13.08.2004

Die Schätze von Timbuktu

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Die Schätze von Timbuktu

In ihrer Blütezeit zeichnete sich die alte, sagenumwobene Stadt Timbuktu am Südrand der Sahara nicht nur durch den Wohlstand aus, den die Handelskarawanen brachten, sondern auch durch ihr reges kulturelles Leben. Die unzähligen Handschriften, die dieses goldene Zeitalter dokumentieren, zeigen ein faszinierendes und bislang ungekanntes Bild Afrikas im Mittelalter.

Von JEAN-MICHEL DJIAN *

IN Timbuktu steht ein historisches Erbe auf dem Spiel, das für ganz Afrika von großer Bedeutung ist. Mehr als 15 000 alte Handschriften sind hier unter Schirmherrschaft der Unesco bereits geborgen und katalogisiert worden. Weitere 80 000 hofft man irgendwo in alten Truhen oder Abstellräumen zu finden1 . Doch die kostbaren Manuskripte, die vom Glanz des Nigertals im 13. und 14. Jahrhundert künden, sind bedroht – weil sie zu Staub zerfallen, aber auch, weil immer mehr Werke in die Hände von Schwarzhändlern geraten.

Einige äußerst seltene Manuskripte, von den Gelehrten des alten Königreichs Mali2 in Arabisch und in Fulani (Peul) verfasst, sind bereits in der Schweiz aufgetaucht, wo sie retuschiert und an Sammler verkauft wurden. Ali Ould Sidi, der Leiter der Unesco-Mission in Timbuktu, zeigt sich sehr besorgt: „Wir müssen herausfinden, welche Manuskripte sich noch im Besitz von Einwohnern der Stadt befinden, und die Papiere sichern und restaurieren – sonst droht dieses unschätzbare Erbe Timbuktus in alle Welt verstreut zu werden.“

Timbuktu ist eine Oasenstadt im Nordosten von Mali, am südlichen Rand der gewaltigen Sahara; heute liegt sie abseits des linken Ufers des Niger, der sie einst durchfloss. Timbuktu hat viele Entdeckungsreisende des 19. Jahrhunderts fasziniert. Der erste große Bericht über Timbuktu stammt von Heinrich Barth, einem deutschen Ethnologen, der 1853 für sechs Monate in der Oasenstadt lebte. Die war zu Beginn des 11. Jahrhunderts von den Tuareg gegründet worden und hatte sich seit dem 14. Jahrhundert zum wichtigsten Handelszentrum zwischen dem Sudan3 und Nordafrika entwickelt. Hier war der Umschlagplatz für das Salz aus Taoudenni, das Gold aus den Bergwerken von Buré und die Sklaven aus Ghana, hier trafen persische und arabische Händler auf Reisende4 und auf muslimische Gelehrte, die den Islam verbreiten wollten. Damals war südlich der Sahelzone der Kampf um die Islamisierung der bestehenden Königreiche noch nicht entschieden. Das Reich Songhai – das Ende des 14. Jahrhunderts die Nachfolge des alten Königreichs Mali antrat – ging zum Islam über, das Reich der Mossi dagegen (auf dem Gebiet des heutigen Burkina Faso) verweigerte sich. So war die Vielzahl der Schriften in Timbuktu auch Ausdruck der fortschreitenden Bemühungen um die Ausbreitung des Islam.

Die drei großen Städte in der Region – Timbuktu, Gao und Djenné – wurden zu Zentren einer blühenden islamisch-sudanesischen Kultur. Im 15. Jahrhundert zählte Timbuktu etwa 100 000 Einwohner (heute sind es 30 000), darunter 25 000 Koranschüler der Universität Sankoré, die noch in Gestalt einer Moschee erhalten ist. Die Debatten der Korangelehrten wurden von Schreibern protokolliert – auf Baumrinde, auf den Schulterknochen von Kamelen, auf Schafsleder und auf Papier, das aus dem Osten und später aus Italien kam. Im Laufe der Jahrhunderte entstand auf diese Weise ein einzigartiges Archiv des philosophischen, rechtlichen und religiösen Denkens.

