13.03.2009

Freihändler und Junker

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Freihändler und Junker

von Serge Halimi

Warum entscheiden sich Staaten für den Protektionismus? Und unter welchen Umständen setzen sie in Zeiten von Rezession oder Deflation eher auf Freihandel? Das entscheidende Wort sprechen nicht die Fachleute, selbst wenn sich alle einig wären. 1 028 Ökonomen, die sich 1930 gegen das vom US-Kongress verabschiedete Smoot-Hawley-Gesetz aussprachen, konnten nicht verhindern, dass dieses Gesetz, das die Einfuhrzölle auf breiter Front anhob, doch in Kraft trat.

In jeder Wirtschaftskrise sind mehrere „Antworten“ vorstellbar: zum Beispiel Protektionismus, Monetarismus, Verstaatlichung, Abwertung der Währung oder gar Revolution. Um die Entscheidung eines Staats zu verstehen (die höchst selten vom Willen nur einer Person abhängt), muss man das Zusammenwirken von fünf Elementen analysieren: erstens die wirtschaftliche Position der maßgeblichen gesellschaftlichen Kräfte und das Gewicht ihrer repräsentativen Organe (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände); zweitens die Fähigkeit der politischen Akteure, Koalitionen zwischen Parteien, Gruppen und Vereinigungen zu schmieden; drittens die Bereitschaft und das Vermögen des Staats, in die Tätigkeit der Unternehmen einzugreifen; viertens die (mehr oder weniger liberalen) Traditionen des Staats; und fünftens die Position des jeweiligen Staats innerhalb des globalen Machtgefüges.

Die Reaktion auf gleichartige Krisen, Brüche oder Probleme wird also ganz unterschiedlich ausfallen, je nach Stärke der Arbeiterklasse und der Gewerkschaften, nach der politischen Einstellung der Machteliten oder der Bereitschaft eines Staats, grundlegende Produkte (wie Weizen, Stahl, Elektronik) auf dem Weltmarkt zu beschaffen. Diese allgemeinen Überlegungen und weitere fünf Variablen (sozial, politisch, institutionell, ideologisch, strategisch), die schwer zu umreißen sind, helfen uns bei der Erklärung der Realität schon ein gutes Stück weiter.

Das hier skizzierte Analysemodell hat Peter Gourevitch vorgelegt, nachdem er die Reaktionen von fünf Ländern – USA, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Schweden – auf die großen wirtschaftlichen Krisen studiert hat, die zwischen 1873 und den 1980er-Jahren die westliche Welt heimgesucht haben.

Dabei hat er für jeden Staat die Bedeutung der fünf Komponenten für die Entscheidung der Regierenden gewichtet. Dass die Depression der 1930er-Jahre in den USA den New Deal, in Deutschland dagegen den Nationalsozialismus hervorgebracht hat, erklärt er damit, dass die Konstellation der fünf erwähnten Elemente in beiden Länder unterschiedlich war. Dasselbe würde für die 1980er-Jahre gelten: Die „zweite Ölkrise“ begünstigte die Wahl des Konservativen Ronald Reagan ins Weiße Haus, sechs Monate später trug sie hingegen zur Wahl des Sozialisten François Mitterrand in den Elyseepalast bei.

Der Blick auf die große europäische Krise von 1873 bis 1896, die Gourevitch sehr genau analysiert, ist für die Frage des Protektionismus besonders aufschlussreich. Anhand dieser Frage formierten sich damals die gesellschaftlichen und politischen Koalitionen, und die Antwort der einzelnen Staaten hing davon ab, welches der beiden Lager die Oberhand behielt.

Ab 1873 begannen die Preise zu fallen und setzten eine lang andauernde Deflationsspirale in Gang. Die erfasste in der Folge – ähnlich wie heute – alle Volkswirtschaften, die bedenkenlos auf den Handel gesetzt und die freihändlerische Theorie der komparativen Kostenvorteile zu ihrem Credo gemacht hatten.2 Ende des 19. Jahrhunderts konnte also niemand auf den Gedanken kommen, die Deflation dem Protektionismus anzulasten. Dieser galt vielmehr in den meisten Ländern als ein Rezept gegen die Inflation.

Der Freihandel brachte die politische Ordnung ins Wanken

Ursache der Krise von 1873 war die globale landwirtschaftliche und industrielle Überproduktion, die wiederum ausgelöst wurde durch den technologischen Fortschritt, den Wettlauf um Investitionen (der die Geldanlagen immer riskanter und weniger rentabel machte) und die Revolution im Transportwesen. Der französische oder preußische Bauer büßte seinen „komparativen Kostenvorteil“ ein, weil die Farmer in den großen Ebenen Nordamerikas, Argentiniens oder der Ukraine dank Maschinen, Düngemitteln und neuen Weizensorten billiger produzieren und ihr Produkt per Schiff oder Eisenbahn kostengünstig transportieren konnten.

