drehbücher schöpfen weiterhin nach Belieben aus den beiden großen altindischen Volksepen „Ramayana“ und „Mahabharata“. Auch der Dauerbrenner – junges Mädchen mit unerschütterlicher Hingabe an romantischen, passiven und kindlichen Geliebten – ist sowohl von Leila und Madschnun (dem berühmtesten Paar der arabischen Literatur) wie von der indisch-persischen Kultur oder der Viraha-Dichtung inspiriert.

Originalität, wichtigstes Kriterium eines Drehbuchs westlicher Machart, würde das indische Publikum eher abschrecken. Der 1917 von dem bengalischen Romancier Saratchandra Chatterjee geschriebene Roman „Devdas“ erzählt die tragische Liebesgeschichte eines Großgrundbesitzersohns und eines jungen Mädchens aus einfachen Verhältnissen. Im strengeren Sinn verfilmt wurde dieses zum Klassiker gewordene wunderbare Melodram „nur“ siebzehnmal, aber es gibt zahllose indische Spielfilme, deren Plot im Prinzip auf der gleichen Handlung beruht.

Der indische Film macht ständig Anleihen bei der traditionellen Kultur, die sich ihrerseits immer wieder vom Film anregen lässt. Dieser Schmelztiegel, in dem sich fortwährend traditionelle regionale Kulturen und „moderne“ westliche Themen miteinander verbinden, prägt nach Meinung des Psychoanalytikers Sudir Kakar „in entscheidendem Maß die Entwicklung einer panindischen Kultur. […] Der Film erfasst ein so breit gefächertes Publikum, dass er die sozialen und geografischen Kategorien auf eine andere Ebene bringt. Da er täglich viele Millionen Menschen erreicht, hat er mit seiner Formensprache längst die Grenzen der städtischen Kultur hinter sich gelassen und die ländliche Volkskultur durchdrungen […]. Wenn ein regionaler Volkstanz oder eine bestimmte traditionelle Liedform wie der Bhajan Eingang in ein Studio in Madras finden, werden sie durch musikalische oder choreografische Motive aus anderen Regionen, womöglich sogar aus westlichen Ländern ergänzt und damit in einen Filmtanz oder Film-Bhajan verwandelt. In Technicolor und Stereo ist das Original dann plötzlich wie verwandelt. Auf die gleiche Weise sind nach und nach auch Filmszenen, -dialoge und -kulissen in das indische Volkstheater eingewandert. Selbst die traditionelle Ikonografie der Kultstatuen und -bilder verbeugt sich vor den Darstellungen der ‚Götter‘ und ‚Göttinnen‘ des Films.“4

Wenn der Kinoheld den Blick erwidert

DIE Kinoleidenschaft des Publikums ist damit freilich noch nicht erklärt. Dass die Inder sich mit den Filmfiguren so sehr identifizieren, dass sie für die Dauer der Vorführung ihre Sorgen und Nöte vergessen, liegt auf der Hand. Womöglich liegt es auch, wie manche Theorien behaupten, am darsan, dem „segensreichen Blick“, der sich angeblich einstellt, wenn man das heilige Bild einer Gottheit oder bedeutenden Persönlichkeit anschaut, während diese gleichzeitig den Blick erwidert.

Sudir Kakar erinnert sich an das „Kastensystem der Filme“. Während seiner Kindheit im Pandschab waren die Abenteuer- und Kaskadenfilme – lokale Versionen von Kung-Fu – längst nicht so populär wie die mythologischen und Historienfilme. Auch die wenig realistischen Wendungen (Deus ex Machina, Wiederaufleben in letzter Minute etc.), die im Sinne des obligatorischen Happy Ends den Sieg der Witwe und des Waisenkinds über den infamen Verführer besiegeln, sind Ausdruck einer Kultur, die jeden Exzess duldet – vorausgesetzt, er stellt nicht die traditionellen Hierarchien in Frage. Tatsächlich ist Kino in Indien nicht so sehr „Opium fürs Volk“ oder Kitsch, sondern Ausdruck für ein System, das allem, den Dingen wie den Menschen, einen Platz zuweist, den sie lediglich als gegeben hinnehmen können. Alles, was diese Ordnung umzustürzen versucht, gilt als Realitätsverzerrung.

So schreibt Bhaskar Ghose in „Imaginaire et Icônes“5 : „Es gibt Filme, die von religiösen Vorstellungen der Reinheit, von Ungerechtigkeit und Kastenunterschieden handeln und großen Erfolg haben. Aber das liegt offenbar nicht an der Darstellung der sozialen Verhältnisse oder der menschlichen Beziehungen, sondern daran, dass die sozialen Verhältnisse benutzt werden, um das Interesse des Publikums zu wecken. Der Erfolgsfilm „Achhut Kanya“ („Die Unberührbare“, Regie: Franz Osten, 1936) stellt das Kastensystem nicht in Frage, sondern macht sich die emotionalen Reize zunutze, die es ausübt. Auf gleiche Art und Weise setzt „Do Bigha Zameen“ („Zwei Hektar Land“ von Bimal Roy, 1955) Armut und Ungerechtigkeit ein […]. Diese Filme fordern weder zur Introspektion noch zur Antwort auf beunruhigende Fragen heraus. Sie verlangen vom Zuschauer nur Anteilnahme an der Dramatik und am Pathos der Darstellung.“

Man könnte noch weiter gehen und behaupten, dass die scheinbare Neutralität der indischen Filme – das Benutzen der „emotionalen Wirkung“ von Armut, Hunger und anderen gesellschaftlichen Nöten – nichts als Fassade ist und dass die Filme im Gegenteil ihren Beitrag zum Erhalt des gesellschaftlichen Status quo leisten.

