Lob der Eloquenz oder Vom Glück der richtigen Worte
Im Westen debattiert man gerne, ob es notwendig und möglich sei, den Islam zu modernisieren. Ist ein Hocharabisch, das aus der Zeit der Niederschrift des Korans stammt, noch zeitgemäß? Muss man es nicht reformieren? Oder wäre es nicht gar an der Zeit, das Hocharabische durch das umgangssprachliche Arabisch abzulösen? Der in Jerusalem als arabischer Christ geborene Edward Said, der bis zu seinem Tod im September 2003 in Amerika als Literaturwissenschaftler lehrte, beschreibt, wie lebendig das Hocharabische im Alltag der arabischen Länder ist. Man ist, so sein Fazit, immer auf der Suche nach dem Glück des richtigen Worts.
Von EDWARD SAID *
DAS Wort Eloquenz ist heute kaum noch in Gebrauch. Ich meine „Eloquenz“ in dem Sinne, den es früher hatte – im Sinne einer außergewöhnlichen sprachlichen Fülle (in geschriebener und mehr noch in gesprochener Form), im Sinne einer Wortgewandtheit, die sich zwar einer angeborenen Fähigkeit verdankt, doch entwickelt und geschult werden muss, damit die besondere Eloquenz der entsprechenden Person zum Vorschein kommen kann. Denn eine funkelnde Sprache ist ebenso auffällig wie ein gutes Gedächtnis. Frances Yates ist in ihrer unvergesslichen Studie über die Kunst des Erinnerns („The Art of Memory“, 1966) dem Zusammenhang zwischen diesen beiden Fähigkeiten nachgegangen und beklagt, dass diese sich weitgehend verloren haben oder zumindest nicht mehr gezielt gelehrt werden. Ich selbst habe mich oft gefragt, ob es bei mir eine Art impliziter Verbindung gibt zwischen meiner Faszination für sprachliche Eloquenz und meiner Wertschätzung für Giambattista Vico – denn der italienische Philosoph des 18. Jahrhunderts, der für mich eine so wichtige Figur war, hatte sich als Professor für Rhetorik an der Universität Neapel auf das Thema Eloquenz spezialisiert.
Zweifellos gehört zur Eloquenz das virtuose Spiel mit der Sprache, doch die meisten klassischen Rhetoriker – wie auch Vico selbst – haben warnend darauf hingewiesen, dass pompöse und frivole Wortgewalt allzu leicht zum Selbstzweck wird. Die Zuhörer mit verbaler Eleganz oder gar mit perfekter rhetorischer Technik zu beeindrucken ist nicht dasselbe wie wirkliche Eloquenz. Letztere war für Vico von der Dimension der Klugheit gar nicht zu trennen: Für ihn war Eloquenz „sprechende Klugheit“. Mit seiner Lehrtätigkeit wollte er seinen Schülern eine geistige Richtung weisen, die auf universales Denken zielte. Andere Universitätslehrer mochten sich mit den verschiedenen Bereichen des Wissens befassen, er dagegen sah es als seine Aufgabe, das Wissen als ein integrales Ganzes zu lehren, bei dem jeder Teil mit allen anderen Teilen im Einklang steht und seine Bedeutung aus dem Ganzen bezieht.
Diese höchst organische Auffassung von Eloquenz nimmt bereits das Interesse der Romantiker an der poetischen Form vorweg – die Fragen also, die Coleridge in einem Großteil seiner Schriften über die Rolle der Phantasie behandelt, aber auch ähnliche Gedanken deutscher Zeitgenossen wie Friedrich und August Wilhelm Schlegel. Vicos Interesse war jedoch auf merkwürdige Weise antiquarisch und modern zugleich. Das lag wohl daran, dass er bei all seinen Studenten eine lebendige Kenntnis einer älteren, nichtdemotischen Sprache – des Lateinischen – voraussetzen konnte. Denn einer der Gründe, warum wir die heute scheinbar altmodische Fähigkeit der Eloquenz gar nicht mehr würdigen können, ist die Tatsache, dass Latein nicht mehr gelehrt wird bzw. nicht mehr als Voraussetzung einer abgerundeten universitären Ausbildung gilt. Das erklärt wahrscheinlich, warum heutzutage „Kommunikation“ so hoch im Kurs steht – mitsamt den Techniken des unmittelbaren Überzeugens und den Fähigkeiten, Ideen „zu verkaufen“, und es erklärt wohl auch, warum heutzutage in den USA Rednerfiguren aus den Südstaaten (wie Billy Graham oder Barbara Jordan) so leicht gestelzt und schwülstig wirken und als überdreht und überholt angesehen werden: Offenbar gibt es für ihre rhetorischen Auftritte kein angemessenes Umfeld oder kein Publikum mehr. Erst der Widerschein eines zeitlich entrückten Modells, das sich ohne einen gewissen Grad an Aufmerksamkeit und genauer Regelkunde nur schwer erschließt, bringt die doch sehr blumigen und kunstvollen sprachlichen Auftritte, die Vico und seine Zeitgenossen als eloquent erachteten, zum Leuchten.