Außerdem wurde das praktische Wissen der Zeit umfassend und in allen Einzelheiten aufgezeichnet: die Bahnen der Planeten, das richtige Stimmen eines Musikinstruments, die Handelsrouten für die unterschiedlichen Waren wie Stoffe und Kolanüsse – all dies ist in den Handschriften der Nomaden niedergelegt. Auf der alten Karawanenstraße, die von Agadez im Niger über Sokoto im Norden Nigerias bis nach Tichit in Mauretanien führte, wurden nicht nur Säcke mit Tabak und Fässer mit Salz transportiert, sondern auch viele nützliche Informationen. Fast drei Jahrhunderte lang funktionierte diese Börse der Güter und des Wissens.

Der unvergleichliche Schatz dieser Handschriften hat auch die Behauptung widerlegt, dass Afrika der Kontinent der mündlichen Tradition sei.5 Heute liegt die Verantwortung für diesen bedeutenden Teil des afrikanischen Geschichts- und Kulturerbes beim Dokumentations- und Forschungszentrum Ahmed Bab (Cedrab), einer 1970 auf Initiative der Unesco geschaffenen Einrichtung. Dass die Institution nach Ahmed Bab benannt wurde, einem 1556 geborenen Korangelehrten, dessen Rechtsgutachten (fatwa) weit über seine Zeit hinaus Geltung behielten, war in Mali auch ein politisches Signal: Der Gelehrte hatte sich gegen die marokkanischen Eroberer unter Sultan al-Mansur engagiert, die Timbuktu 1591 in ihre Gewalt gebracht hatten.6

Auftrag des Cedrab ist die Erhaltung, Katalogisierung und Restaurierung der Handschriften. Als problematisch erweist sich dabei vor allem das Trägermaterial: Papier kann verschimmeln und verbrennen, es wird trocken und brüchig, es zerfällt zu Staub und ist ein Leckerbissen für Termiten. Malis Kulturminister Scheich Omar Sissoko schlägt folgende Strategie vor: „Wir können zurzeit nicht alle Handschriften retten, darum versuchen wir private Stiftungen zu schaffen, die wenigstens die Bestände in Familienbesitz sichern. So werden die Bürger der Stadt in die Rettung dieser Schätze einbezogen.“

Das Gold aus Sudan, mit dem die andalusischen Muslime ihren Kampf gegen die christliche Rückeroberung Spaniens finanzierten, wurde vor allem von Juden beschafft. Timbuktu war Im 14. Jahrhundert mit Hafenstädten in Nordafrika verbunden, in denen viele Juden lebten. Auf diese Weise erfuhr Abraham Cresques (1325–1387), einer der ersten Kartografen, von der Existenz Timbuktus. Auch Leo Africanus erwähnt Mitte des 15. Jahrhunderts in seinem Lebensbericht, dass Juden im Königreich Gao ansässig waren.7

Ismael Diadé Haidara ist ein Nachkomme der Herrscherfamilie der Kati. Er kann bis ins kleinste Detail die Entstehungsgeschichte der Kati-Stiftung referieren, die in Timbuktu nahe der Jingereber-Moschee in einem restaurierten Palast residiert: „Unsere Stiftung geht zurück auf einen meiner Vorfahren, Ali B. Ziyad al-Kuti, einen zum Islam übergetretenen Westgoten, der 1468 Toledo verließ und nach Gambu, ins Stammesgebiet der Soninké übersiedelte. Seit dieser Zeit wurde die Familienbibliothek über Generationen hinweg zusammengehalten und erweitert. 1999 beschlossen wir dann, die Bestände öffentlich zugänglich zu machen.“ Die Bibliothek ist ein Kompendium des mittelalterlichen Wissens: Hier finden sich Abhandlungen über das gute Regieren oder die Schädlichkeit des Tabakgenusses ebenso wie Arzneimittelverzeichnisse, Werke der Rechts- und Religionswissenschaft, Grammatiken und mathematische Schriften – mit Kommentaren von Gelehrten aus Cordoba, Bagdad und Djenné. In vergitterten Regalen aufbewahrte Gerichtsakten, die zudem gegen den Wüstenstaub geschützt sind, bieten Einblick in das Leben der Juden und Christen in Timbuktu wie auch in die vielfältigen Wirtschaftsaktivitäten in der Blütezeit der Stadt.

