Das gute Leben der Leute von Eymet
Wer sein Häuschen in England verkauft, bekommt dafür, wenn er Glück hat, ein altes Landhaus in der Dordogne und trifft dort auf erstaunlich viele Landsleute. Die Engländer genießen „the good life“ – und manche machen sogar bei Attac mit.
Von BERNARD CASSEN
WIE seit über 700 Jahren1 war in Eymet auch an diesem Donnerstag Markt. Der 2 000-Seelen-Ort, eine der größeren Kantonsgemeinden im Arrondissement Bergerac, das wiederum zum Departement Dordogne gehört, liegt rund 50 Kilometer südöstlich der Präfekturstadt Périgueux. Bürgermeister Jean-Michel Magnac, im unmittelbaren Bürgerkontakt sichtlich geübt, schlendert von Stand zu Stand, schüttelt Hände, die sich ihm entgegenstrecken, hat freundliche Worte für seine Mitbürger und tauscht Küsschen mit der Damenwelt. Alle kennen ihn hier, und auch er kennt offenbar alle anderen.
Alle? Nicht ganz. Denn auf dem kleinen Platz mit den Fachwerkhäusern ringsherum, deren zurückgesetztes Erdgeschoss Raum für einen Bogengang lässt, drängen sich nicht nur Bürger seiner Gemeinde. Viele, die hier einkaufen, kommen aus dem Umland, zum Teil sogar von recht weit her. An ihrem vertrauten Umgang mit den Örtlichkeiten und Markthändlern merkt man schnell, dass sie keine durchreisenden Touristen sind, sondern Leute, die hier ihre gewohnten Gänge haben. Man braucht die Ohren nicht sehr zu spitzen, um zu merken, dass sie Englisch sprechen, manche ausschließlich Englisch, wie ihre Reaktion auf eine einfache, auf Französisch gestellte Frage zeigt. Wir befinden uns hier im Herzen der Region, die in den Londoner Medien „Dordogneshire“ heißt, die „Grafschaft“ Dordogne.
Die britischen Bürger kommen nicht nach Eymet, um wie so manche Pariser Berühmtheit, die im Lubéron ihr Sommerquartier aufschlägt, zu sehen und gesehen zu werden, sondern um sich mit Vorräten einzudecken, sich mit Landsleuten zu treffen und in vollen Zügen zu genießen, was ihnen allen in England immer gefehlt hat: the good life, symbolisiert durch das reichhaltige Obst- und Gemüseangebot, die köstlichen Erzeugnisse aus dem Umland, das Restaurant, das einen gut gekühlten Rosé und Monbazillac serviert, die Sonne. Dies alles vor der herrlichen Kulisse eines befestigten Marktfleckens aus dem Mittelalter. Das Klischee vom Leben im Land der Schlösser – an denen es in dieser Gegend wahrlich nicht mangelt –, ein Klischee aus der Perspektive des vernebelten Albion, aber ein Klischee, das viele Briten in den letzten Jahrzehnten für sich zur Wirklichkeit gemacht haben.
Offizielle Statistiken, wissenschaftliche Untersuchungen2 und der simple Augenschein vor Ort kommen zum gleichen Ergebnis: Nirgends sonst in Frankreich trifft man auf so viele britische Staatsbürger wie in der Dordogne. Dabei erklärt sich die besondere Attraktivität der Region keineswegs nur aus einer langen gemeinsamen Geschichte, obwohl auch die eine gewisse Rolle spielen mag. Laut Volkszählung von 1999 wohnten in der Region Aquitaine 7 133 britische Staatsbürger, davon knapp 3 000 allein in der Dordogne. Tatsächlich scheinen es jedoch weit mehr zu sein. Die meisten Beobachter gehen davon aus, dass rund 6 000 Untertanen der britischen Königin im Departement Dordogne leben.