Die moderne Analogie hierzu ist der Gebrauch von Wort und Schrift im Arabischen. In den USA gilt das Arabische ja leider als umstrittene und gefürchtete Sprache, und zwar aus rein ideologischen Gründen, die nichts damit zu tun haben, wie die Sprache von den Menschen, deren Muttersprache sie ist, gelebt, verwendet und wahrgenommen wird. Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist, dass das Arabische heute mit scheußlicher und unfassbarer Gewalt assoziiert wird. Die turbantragenden Schurken, die in den Hollywoodfilmen der 1940er- und 1950er-Jahre mit sadistischer Lust ihre Opfer peinigten, dürften ebenso dazu beigetragen haben wie die Fixierung auf den Terrorismus, der in den US-Medien alle anderen Informationen über die arabische Welt völlig an den Rand gedrängt hat.
Jeder moderne gebildete Araber, egal aus welchem arabischen Land, hat ein Verhältnis zur Eloquenz, das tatsächlich der Vorstellungswelt eines Vico verwandter ist als der eines heutigen Engländers. Rhetorik und Eloquenz haben in der arabischen Literatur eine tausendjährige Tradition. Sie reicht bis zu Gelehrten wie Al-Dschahiz und Al-Dschurdschani zurück, deren komplexe Anleitungen zu Rhetorik, Eloquenz und Rededuktus uns heute überraschend modern erscheinen, obwohl sie zur Zeit der Abbasidendynastie1 entstanden sind. Doch all ihre Arbeiten basierten nicht auf dem umgangssprachlichen Arabisch, sondern auf dem klassischen Hocharabisch, und das steht eindeutig im Zeichen des Koran, der sowohl Ursprung als auch Modell für alle darauf folgenden sprachlichen Formen ist. Dieser Hintergrund bedarf einer genaueren Erläuterung, denn er ist Menschen, die sich innerhalb einer europäischen Sprache bewegen, kaum vertraut, zumal sich in diesen Sprachen das gesprochene und geschriebene Idiom weitgehend entsprechen und die Religion längst ihre sprachbildende Kraft verloren hat.
Die einzelnen Umgangssprachen der Araber unterscheiden sich, teils erheblich, je nach Region oder Land. Ganz anders ist es bei der Schriftsprache – doch dazu später. In meiner Familie sprach man ein Amalgam der Dialekte aus Palästina, dem Libanon und Syrien, die sich zwar unterscheiden (weshalb der Kenner hört, ob sein Gesprächspartner aus Beirut oder aus Jerusalem kommt), aber so ähnlich sind, dass man sich leicht und direkt verständigen kann. Aber weil ich in Kairo zur Schule ging und dort auch einen Großteil meiner frühen Jugend verbrachte, sprach ich ägyptisches Arabisch – eine schnellere, knappere und elegantere Umgangssprache als die mir bis dahin bekannten Dialekte meiner Eltern und Verwandten. Das ägyptische Arabisch war damals weit über den eigenen Sprachraum hinaus bekannt, weil fast alle arabischen Filme, Hörspiele und – später – Fernsehserien in Ägypten produziert wurden und deshalb alle Araber es verstanden und lernten. Ich erinnere mich noch genau, dass auch in Palästina und im Libanon damals junge Leute meiner Altersgruppe die Lieder der ägyptischen Komiker sangen und sogar deren Sprüche ziemlich gut nachahmen konnten.
Der Einfluss des ägyptischen Arabisch hatte auch politische Gründe. Gamal Abdel Nasser vor allem sprach bei Massenveranstaltungen zwar im ägyptischen Dialekt, doch er flocht immer ein paar bombastische Sätze in der Hochsprache (fusha) dazwischen. In der Folge des Ölbooms entstanden zwischen 1970 und 1990 auch in anderen Ländern Fernsehserien. Sie waren in klassischem Hocharabisch abgefasst und kamen nicht besonders gut an, weil es sich zum einen um opulente Kostümdramen handelte, die sich am dezidiert muslimischen (und dem altmodischen, eher puritanischen christlichen) Geschmack eines anspruchsvolleren arabischen und von den deutlich derberen Filmen aus Kairo womöglich abgestoßenen Publikums orientierten. Darüber hinaus sollten diese Filme „erhebend“ sein, was sie in meinen Augen hoffnungslos unattraktiv machte.
Selbst für eingefleischte Zapper ist es noch heute weitaus unterhaltsamer, sich eine schlecht gemachte ägyptische Seifenoper anzusehen als das beste Drama in Hocharabisch. Aber nur der ägyptische Dialekt wird überall verstanden. Zum Beispiel hätte ich größte Mühe, einen Algerier zu verstehen, weil die Umgangssprache der westlichen Mittelmeerregionen sich stark und in vielerlei Hinsicht von der im östlichen Mittelmeerraum unterscheidet. Und genauso würde es mir auch mit einem irakischen oder selbst einem Dialekt der Golfregion gehen.
Paradoxerweise dominiert in allen arabischen Nachrichtensendungen, Diskussionsprogrammen und Dokumentarfilmen eine modifizierte und modernisierte Version des klassischen Hocharabisch, anders gesagt eine Art Standardarabisch, das in der gesamten arabischen Welt vom Persischen Golf bis Marokko verstanden wird. Dieses wird auch bei öffentlichen Reden sowie in der Moschee verwandt.