Alle diese Schriften sind annotiert, mit Unterstreichungen und Erläuterungen am Rand oder auf der letzten Seite eines Buches oder dem Ende einer Papyrusrolle, wo der Kopist seinen Namen und das Datum vermerkte. Diese Anmerkungen beziehen sich auf Ereignisse – von Erdbeben bis zu lokalen Streitigkeiten –, die den Schreiber bei seiner Arbeit störten. Die meisten Schriften wurden in Arabisch verfasst, doch die sprachliche Fassung hing vom jeweiligen Kopisten ab – je nachdem, zu welchem Stamm der Region er gehörte. Die Schreibschrift war eine besondere Variante, die dem Maghribi ähnelte: eine Art Kursivarabisch, das auch den Vorteil bot, nicht so viel Platz auf dem teuren Papier zu brauchen.

In den Ländern südlich der Sahara begreift man inzwischen, dass die Entdeckung dieser Schriften auch der Beleg für eine kulturelle Tradition ist, die man ihnen lange Zeit abgesprochen hatte. Und sie geben dem senegalesischen Historiker Scheich Anta Diop Recht, der stets von einem breit entfalteten Geistesleben im präkolonialen Afrika ausging. Überdies zeigen die Dokumente, dass der Islam durch die Förderung einer stammesübergreifenden Entwicklung der Handelsbeziehungen den kulturellen Aufschwung in der Region angestoßen hat und dass die Korangelehrten auf breiter Basis die Bildung förderten. Ergebnis dieser Entwicklung war eine kulturelle Tradition, die aus den sehr unterschiedlich ausgeprägten mythischen Überlieferungen der Region schöpfte, aber bis zum Eindringen der portugiesischen Kolonialmacht im 15. Jahrhundert bereits eine gewisse Eigenständigkeit erlangt hatte.

Scheich Dan Fodio (1754–1817) betonte in seinen Lebenserinnerungen die Einflüsse früherer Gelehrter und vor allem die Rolle von Ahmed Baba und verwies darauf, dass bis zur Ankunft der Europäer „im afrikanischen Denken die Vorliebe für einen Islam kultiviert wurde, der sich vor allem durch seine Weltoffenheit sehr deutlich von den Doktrinen in der arabisch-muslimischen Welt unterschied“.8

4,5 Millionen Euro würden ausreichen, um die Manuskripte von Timbuktu für die Nachwelt zu erhalten.

deutsch von Edgar Peinelt

* Journalist, Autor, u. a. von „La Politique culturelle, la fin d’un mythe“, Paris (Gallimard) 2004.

Fußnoten: 1 Auch in Mauretanien, Niger und Senegal wurden solche Handschriften entdeckt. Siehe Mohamed Said Ould Hamody, „Manuscrits africains anciens“, Scheich Anta Diop Universität, Dakar, www.ebad.ucad.sn. 2 In seiner Glanzzeit, im 14. Jahrhundert, reichte das Königreich Mali bis zur Atlantikküste des heutigen Senegal. 3 Im Mittelalter erstreckte sich der Sudan vom heutigen sudanesischen Staatsgebiet bis zum Niger-Flusstal. 4 Siehe Ibn Battuta, „Reisen ans Ende der Welt“, München (Heyne) 2001. 5 Siehe dazu Hamadou Hampâté Bâ, „L’étrange destin de Wangrin“, Paris (10/18) 1973. 6 1591 unterwarfen die marokkanischen Eroberer das Königreich Songhai. 7 Leo Africanus, „The history and description of Africa and of the notable things therein contained“, New York 1896; siehe auch Jacob Oliel, „Les Juifs du Mali“, Internet: www.sefarad.org/publication. 8 Seyni Moumouni, „La vie et l’oeuvre de Ousman Dan Fodio“, Doktorarbeit an der Universität Michel de Montaigne (Bordeaux), 8. Januar 2003.

Le Monde diplomatique vom 13.08.2004, von JEAN-MICHEL DJIAN