Die in der Dordogne lebenden Briten sind keine homogene Gruppe. Nach dem Zeitpunkt ihrer Niederlassung lassen sich mehrere Generationen unterscheiden. Die Pioniere kamen in den 1950er-Jahren. Sie waren zumeist Leute, die ihr Berufsleben wenigstens teilweise in Übersee verbracht hatten, als Diplomaten, Geheimdienstler, Militärs oder Geschäftsleute: Banker aus Hongkong oder Singapur, Plantagenbesitzer aus Malaysia, Manager von internationalen Konzernen. Sie waren großzügige Residenzen, viel Platz, viel Sonne und ein unbeschwertes Leben gewöhnt. Im Zuge der Entkolonisierung hatten sie sich in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedet und mochten sich nicht in das graue Einerlei eines übervölkerten Landes einfügen, das gerade erst die Lebensmittelrationierung abgeschafft hatte und wo ihnen der verhasste Sozialismus – mächtige Gewerkschaften, ständige Streiks und 1964 dann auch noch eine Labour-Regierung – das Leben unerträglich machen würde. Das also war die erste Zuwanderungswelle, die der „High-End-Briten“, die von ihren Pensionen und Vermögenseinkünften äußerst komfortabel leben können.3
Warum die Dordogne? Ein paar Leute hatten sich auf einer Reise in die grüne Landschaft verliebt, waren an ihr Ideal vom britischen Landleben erinnert und hatten sich von den damals noch niedrigen Preisen für Schlösser und Herrenhäuser zum Kauf verführen lassen. Den Rest besorgte die Mundpropaganda im Bekannten- und Freundeskreis. Die Neuankömmlinge gründeten symbolische Enklaven, häufig in Gestalt von Clubs mit Namen, die schon mit ihrem besonderen Humor so british waren, etwa wenn sich einer die Abkürzung DOGS verpasste (für „Dordogne’s Gentlemen Club“ ) und sich ein anderer DOLS (für „Dordogne Ladies Club International“) nannte. Zwanzig, dreißig Jahre später kamen die neu zugewanderten „Verrückten“ der „Music and Drama Societies“ (MAD) nach, oder die Mitglieder von YES (Your English Society), die 1991 in Périgueux gegründet wurde.
Nicht fehlen durfte natürlich auch der englische Nationalsport Cricket. Mehrere Mannschaften wurden gegründet, deren gemeinsames Clubhaus bis vor kurzem in Saint-Astier en Périgord lag. Voriges Jahr wurde das Gelände an eine Immobiliengesellschaft verkauft, die dort einen gigantischen Supermarkt hinstellen will. Weitere Clubs sind der aquitanische Ableger der „British Conservatives Abroad“, die „Royal Naval Association“ ehemaliger Mitglieder der britischen Kriegsmarine und der „Gentlemen’s Luncheon Club“, der genau so ist, wie er heißt.
Keiner dieser Clubs zählt mehr als hundert Mitglieder, und keiner nimmt ausschließlich Briten auf. So war der Präsident der DOGS bis Juli 2004 ein Franzose namens Alain Letessier. Auch darf man sich unter so einem Club keine Versammlung griesgrämiger Empire-Nostalgiker oder verbitterter Rentner vorstellen. Die Hauptaktivität der DOGS ist gastronomischer Natur. Einmal im Monat vergnügen sich die Gentlemen nach einem Vortrag aus ihren Reihen – der angesichts der Ämter, die sie einst bekleideten, und der Kontakte, die sie weiterhin pflegen, nicht uninteressant sein dürfte – bei einem reichlich begossenen Mahl in einem guten Restaurant oder im privaten Rahmen.