Grund dafür ist, dass das klassische Hocharabisch – ähnlich dem Lateinischen bis vor etwa hundert Jahren – sich als gemeinsame Schriftsprache erhalten hatte. Und zwar trotz eines lebendigen und ständig abrufbaren Reservoirs gesprochener Dialekte, die sich aber (abgesehen vom ägyptischen Arabisch) kaum je über ihren lokalen Rahmen hinaus verbreitet haben. Hinzu kommt, dass diese gesprochenen Dialekte – im Gegensatz zur Lingua franca des klassischen Hocharabisch – über keinen großen schriftlichen Literaturschatz verfügen, obwohl es in jedem dieser Länder eine reiche Tradition mündlicher Dichtkunst gibt, die sich großer Beliebtheit erfreut und oft und gern vorgetragen wird.
So kommt es, dass selbst Autoren, die man der regionalen Literatur zurechnet, in der Regel noch heute ein modernes Hocharabisch benutzen und nur gelegentlich (etwa in kurzen Dialogen ihrer Figuren) auf die Umgangssprache rekurrieren. Ein gebildeter Mensch hat folglich zwei durchaus distinkte muttersprachliche Persönlichkeiten, sodass es ohne weiteres vorkommen kann, dass man mit einem Zeitungs- oder Fernsehjournalisten im lokalen Idiom plaudert und praktisch übergangslos, sobald das Aufnahmegerät läuft, auf die geschliffenere Form des modernen Hocharabisch umschaltet, das automatisch formeller und höflicher klingt.
Zwischen beiden Idiomen gibt es natürlich durchaus Verbindungen: Sowohl die Buchstaben als auch die Wortstellung sind gleich oder wenigstens sehr ähnlich. Aber die Wörter und ihre Aussprache unterscheiden sich erheblich, denn das Hocharabische hat – als standardisierte Sprache – die Spuren der regionalen oder lokalen Dialekte abgestreift und präsentiert sich als ein klangvolles, sorgfältig austariertes und außerordentlich flexibles Instrument, das zu großer und oft (aber nicht immer) formelhafter Eloquenz fähig ist. Mit diesem Hocharabisch kann man, wenn man es beherrscht, eine unglaubliche Genauigkeit des Ausdrucks erzielen, wobei einzelne Buchstaben innerhalb eines Wortes (und speziell bei den Endungen) vielfältigst variiert werden können, um ganz bestimmte und unterschiedliche Dinge auszusagen.
Der König, der Minister und Al-Jazira
DABEI dürfen wir nicht vergessen, dass diese Sprache die gesamte arabische Kultur zutiefst geprägt hat. Jaroslav Stetkevych, Autor des besten modernen Buches über die arabische Sprache2 , drückt diesen Sachverhalt so aus: „Wie Venus wurde diese Sprache in einem Zustand perfekter Schönheit geboren, und sie hat sich diese Schönheit trotz aller historischen Gefährdungen und zersetzenden Einflüsse der Zeit erhalten.“ Dem westlichen Studenten der arabischen Sprache vermittle sich „die Vorstellung nahezu mathematischer Abstraktion“, voller Klarheit, Logik, System: „Die Sprache ist wie eine mathematische Formel.“ Hinzuzufügen wäre, dass sie in ihrer geschriebenen Form auch schön anzuschauen ist, was auch die nach wie vor zentrale Bedeutung der Kalligraphie für die arabische Sprache erklärt.
Trotz der herausragenden Bedeutung des Hocharabischen habe ich nur eine einzige Person getroffen, die sich ausschließlich in der arabischen Hochsprache bewegte: ein palästinensischer Politiker und Politikwissenschaftler, den meine Kinder immer beschrieben haben als „der Mann, der wie ein Buch spricht“ oder „der Mann, der wie Shakespeare klingt“ – für Araber, die nicht gut Englisch können, gilt Shakespeare als Gipfel der englischen Hochsprache, was, wie man weiß, in Wirklichkeit nicht zutrifft, denn in Shakespeares Dramen gab es auch die Alltagssprache der Gaukler, Bauern, Schiffsleute und Possenreißer. Wenn der besagte Politiker mitunter von Freunden spöttisch gefragt wurde, ob er auch beim Liebesakt Hocharabisch rede, antwortete er für gewöhnlich mit einem geheimnisvollen Lächeln. Irgendwie gibt es eine unausgesprochene Übereinkunft darüber, welche Version des Arabischen man bei welchem Anlass zu benutzen hat.
In den ersten Tagen des Krieges gegen die Taliban in Afghanistan sah ich in dem umstrittenen arabischsprachigen Satellitensender Al-Jazira Nachrichten- und Diskussionssendungen, die man in den US-Medien nicht geboten bekam. Bei diesen Sendungen fiel mir – jenseits der inhaltlichen Aussagen – vor allem auf, wie außerordentlich eloquent sich alle Beteiligten – sogar die widerwärtigsten Protagonisten – artikulierten. Das galt auch für Osama bin Laden selbst, der sanft und flüssig spricht, und dabei weder ins Stocken kommt noch den geringfügigsten sprachlichen Fehler macht, was mit Sicherheit einen Teil seines offensichtlichen Erfolges erklärt. Dasselbe trifft auch – auf nicht ganz so hohem Niveau – für nichtarabische Politiker zu, zum Beispiel auf die Afghanen Burhaneddine Rabbani und Gulbuddin Hekmatyar, die keine der arabischen Alltagssprachen gelernt haben, sich jedoch bemerkenswert flüssig im klassischen (auf dem Koran basierenden) Idiom auszudrücken vermögen. Damit will ich nicht behaupten, dass das so genannte moderne Standardarabisch (d. h. das moderne Hocharabisch) dieselbe Sprache ist wie die des Korans vor 1 400 Jahren. Dem ist nicht so. Denn obwohl der Koran noch immer viel studiert wird, hat er eine altertümliche, ja sogar gestelzte Sprache, die im Alltagsleben nicht anwendbar ist. Im Vergleich mit der modernen Prosa hat er einen hohen poetischen Ton.