Die Heldin in „Mother India“ (von Mehboob Khan, 1975) etwa wird ihr Leben lang von ein und demselben Wucherer gequält, ohne dass sie die leiseste Regung von Revolte gegen diesen Mann erkennen lässt, der sie um ihr Land, ihren Schmuck und ihren Ehemann bringt. In einer der letzten Szenen tötet sie ihren eigenen Sohn, weil er versucht hat, den Betrüger umzubringen: Die Ehre der Familie muss gerettet werden, koste es, was es wolle.

„Im Westen ist der populäre Film reine Unterhaltung. In Indien dagegen ist er untrennbar mit Fragen der Religion verbunden“, sagt Olivier Bossé, Professor am Institut national des langues et civilisations orientales (Inalco) in Paris. „Die Inder suchen im Kino keinen Realitätsbezug, sie gehen ins Kino wie zu einem Ritual, um möglichst wirkungsvoll mit dem Göttlichen zu kommunizieren, wie bei einer Pilgerfahrt. Die erhabenste Wirkung eines Films besteht darin, die Weltordnung zu bestätigen. Deshalb kommt es auch nicht auf den Kampf zwischen Gut und Böse an, sondern darauf, dass jeder seine Pflicht tut.“

Der französische Anthropologe Emmanuel Grimaud6 führt ein weiteres Beispiel an: „In „Prem Granth“ („Das Buch der Liebe“ von Rajiv H. Kapoor, 1996) wird die weibliche Hauptfigur nach zwanzig Filmminuten vergewaltigt, und zwar noch bevor sie der männlichen Hauptfigur begegnet (dem einzigen Mann, der sie berühren dürfte). Das haben die Leute im Publikum nicht akzeptiert, sie sind rausgegangen.“

So nimmt der Kinozuschauer seine eigenen Schnitte am Film vor, stellt seine persönliche Montage zusammen, die ihm hilft, Antworten auf seine Probleme, seine Nöte und Konflikte zu finden. Die Übertragung vom Film auf das eigene Leben bleibt dabei nicht auf das Drehbuch beschränkt. Sie betrifft auch Kostüme, Kulissen und natürlich die Schauspieler selbst. Grimaud erzählt zum Beispiel die Geschichte von Lakhan, einem kleinen Teeverkäufer, der ein leidenschaftlicher Bewunderer des Filmstars Salman ist: „Salman muss eine Gefängnisstrafe absitzen, weil er in einem Naturschutzgebiet gejagt hat. Lakhan fasst daraufhin den Entschluss, solange auf den Kinobesuch zu verzichten. Das ist für ihn eine Möglichkeit, sich aus Kinoelementen eine selbst auferlegte Prüfung zu konstruieren und auf das zu reagieren, was Salman gerade durchmacht.“

Wohl kein anderes Land hat die Durchlässigkeit zwischen Film und Leben so sehr auf die Spitze getrieben wie Indien. Den besten Beweis dafür liefert der Tamilenstaat Tamil Nadu mit seiner traditionellen Verschwisterung von Politik und Showbusiness. Hier wurde der stets sonnenbebrillte Megastar Mullapally Gopalas Ramachandran7 , kurz MGR, 1967 Ministerpräsident. Er blieb es 20 Jahre. Sein Tod 1987 löste Tumulte aus, 31 seiner Fans nahmen sich das Leben. Als seine Witwe versuchte, seine Nachfolge anzutreten, machte ihr die junge Geliebte des Verstorbenen, die Schauspielerin Jayalalitha, einen Strich durch die Rechnung – und regiert seitdem den Bundesstaat an der Südostspitze des Subkontinents.

deutsch von Sigrid Vagt

* Journalistin bei Radio France Internationale, Paris; Autorin von „Le cinéma africain. Un continent à la recherche de son propre regard“, Cahiers du Cinéma, Paris 2003.

Fußnoten: 1 Ritualisierter Tanz, der Geschichten aus „Ramayana“ und „Mahabharata“ erzählt. 2 Sammelband, „Indomania, le cinéma indien des origines à nos jours“, Hg. Cinémathèque française, Paris 1997. 3 Bruno Philip, „Un peuple assoiffé de rêves“, in: Le siècle du cinéma, Sondernummer, Le Monde, 1995. 4 Sudir Kakar, „Eros et imagination en Inde“, Paris (Edition des Femmes) 1989. 5 S. Anm. 2. 6 Emmanuel Grimaud, „Bollywood film studio, Comment les films se font à Bombay“, CNRS Editions, Paris 2004. 7 Der Schauspieler M. G. Ramachandran spielte von den Dreißigerjahren bis Ende der Siebzigerjahre in über 200 Filmen.

Le Monde diplomatique vom 13.08.2004, von ELISABETH LEQUERET