Sie fühlen sich überaus wohl in Frankreich, wettern zwar zuweilen gegen den Kommunismus, sind aber ansonsten voll des Lobes über die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen in Frankreich – Verkehr, Bildung, Gesundheitsversorgung. Von so etwas können ihre bedauernswerten Landsleute, die at home bei Tony Blair geblieben sind, nur träumen. Sie sprechen im Allgemeinen recht gut Französisch und pflegen mit den Einheimischen höfliche Kontakte. Letztere wiederum mögen die kurios exotische Britishness, die aus einem alten Epinaler Bilderbogen zu stammen scheint. Das Verhältnis ist überaus herzlich. Keith Daffern, der seine Autowerkstatt in England 1976 verkaufte und Mitglied der DOGS und der British Conservatives Abroad ist, bekennt ganz offen: „Die Franzosen haben uns viel besser aufgenommen, als wir sie in England aufgenommen hätten.“ Zwar ist es noch nicht so weit, dass feministische Organisationen bei den DOGS das Sagen haben, aber immerhin geht es langsam voran: Zweimal im Jahr sind auch Frauen zu den Zusammenkünften zugelassen.
Ein Clubleben wie anno dazumal in England ist die Sache der späteren Zuwanderer nicht. Die in den Sechziger- und Siebzigerjahren eingetroffenen „Officers and Gentlemen“ – um den Titel eines Romans von Evelyn Waugh zu zitieren – führen in Frankreich oft nur ein Exildasein. Die meisten Neuankömmlinge haben lange in Großbritannien gelebt, bevor sie sich zur Auswanderung entschlossen. Sie sind mehrheitlich Rentner, aber der Anteil der beruflich Aktiven nimmt zu. Für sie alle war die Tatsache wichtig, dass Immobilien jenseits des Ärmelkanals das Drei- bis Vierfache kosten. Der Verkauf eines hübschen, am Stadtrand gelegenen Einfamilienhauses in England bringt genug Bargeld, um in Frankreich ein Landhaus zu erwerben und noch eine ordentliche Summe auf die hohe Kante zu legen.
Diese einfache Rechnung ging vielen Engländern durch den Kopf, wenn sie auf einer Reise in die Aquitaine mit Landsleute sprachen, die bereits dem französischen style of life frönten. Animiert wurden sie auch durch Fernsehberichte, die das Paradies auf Erden nicht unter tropischen Palmen suggerieren, sondern als ein Land, in dem der Wein in Strömen fließt. Überdies veranstalten Billig-Fluggesellschaften wie Ryanair und Fly Be für 20 Euro oder weniger tägliche Flüge zwischen London, Southampton, Bristol – bald auch Birmingham – und Bergerac.4
Langer Rede, kurzer Sinn: Eines schönen Tages ist es so weit, dass dieselben Leute, die sich den Erwerb ihrer englischem Immobilie dreimal überlegen mussten, ihr Hab und Gut verkaufen, um in der Dordogne die nächstbeste Ruine zu erstehen. Rodger Macfarlane Philip, seit 1991 in Eymet ansässig und laut Visitenkarte „Berater anglophoner Ortsansässiger“, kann einiges über die Schwierigkeiten erzählen, in die viele seiner Landsleute aus purem Leichtsinn geraten sind: „Manche wollen hier arbeiten und sprechen kein Wort Französisch. Sie haben 16-, 17-jährige Kinder, und die schließen sich dann ab und zu schon mal gern mit französischen Altersgenossen in Banden zusammen, um gemeinsam auf Sauftour zu gehen.“
Die erste Zuwanderergeneration kann dem Verhalten der Neuankömmlinge, die meist unter sich bleiben und per Satellit englisches Fernsehen empfangen, wenig abgewinnen. Einige der Älteren klagen schon, es gebe „zu viele Engländer in der Dordogne“. Aber längst nicht alle Neuzugezogenen kapseln sich ab. Stephen, 32, lebt seit zwölf Jahren in Frankreich. Der Maurer, Gipser und Maler, der sich auch auf die Bearbeitung von Naturstein versteht, folgte seinem Arbeitgeber, um in Issigeac dessen Haus „aufzupolieren“. Als die Arbeit erledigt war, ließ er sich in der Nähe als selbstständiger Handwerker nieder. An Bauaufträgen mangelt es in der Region nicht, und die britischen Einwohner wenden sich lieber an Handwerker, die ihre Sprache sprechen. Stephen hat eine Eigentumswohnung, ist Mitglied im Radverein von Bergerac und mit einer Französin liiert, die er demnächst heiraten wird.