Das moderne Hocharabisch ist vor allem das Resultat einer faszinierenden sprachlichen Modernisierung, die in den späten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts einsetzte, also in der Epoche der Nahda (der arabischen Renaissance). Vorangetrieben hat diese Modernisierung im Wesentlichen eine Gruppe (vorwiegend christlicher) Intellektueller aus Syrien, Libanon, Palästina und Ägypten, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die arabische Sprache in der modernen Welt zu etablieren, indem sie ihren Satzbau veränderten und etwas vereinfachten – und indem sie die aus dem 7. Jahrhundert stammende Sprache durch moderne Wörter wie „Eisenbahn“, „Firma“, „Demokratie“ oder „Sozialismus“ ergänzten. Man sollte erwähnen, dass sie durch den technischen Prozess der Analogiebildung (al-qiyas) die immensen Reserven dieser Sprache erschließen konnten, und zwar ohne das System in irgendeiner Weise anzutasten. Damit zwangen diese Intellektuellen dem klassischen Arabisch des Koran sozusagen ein neues Vokabular auf, das heute rund 60 Prozent der modernen Hochsprache ausmacht.
Die Nahda befreite die Sprache von den religiösen Texten und säkularisierte so unter der Hand die Sprache in Wort und Schrift. Wenn heute Klugschwätzer wie Thomas Friedman von der New York Times oder müde Orientalisten wie Bernard Lewis mantraartig fordern, der Islam – und die Araber – benötigten dringend eine Reformation, so haben solche Klagen mit der Realität rein gar nichts zu tun. Diese so genannten Experten haben nur eine oberflächliche und unzureichende Kenntnis der Sprache und wissen so gut wie nichts über den aktuellen Gebrauch des Arabischen in diesen Ländern, denn tatsächlich sind die Spuren der „Reformation“ in all diesen Ländern gegenwärtig.
Sogar einige Araber, die der arabischen Welt aus verschiedenen Gründen relativ früh den Rücken gekehrt haben und jetzt im Westen arbeiten, verbreiten mitunter solchen Unsinn, auch wenn sie gleichzeitig zugeben, dass sie keine ernsthaften Kenntnisse des Hocharabischen haben. Ein Beispiel ist Leila Ahmed, eine Ägypterin aus bildungsbürgerlichem Elternhaus, die in Cambridge in englischer Literatur promoviert hat und vor gut zehn Jahren ein interessantes Buch über das Geschlechterverhältnis im Islam verfasst hat.3 Zu meinem großen Erstaunen profiliert sich diese Frau neuerdings mit einer Kampagne gegen das Hocharabische und seltsamerweise auch in der Rolle einer Professorin für Religionswissenschaft (bzw. Islamwissenschaft) in Harvard.4
Weil sie nicht mehr in einer arabischen Umgebung lebt und ihr deshalb jede Alltagserfahrung mit der Sprache abgeht, ist ihr offensichtlich gar nicht klar, dass gebildete Araber tatsächlich beides sprechen, das demotische Arabisch wie das Hocharabische, und dass diese verbreitete Gewohnheit weder eine natürliche und harmonische Ausdrucksweise behindert, noch automatisch zu einer gestelzten und didaktischen Sprechweise führt, wie Leila Ahmed anzunehmen scheint. Denn die eine Sprache ist zur anderen hin durchlässig, und für das „Leben in der arabischen Sprache“ ist es nachgerade entscheidend, dass man ständig zwischen beiden Sprachen hin und her wandert.
Ich selbst habe bis zum Alter von 15 Jahren ausschließlich in arabischen Ländern gelebt, wiewohl ich nur englischsprachige Kolonialschulen besuchte, die entweder von einer christlichen Missionsgesellschaft oder vom (weltlichen) British Council betrieben wurden. Natürlich wurde an diesen Schulen auch klassisches Arabisch unterrichtet, aber diese Sprache blieb – ähnlich wie Latein für die Europäer – eine tote Sprache und damit eine lästige Pflicht (also genau das, was Leila Ahmed darunter versteht). Auf dem Schoß meiner Mutter lernte ich beides, Arabisch und Englisch, und zwar gleichzeitig, weshalb ich stets von einer in die andere Sprache wechseln konnte. Aber meine Kenntnisse des Standardarabisch blieben bald weit hinter meinem Englisch zurück, für das ich in der Schule weit mehr Aufmerksamkeit und Zeit aufwandte. Außerdem verband ich in meinen ersten Schuljahren das Standardarabisch zunehmend mit – durch elterliche wie institutionelle Gewalt – aufgezwungenen Machtverhältnissen, die ich fast wie ein Gefängnis empfand. Da musste ich etwa in der Kirche sitzen und mich an endlosen Gebeten und Psalmen erbauen oder in Veranstaltungen irgendwelche Reden über mich ergehen lassen, in denen ein König oder ein Minister oder ein Arzt oder die Tugenden irgendeines Studenten gepriesen wurden. Als Form des Widerstands gegen derartige Sermone schaltete ich zumeist ab und versetzte mich in einen Zustand stummer Wahrnehmungsverweigerung. Tatsächlich konnte ich jedoch ganze Passagen aus dem Gebetbuch (einschließlich des Vaterunsers) und ähnliche liturgische Texte auswendig heruntersagen, und das gilt auch für einige unerträglich sentimentale und meist patriotische Oden der klassischen arabischen Dichtung. Erst Jahre später wurde mir klar, dass das ganze Projekt an dieser Atmosphäre routinemäßigen Lernens scheitern musste, wozu die hoffnungslos uninspirierten und autoritären Lehrer und Priester ebenso beitrugen wie das aufgezwungene „Es ist ja nur gut für dich“, gegen das ich fortwährend rebellierte.