Die Absatzkrise erfasste auch die Industrie: Das Eisenbahnnetz, dessen Erweiterung einen Stahlboom ausgelöst hatte, expandierte nicht mehr so schnell. Gourevitch resümiert: „Die Preise fallen, die Arbeitslosigkeit steigt beträchtlich an, die Produktion nimmt zu, die Profite geraten unter ständigen Druck, einzelne Unternehmen wachsen rasant, viele andere dagegen verschwinden, Millionen Menschen verlassen Europa, neue Weltregionen werden industrialisiert. In den einzelnen Ländern fragt man sich: Was tun?“

Was konnten sie tun? Ihnen stand die liberale Option offen, den Markt über die Produktionsfaktoren entscheiden zu lassen, also Menschen, Fabriken und Maschinen in neue Sektoren zu verlagern, für die sich Absatzmöglichkeiten auftaten. Zum Beispiel konnte man Getreidebauern zu spezialisierten Landwirten oder Tierproduzenten machen.

Das bedeutete jedoch eine tiefgehende Transformation der Gesellschaft, die das bestehende politische Kräfteverhältnis ins Wanken brachte. Weniger Bauern und mehr Arbeiter stellten für die „opportunistische“ Republik eines Jules Méline3 wie für das Wilhelminische Reich eine Bedrohung dar. Die Staatsmacht kann also auch darauf aus sein, die ökonomische Modernisierung zu verzögern. Wie Barrington Moore glänzend herausgearbeitet hat4 , gab die britische Industrialisierung den herrschenden Klassen anderer Länder die Chance, ihr Risiko für den Fall zu kalkulieren, dass sie sich ohne weitere Vorsichtsmaßnahmen am englischen Vorbild orientierten.

Die Position, die Karl Marx zum Freihandel bezog, lässt sich nur in diesem historischen Kontext verstehen: Er wollte sie im revolutionären Sinne nutzen, den Freihandel als Rammbock gegen eine bäuerliche, konservative Gesellschaftsordnung einsetzen. Diese Ordnung konnte sich auf die Unterstützung der an die Scholle gebundenen ungebildeten ländlichen Bevölkerung verlassen, die – wie sich beim Staatsstreich von Louis Napoleon Bonaparte und bei der Pariser Commune zeigte – als Reservearmee gegen Arbeiterrevolten bereitstand. Hinter Zolltarifen verbergen sich zuweilen andere Absichten.

Ab 1879 ergriffen alle von Gourevitch untersuchten Staaten (bis auf Großbritannien) protektionistische Maßnahmen. Damit schützten sie ihre Produzenten vor Billigimporten, minderten die Wucht der fälligen Anpassung und bewahrten die politische Ordnung vor dem Abgleiten ins Chaos.

Auf den ersten Blick ist die Entscheidung der Briten ohne weiteres nachvollziehbar, und zwar nach allen genannten Kriterien (wirtschaftlich, politisch, institutionell, ideologisch, strategisch). Auf ökonomischer Ebene dominierte die englische Stahl- und Textilindustrie die Weltmärkte. Die Londoner City finanzierte diese Exportwirtschaftszweige wie auch Auslandsinvestitionen. Seetransport und Versicherungen wa-ren bedeutende Wirtschaftssektoren. In der Landwirtschaft hatte der Umbruch begonnen. Großbritannien hatte den höchsten Anteil an Arbeitern, die ihre Arbeitsplätze durch den Freihandel nicht bedroht fühlten (und sogar damit rechnen konnten, dass dieser ihre Lebensmittel immer billiger machte).

Die Briten brauchten keinen Protektionismus

Auf der politischen Ebene waren die beiden großen englischen Parteien ebenso liberal5 wie die herrschende Ideologie. Und dank seiner Marine musste das Vereinigte Königreich nicht befürchten, in Kriegszeiten von Lieferungen aus dem Ausland abgeschnitten zu werden. All diese Faktoren sind eine hinreichende Erklärung für den britischen Sonderweg, sprich: die Ablehnung des Protektionismus.

Dieser Sonderweg wurde selbst dann nicht problematisiert, als die anderen Länder mit ihren Einfuhrzöllen britische Exporte diskriminierten. Englische Stimmen, die entgegen der Freihandelsdoktrin eine Präferenzbehandlung für den Handel innerhalb des Empire („imperial preference“) forderten, fanden kein Gehör. Die grundbesitzende Aristokratie als die soziale Gruppe, die sich gegen den Freihandel wehrte, war nach vierzig Jahren landwirtschaftlicher Importe, die zu einer massiven Landflucht geführt hatten, bereits erheblich geschwächt.

Der Widerstand dieser Gruppe war auch nur halbherzig, weil viele der „gentlemen farmers“ massiv in Bergbau-, Manufaktur- und Handelsunternehmen investiert hatten. Außerdem heirateten laut Gourevitch „viele jüngere Söhne und Töchter dieses Landadels, die keine Mitgift abbekamen, Nachkommen der aufsteigenden industriellen Bourgeoisie, womit die Grenzen zwischen beiden Gruppen noch mehr verwischt wurden.“ Die Interessen einer exportorientierten Spitzenindustrie und einer sich modernisierenden Landwirtschaft wurden also mittels Investitionen und Heiraten noch enger verknüpft.