Ein anderes Beispiel gelungener Integration bietet die Attac-Initiative Bergerac. Sie hat auch britische Mitglieder und Sympathisanten, darunter John, seit 1999 als Arzt im Land, und Barbara, die beide die leidenschaftlichen Diskussionen und die Herzlichkeit unter politisch Gleichgesinnten, die sie in Frankreich kennen gelernt haben, nicht mehr missen möchten.
Die Gemeindevertreter äußern sich im Allgemeinen sehr positiv über die Zuwanderer aus Großbritannien, die verfallende Anwesen mit neuem Leben erfüllen und die Erhaltung der Infrastruktur möglich machen. Guy Simonet, Bürgermeister von Razac d’Eyment, zählt in seiner 300-Seelen-Gemeinde 23 englische Familien, von denen sechs ihren ständigen Wohnsitz hier haben. Im elfköpfigen Gemeinderat sitzt ein Engländer, und unter den Kleinen im Kindergarten befinden sich fünf englische Muttersprachler.
Ähnliches weiß der Bürgermeister der 300-Einwohner-Gemeinde Saint-Félix de Villadeix, Guy Rabier, zu berichten. Im nahe gelegenen Weiler Constant, der bis vor kurzem unbewohnt war, entstand eine Siedlung mit etwa 95 Time-Sharing-Häusern im Stil der Region (das sind Häuser mit mehreren Eigentümern, die je nach ihrem Investitionsanteil Anspruch auf Nutzung des Hauses haben). Dadurch sind sechs ständige und fünfzehn saisonale Arbeitsplätze entstanden, und das Dorfrestaurant, das passenderweise „Jour de Fête“ heißt, kann sich über mangelnde Kundschaft nicht beklagen.
In Eymet mit seinen 2 000 Einwohnern zählt Bürgermeister Jean-Michel Magnac 200 englische Familien. Nicht zuletzt ihnen ist zu verdanken, dass sich innerhalb von zweieinhalb Jahren 21 Geschäfte und Handwerksbetriebe neu etablieren konnten. Dazu zählt auch ein British Shop, der Marmelade, Wurst und Schweinerippchen im Angebot hat, wie man sie nur jenseits des Ärmelkanals findet, und ein Internet-Café – drei Computer mit französischer, zwei mit englischer Tastatur –, das im Juni dieses Jahres aufmachte.
Wie so oft bei verstreut lebenden und vielfältig differenzierten Gemeinschaften ist eine Zeitung das verbindende Element. French News5 heißt das englischsprachige Monatsblatt, das die Nachfolge von The News und The Dordogne Telegraph angetreten hat und über das politische Leben in Frankreich berichtet. Die Zeitung hat eine Auflage von 18 000 Exemplaren, die Hälfte davon wird im Abonnement bezogen. Die Redaktion mit Sitz in Périgueux beschäftigt 16 Mitarbeiter. Das Blatt erscheint landesweit mit Regionalbeilagen, von denen die in der Aquitaine am dicksten ausfällt. Wenn man darin liest, versteht man besser, warum die Zuwanderer aus Großbritannien und die Franzosen, die über den Kanal streben, ganz entgegengesetzte Dinge suchen. Warum die Briten dem entkommen wollen, was vornehmlich junge Franzosen in Großbritannien zu suchen scheinen: eine Ersatzversion des American dream, die mit dem Eurostar zu erreichen ist. Während sich diejenigen, die nach dem good life suchen, in das Land des TGV aufmachen.
deutsch von Bodo Schulze