Die arabische Grammatik ist so subtil und ich glaube auch intellektuell so anspruchsvoll, dass man sie erst in den letzten Schuljahren studieren sollte, wenn man die Feinheiten ihrer inneren Logik zu würdigen vermag. Ich selbst habe es jedoch nie ganz zu der Fähigkeit gebracht, die ich oben geschildert habe: von einer Sprachform in die andere zu wechseln, von der Umgangs- in die Hochsprache, oder – linguistisch gesprochen – vom informellen ins formelle Idiom. Gegen die Instanzen repressiver Autorität, die mich als Kind und Jugendlicher bedrängt hatten, lehnte ich mich so entschieden auf, dass ich kompromisslos an der Sprache der Straße festhielt. Das gediegene Hocharabisch benutzte ich nur, wenn ich mich über irgendetwas lustig machen, den drögen Redeschwulst der Politiker imitieren oder gegen Kirche, Staat und Schule wettern wollte.
Die Wende kam 1967. Damals lebte ich bereits seit 1951 in den USA – unterbrochen von häufigen Besuchen in Kairo und im Libanon – und hatte 16 Jahre lang ausschließlich europäische Sprachen und Literaturen studiert. Der arabisch-israelische Krieg von 1967 nötigte mich selbst aus der Ferne unfreiwillig in ein politisches Engagement. Dabei fiel mir als Erstes auf, dass in der Politik nicht die Umgangssprache dominierte (ammiya, was wörtlich „Sprache der allgemeinen Öffentlichkeit“ heißt), sondern eher das Hocharabisch (fusha). Ich erinnerte mich an die Vorbehalte aus meiner Kindheit gegenüber der Hochsprache und erkannte schnell, dass die politischen Analysen, die auf Kundgebungen oder Konferenzen vorgetragen wurden, weitaus tiefschürfender klangen, als sie waren. Anders formuliert: dass das, was einem in diesem übertrieben pedantischen formellen oder halbformellen Reden mitgeteilt wurde, mehr formale als inhaltliche Eloquenz hatte. Dies galt vor allem, wie ich mit Enttäuschung vermerkte, für den unscharfen Jargon der Marxisten und Befreiungsbewegungen, die damals in Mode waren; die Reden, in denen es um materielle Interessen, Klassenkämpfe, Kapitalverhältnisse und soziale Unterschiede ging, wirkten arabisiert und in lange Monologe gepackt, doch sie richteten sich nicht etwa an das Volk, sondern an die akademisch gebildeten Mitkämpfer. Damals fiel mir auf, dass sich populäre Figuren wie Arafat und Nasser im privaten Gespräch der Umgangssprache weit effektiver bedienten als die Marxisten (die gebildeter waren als der palästinensische oder der ägyptische Führer). Tatsächlich hielt Nasser seine Reden auf Massenkundgebungen im ägyptischen Dialekt und flocht allenfalls ein paar schwülstige Phrasen in Hocharabisch ein. Arafat dagegen erwies sich in seinen seltenen öffentlichen Ansprachen als ein eher bescheidener Redner, er geriet immer wieder ins Stocken, versprach sich oder verstieg sich in peinlichen Abschweifungen. Nach einigen Jahren wurde mir klar, dass ich mich erneut mit arabischer Philologie und Grammatik beschäftigen musste. Dabei hatte ich das Glück, in Anis Frayha einen wunderbaren Tutor zu finden. Der emeritierte Professor für semitische Sprachen an der American University von Beirut – ein alter Freund meines Vaters, der glücklicherweise auch ein Frühaufsteher war wie ich – nahm mich fast ein Jahr lang jeden Morgen von sieben bis zehn Uhr auf seine Erkundungsgänge durch die Sprache mit – ganz ohne Lehrbuch, aber dafür mit hunderten von Textstellen aus dem Koran, aus den Werken klassischer Autoren wie Al-Ghazali, Ibn Chaldun und Al-Mas’udi, aber auch moderner Autoren von Ahmed Shaki bis Nagib Machfus. Anis Frayha war ein ungeheuer motivierender Lehrer, unter dessen Anleitung sich mir die Logik der arabischen Sprache erschloss. Meinen akademischen Interessen und meiner philologischen Ausbildung in der westlichen Disziplin der vergleichenden Literaturwissenschaft kam das sehr entgegen, zumal ich damals Seminare über Sprachphilosophie im 18. und 19. Jahrhundert abhielt und mich mit Autoren wie Vico, Rousseau, Herder, Wordsworth und Coleridge, Wilhelm v. Humboldt, Renan, Nietzsche, Freud und Saussure beschäftigte. Damals machte mich Frayha mit arabischen Grammatikspezialisten und Sprachtheoretikern bekannt, die ich dann später in meine eigenen Lehrveranstaltungen und Schriften einbaute: so mit Al-Khalil ibn Ahmad, Sebawayh und Ibn Hazm, deren Schriften bis zu 700 Jahre älter waren als die der erwähnten europäischen Autoren.