Ganz anders sah es in Deutschland aus. Die ostelbischen Junker waren die Stützen des Staates Preußen, des Kaiserreichs und der Armee. Theoretisch hätten auch sie sich einer intensiven, spezialisierten Landwirtschaft mit weniger Arbeitskräften und größeren Erträgen zuwenden können. Doch sie wollten, dass die Kontinentalmacht Deutschland im Kriegsfall autark blieb. Und der riesige Binnenmarkt bot Landwirtschaft wie Industrie verlässliche Einnahmen. Zudem waren die Bauern vorzügliche Soldaten: diszipliniert und radikalen Ideen abgeneigt, erdverbunden und für nationalistische Sirenentöne empfänglich.

Noch wichtiger war, dass eine Landwirtschaft dänischen Typs (kleine Einheiten, Produkte von hoher Qualität) die Aufteilung der großen Getreidegüter erfordert und das Ende der auf Großgrundbesitz basierenden patriarchalischen Ordnung bedeutet hätte. Aber Junker sind keine Hühnerzüchter. Und sie wollten auch keine werden. Daher kämpften sie gegen jede Veränderung – gegen ihr Verschwinden als Klasse. Ihre Waffe war der Protektionismus.

Der ideale Repräsentant dieser Politik war Otto von Bismarck. Der Protektionismus war der Kitt, der eine konservative Koalition zwischen Aristokraten und Großbürgertum, die sich eigentlich überhaupt nicht vertrugen, zusammenhalten konnte. Beide verlangten nach Schutz, aber die Junker verlangten Freihandel nur für Industrieprodukte, weil dies die landwirtschaftlichen Geräte verbilligt hätte, während die Industriellen für die Einfuhr billiger Lebensmittel waren, was ihnen erlaubt hätte, die Löhne niedrigzuhalten. Beide Seiten mussten Opfer für eine Übereinkunft bringen, die von Bismarck ausgehandelt wurde. Die Verfechter des Freihandels, ohnehin benachteiligt durch ihre soziale Heterogenität, hatten dagegen keinen ähnlich gewieften Politiker.

In den USA galten die Schutzzölle ausschließlich für industrielle Importe. Damit spielten ideologische Faktoren kaum eine Rolle. Die kleinen Farmer, die auf einem vor der Konkurrenz geschützten Markt kaufen mussten, während sie weiterhin auf einem freien Markt verkauften, waren die politischen Verlierer.

Ihre ökonomische Situation war eigentlich stabil, aber bei den Präsidentschaftswahlen von 1892 gelang es ihrem Kandidat William Jennings Bryan nicht, seine soziale und geografische Basis auszuweiten. Sein Populismus, sein Antiintellektualismus und sein religiöser Fundamentalismus verschreckten Industrielle ebenso wie Stadtbewohner und katholische Einwanderer.

Die Arbeiterschaft sah in diesem Volkstribun keineswegs einen Verbündeten gegen die Bosse und Bankiers, sondern eine Bedrohung des Wirtschaftssektors, der sie ernährte. Im Übrigen, schreibt Gourevitch, „war es in jedem entwickelten Land schwierig, Farmer, Arbeiter und Konsumenten unter einen Hut zu bringen. In Amerika kam noch die ethnische, geografische und religiöse Spaltung hinzu.“ Und außerdem kontrollierten die US-amerikanischen Industriellen – wie die britischen Freihandelslobbyisten – beide großen politischen Parteien.

Protektionismus ist zwar unvereinbar mit der Globalisierung, nicht aber mit der kapitalistischen Ordnung. Er spaltet die Produzenten in zwei Lager, von denen das eine auf den Binnenmarkt und das andere auf ausländische Absatzmärkte orientiert ist.

Der Protektionismus steht also quer zu den Klassen und stellt weder die Vorrechte des Kapitals noch die Machtverhältnisse im Unternehmen infrage. Und doch kann er in Krisenzeiten die herrschende Klasse entzweien und große Interessenkonflikte auslösen. Wie die ausgehen, hängt häufig auch von der Stärke und Fähigkeit der Arbeitnehmer ab, einen anständigen Preis dafür zu erzielen, dass sie eine Fraktion der Wirtschaftselite gegen die andere unterstützen.

Fußnoten: 1 Peter Gourevitch, „Politics in Hard Times. Comparative Responses to International Economic Crises“, New York (Cornell University Press) 1986. 2 Nach dieser Theorie wächst der Reichtum für alle, wenn sich der Staat auf den Bereich spezialisiert, in dem er sich hervortut, und im Ausland all das kauft, was die anderen effizienter als er produzieren. 3 Der Abgeordnete der gemäßigten Linken war Initiator der „Méline-Zölle“, die 1892 die französische Landwirtschaft vor der internationalen Konkurrenz schützten. Von 1896 bis 1898 war Méline Präsident des Ministerrats. 4 Siehe Barrington Moore Jr., „Social Origins of Dictatorship and Democracy. Lord and Peasant in the Making of the Modern World“, Boston (Beacon Press) 1966. 5 Eine von ihnen nannte sich sogar Liberal Party. Die Labour Party gewann erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Bedeutung. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Le Monde diplomatique vom 13.03.2009, von Serge Halimi