Unter der Aufklärung und Anleitung von Frayha wurden diese Wanderungen zwischen dem umgangssprachlichen und dem Hocharabisch für mich zu einer faszinierenden Erfahrung, zumal sich dabei auch noch ein Vergleich mit Vokabular und Grammatik der englischen und der französischen Sprache anbot. Diese Faszination hatte vor allem zwei Gründe. Zum einen kann man, da das Arabische eine überaus exakte Sprache ist, die neun gebräuchlichsten formalen Ableitungen eines Verbs (die den Kern der Sprache ausmachen) von einer gemeinsamen, aus drei Konsonanten bestehenden Wurzel ableiten. Damit erschließen sich syntaktisch – die meisten arabischen Sätze beginnen mit dem Verb – bereits die gebräuchlichsten Formen, unter denen der Sprecher bzw. Schreiber auszuwählen hat, obwohl das mit der Zeit ein automatischer Vorgang wird.
Und zweitens verfügt das Arabische über einen faszinierend reichen Wortschatz, sodass man nach einer schwindelerregend logischen Methode vollständige, fast endlose Wortketten bilden kann, die mit einer nahezu vollkommenen Regelmäßigkeit aus einer Wurzel oder aus der Wurzel einer Wurzel abgeleitet werden. Natürlich hat es im Lauf der Zeit gewisse Bedeutungsverschiebungen gegeben, doch im modernen Hocharabisch stellen archaische Ausdrücke und moderner Slang kein Problem in dem Sinne dar, wie es etwa im modernen Englisch oder Französisch der Fall ist.
Das Hocharabische mit seinen Regeln, seinen Flexionen, seinen syntaktischen Formen und seinem überwältigenden sprachlichen Reichtum existiert offenbar in permanenter Gleichzeitigkeit mit der Umgangssprache fort. Dazu ein Beispiel: Wenn man in einem normalen Alltagsgespräch auf ein ernsteres oder komplexeres Thema kommt, verfällt man zeitweilig in die Hochsprache, um bei der nächsten Bemerkung privater Natur („Reich mir den Zucker“ oder „Ich muss jetzt gehen“) gleich wieder zur demotischen Sprache zurückzukehren. Bei einer öffentlichen Veranstaltung jedoch – etwa bei einer geschäftlichen Besprechung, einer akademischen Diskussion oder einer Vorlesung – behält der Sprecher die ganze Zeit über das Hocharabische bei und wird selbst Floskeln wie „Ich freue mich, heute hier zu sein“, oder „Ich möchte Ihre Zeit nicht allzu sehr in Anspruch nehmen“, in klassischen Formeln ausdrücken, die sich organisch in den gesamten formellen Diskurs einfügen.
An dieser Stelle möchte ich einflechten, dass der in den US-amerikanischen Medien von Pseudoislamexperten gern verteufelte Fernsehsender Al-Jazira in seinen Programmen nicht nur ein weit größeres Spektrum an politischen Meinungen zu Wort kommen lässt als die Mainstream-Medien der USA. Dank des modernen Hocharabisch, das bei Al-Jazira gesprochen wird, kommen dort auch die hässlichen, vulgären Sprüche nicht vor, mit denen rhetorische Rambos die hiesigen Fernsehrunden und Talkshows, einschließlich Diskussionen über wichtige politische und religiösen Fragen verunstalten.
Anders als das Englische kennt das Arabische (die Hochsprache wie die lokalen Dialekte) eine Fülle von Höflichkeitsformeln, die das adab al-lugha ausmachen, was wörtlich „das sprachlich korrekte Verhalten“ bedeutet. So wird zum Beispiel eine Person, mit der man nicht eng befreundet ist, stets im Plural angesprochen, und die Frage „Wie ist Ihr Name?“ wird nur indirekt formuliert und durch Höflichkeitsfloskeln eingeleitet. Wie im Japanischen – und ein wenig auch im Französischen, Deutschen, Italienischen und Spanischen – gibt es im Arabischen alle möglichen Abstufungen des Tonfalls und der Wortwahl, die nach der Situation, in der das Gegenüber angesprochen wird, und nach dem jeweiligen Thema variiert werden. Der Koran wird stets als „der ehrwürdige Koran“ (al-Quran al-karim) bezeichnet, und wer den Propheten Mohammed beim Namen nennt, lässt einen obligatorischen Satz wie „möge Gott ihm Heil und Erlösung bringen“ folgen. Bei der Nennung von Jesus ist die entsprechende Formel etwas kürzer. Der Name Gottes wird in einer normalen arabischen Unterhaltung zigmal angerufen, wobei der Vorrat an Formulierungen außerordentlich vielfältig ist. Man kann es mit dem lateinischen deo volente (so Gott will), mit dem spanischen ojala, oder dem englischen in God’s name vergleichen, nur dass diese Floskeln im Arabischen viel gebräuchlicher sind.
Auf die Frage „Wie geht es Ihnen?“ antwortet man üblicherweise mit dem Ausdruck al-hamdulillah, was dann zu einer Reihe von weiteren Fragen führt, die sich – wiederum nach einer Anrufung Gottes – auf die Mitglieder der Familie beziehen. Die wiederum werden normalerweise nicht bei ihrem Namen genannt, sondern nach ihrer Position in der familialen Prestigeskala beschrieben: Ein Sohn zum Beispiel wird nicht mit Namen bezeichnet, sondern als der, den Gott erhalten möge (al-mahrus). Ein Onkel von mir war Bankdirektor und hatte die begnadete Fähigkeit, eine Viertelstunde lang völlig geistesabwesend höfliche, aber nichts sagende Floskeln von sich zu geben, was auf Englisch völlig unvorstellbar gewesen wäre. Im Arabischen aber lernt man diese Technik schon früh im Leben und wendet sie vor allem in Situationen an, in denen man mehr sagen muss, als die Substanz des Gesprächs hergibt. Ich fand das immer wunderbar unterhaltsam, zumal ich selbst dazu nie imstande war.
Wie hoch die Erwartungen an einen Hocharabisch sprechenden Redner in einer förmlichen Situation sind, machte mir meine Mutter schon in meiner Kindheit deutlich, nachdem sie in Kairo zusammen mit meiner Großtante, die Arabisch unterrichtete, einen akademischen Vortrag besucht hatte. Damals erzählte sie, im Publikum seien auch mehrere Scheichs der Al-Azhar-Moschee gesessen, von denen sich einige während der sehr feierlichen und sehr ausgefeilten Ansprache erhoben hätten, um laut „allahoma“ zu sagen, und sich anschließend wieder zu setzen. Wobei das Wort, wie meine Mutter mir erklärte, die Zustimmung zu einer besonders gelungenen Formulierung, aber auch die Missbilligung einer nicht ganz gelungenen Aussprache ausdrücken konnte.
Diese Episode veranschaulicht, welch große Bedeutung der Eloquenz (oder auch fehlender Eloquenz) beigemessen wird. Wobei man wissen muss, dass die Azhar-Universität in Kairo nicht nur die älteste höhere Lehranstalt der Welt ist, sondern auch als ein Zentrum der islamischen Orthodoxie gilt; entsprechend repräsentiert ihr Rektor für die sunnitischen Ägypter die höchste religiöse Autorität im Lande. Noch wichtiger ist, dass die Azhar sich vor allem, aber nicht ausschließlich auf die Lehre des Islam konzentriert, deren Kern das Koranstudium ist, das wiederum einzelne Disziplinen wie Methoden der Interpretation, islamische Rechtsprechung, Hadith (Quellen über das Leben Mohammeds), Sprache und Grammatik umfasst. Hier zeigt sich, dass an der Azhar die Beherrschung der klassischen Sprache für Araber wie für andere Muslime eindeutig den Kern des Islamstudiums ausmacht, da die Sprache des Koran als heilig gilt, das heißt als ewig gültiges Wort Gottes, das mittels einer Reihe von Offenbarungen auf Mohammed „niedergekommen“ ist (arabisch: inzal).
Damals, vor sechzig Jahren, beurteilte man als Zuhörer bei einer Rede nicht nur die inhaltliche Aussage, sondern gerade die korrekte und geglückte Wortwahl. Ich selbst habe eine ähnliche Szene wie die von meiner Mutter geschilderte nie miterlebt. Allerdings erinnere ich mich mit einiger Verlegenheit an meine erste Rede auf Arabisch, die ich vor zwanzig Jahren (wiederum in Kairo) hielt, nachdem ich bis dahin öffentliche Vorträge nur auf Englisch oder Französisch, aber nie in meiner Muttersprache gehalten hatte. Nach diesem Auftritt kam ein junger Verwandter auf mich zu und äußerte sich enttäuscht über meine geringe Eloquenz. Ich fragte etwas betreten, ob er denn verstanden habe, was ich gesagt hatte, denn mir war es vor allem darum gegangen, einige kontroverse politische und philosophische Positionen darzulegen. Natürlich habe er mich verstanden, meinte er gnädig, kein Problem – aber deine Rhetorik, deine Eloquenz war nicht gut genug. Diese Kritik verfolgt mich noch heute, wenn ich auf Arabisch spreche, weil ich nicht imstande bin, mich im klassischen fusha auszudrücken, also mich in einen eloquenten Redner zu verwandeln. Ich vermische die Alltagssprache und das Hocharabische auf pragmatische Weise, mit dem Ergebnis, dass ich als Redner (wie mir einmal in liebenswürdigem Ton gesagt wurde) einem Autofahrer ähnele, der einen Rolls-Royce besitzt, aber lieber Volkswagen fährt. Ich versuche immer noch, dieses Problem in den Griff zu bekommen, aber da ich in mehreren Sprachen schreibe, will ich dem Vorwurf entgehen, dass ich etwas auf Englisch sage, was ich auf Arabisch so nicht sagen würde.
An dieser Stelle muss ich etwas gestehen. Obwohl ich für mich in Anspruch nehme, dass ich mit meiner Art zu reden die Weitschweifigkeit und die ornamentale Überfrachtung vermeide, die sich mit dem Niedergang des politischen, journalistischen und literaturkritischen Schreibens in der arabischen Sprache verbreitet hat, dient mir das zugleich als Entschuldigung, die mir selbst darüber hinweghilft, dass ich mich nach wie vor am Rand der arabischen Sprache bewege und mich noch nicht in ihr Zentrum vorgearbeitet habe.
Erst in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren habe ich entdeckt, dass die feinste, schlankste und präziseste Prosa, die ich je gehört oder gelesen habe, von den Romanautoren Elias Khoury und Gamal El-Ghitani stammt. Dasselbe gilt für zwei unserer größten lebenden Dichter, nämlich Adonis und Mahmud Darwish. Beide beherrschen die arabische Sprache derart virtuos und selbstverständlich, dass sie sich ebenso eloquent wie klar ausdrücken und dabei auf Füllwörter und ermüdende Weitschweifigkeit oder Effekthascherei verzichten können. Das zeigt mir auch, dass einem Menschen wie mir, der relativ spät im klassischen Idiom angekommen ist, Grenzen gesetzt sind. Da ich diese Sprache weder innerhalb einer spezifisch islamischen Ausbildung noch innerhalb des nationalarabischen (im Gegensatz zum kolonialen) Schulsystems gelernt habe, muss ich mir beim Sprechen noch immer überlegen, wie ein Satz auf Hocharabisch richtig und klar aufzubauen ist. Und das Resultat ist nicht immer elegant, um es milde auszudrücken.
Weil es sich bei Arabisch und Englisch um zwei Sprachen handelt, die auf ganz unterschiedliche Weise funktionieren, und weil das Ideal der Eloquenz in diesen beiden Sprachen durchaus verschieden ist, scheint mir die Art von perfekter Zweisprachigkeit, die ich mir häufig erträume – und die ich kühnerweise manchmal erreicht zu haben glaubte – in Wahrheit unerreichbar. Über Zweisprachigkeit gibt es heute eine umfassende Literatur. Aber diese vorwiegend technischen Arbeiten haben, soweit ich sie gelesen habe, nichts zu der Frage zu sagen, was es bedeutet, in zwei Sprachen zu leben, die zu zwei verschiedenen Welten und zu zwei verschiedenen Sprachfamilien gehören. Was etwas anderes ist, als sich in diesen Sprachen ausdrücken zu können. Damit will ich nicht sagen, dass etwa der gebürtige Pole Joseph Conrad nicht ein brillantes Englisch schreiben konnte, aber die Fremdheit bleibt für immer da. Im Übrigen stellt sich ja auch die Frage, was es eigentlich bedeutet, perfekt zweisprachig zu sein, also zwei Sprachen völlig gleichwertig zu beherrschen. Soweit ich weiß, hat noch niemand erforscht, auf welche Weise jede Sprache zugleich Barrieren gegen andere Sprachen aufbaut, damit niemand von außen kommen kann und die Sprache des anderen mit Beschlag belegen kann.
Ich ertappe mich oft dabei, wie ich mir Erfahrungen notiere und in meiner Umgebung gewisse Indizien registriere, die das Gefühl meiner eigenen quälenden Unvollkommenheit, aber auch den Eindruck der Dynamik dieser beiden Sprachen bestärken – das heißt den Eindruck vollkommener Ungleichheit, die mir gleichwohl weitaus befriedigender vorkommt als eine erstarrte, abgeschlossene, letztlich aber nur theoretische Aneignung, wie sie professionellen Dolmetschern und Übersetzern zu gelingen scheint. Was meines Erachtens gar nicht stimmt, weil sie ex definitione nicht eloquent sein können.
Da ich zweimal meine Umgebung verlassen habe (die im einen Fall durch den Krieg zerstört wurde, im anderen Fall aus anderen Gründen nicht mehr existiert) und da ich wenig besitze, was aus meinem früheren Leben stammt, habe ich mir offenbar aus den Erfahrungen mit beiden Sprachen eine portable Umwelt gefügt, die sich in allen möglichen Elementen wie Klangfarbe, Tonlage und Akzent ausdrückt, und zwar je verschieden nach Zeit, Ort und Menschen, mit denen ich kommuniziere. Ich präge mir ein und höre noch immer genau hin, was die Menschen sagen, wie sie es sagen, welche Wörter sie auf welche Weise betonen. Das ist wohl auch der Grund, warum mir innerhalb der englischen Dichtung die komischen Charaktere von Shakespeare und Hopkins so unauslöschlich im Gedächtnis geblieben sind.
deutsch von Niels Kadritzke
Bücher von Edward Said: – „Am falschen Ort. Eine Autobiographie“, Berlin 2000. – „Das Ende des Friedensprozesses. Oslo und danach“, Berlin 2002 – „Freud und das Nicht-Europäische“, Zürich 2003 – Edward W. Said, Daniel Barenboim, „Parallelen und Paradoxien. Über Musik und Gesellschaft“, Berlin 2004 – „Die Welt, der Text und der Kritiker, Frankfurt 1997 – „Orientalismus“, Frankfurt 1981 – „Der Wohltemperierte Satz“. Mit Notenbeispielen, München 1995
* Edward Said (1935–2003) war im Hauptberuf Professor für vergleichende Literaturwisssenschaft (zuletzt an der Columbia University, USA). In seinem viel diskutierten Hauptwerk „Orientalismus“ untersucht der US-amerikanische Intellektuelle palästinensischer Herkunft die Versuche des Westens, durch eine Rekonstruktion des „Orients“ die eigenen kolonialen und neokolonialen Unternehmungen zu rechtfertigen. Der Text, den wir hier abdrucken erschien zuerst in Al-Ahram Weekly, Kairo, 12.–18. Februar, 2004.